Alle sagen, ich hätte blaues Blut. Doch ich kann nicht behaupten, adelig zu sein. Im Gegenteil. Meine Kleidung sieht aus, als wäre sie schon eine Ewigkeit alt. Ich kann mich auch nicht erinnern, eine Wohnung zu besitzen, ganz zu schweigen von einem Haus. Ich weiß überhaupt nichts mehr und das ist es, was mir am meisten zu schaffen macht.
„Wer bist du denn? Wo kommst du her? Hast du Familie?"
Das ist das erste, an das ich mich erinnern kann.
Mitten im Regen hätte ich damals gekniet, mit leerem, gebrochenem Blick, abgemagert und vollkommen teilnahmslos. Bis sie mich angesprochen hatten. Ein Wanderer Pärchen, unscheinbar, nichts Besonderes, doch ich nehme an, dass ich ohne sie gestorben wäre. Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte, gefroren, Hunger oder Schmerzen gehabt zu haben. Nichts.
Es ist so, als hätte ich erst in diesem Moment gelebt.
Sie hatten mich natürlich sofort in eine Heilstätte gebracht, und dort hatte man mich wieder aufgepäppelt. Zwar hatten sie mich ab und an besucht, doch sie schienen froh zu sein, sich nicht um mich kümmern zu müssen. Später sagten die Ärzte, es wäre so, als hätte man sich um eine lebendige Leiche gesorgt. Keine Reaktion, zumindest nicht mental. Ich selbst erinnere mich lediglich daran, dass alles merkwürdig grau und langsam ablief, so als stecke ich in einem Albtraum fest. Obwohl ich nicht gewusst hatte, wo ich hin sollte, hatte es mich beinahe sofort rausgezogen, sobald mich meine Beine wieder trugen. Davongeschlichen hatte ich mich ganz sicher nicht, doch auch Schwestern und Patienten schienen mich nicht anhalten oder gar aufhalten zu wollen. Und wenn ich ehrlich sein soll, kann ich es ihnen nicht verübeln.
Was mich dann letztendlich aus dieser Starre riss, war weder die Natur, als ich aus der Heilstätte gegangen war, noch die Menschen, die in aller Eile von einem Ort zum Nächsten rannten. Es war der Versuch, eines Mannes, mich zu töten.
Im Nachhinein muss ich wohl wie ein leichtes Opfer ausgesehen haben und ich selbst hatte auch nicht damit gerechnet, zu überleben. Doch sobald ich den Mann aus dem Augenwinkel mit dem Schwert auf mich zu laufen sah, schaltete mein Körper auf Automatik. Ohne jegliche Mühe hatte ich ihn manövrierunfähig gemacht und ihn gefragt, wer er sei. Das war das erste Mal, dass ich einen Menschen von mir aus angesprochen hatte. Er schien es für einen Witz zu halten, denn er begann schallend zu lachen.
Als gemerkt hatte, dass ich die Frage ernst gemeint hatte, verstummte er.
„Willst du mir etwa erzählen, dass du Jüngelchen schon nicht mehr weißt, wer ich bin? Warte mal, weißt du überhaupt, wer du bist?"
„Ich? Ich bin ich."
Wieder hatte er das Lachen angefangen.
„Dein Name?"
Mir war nichts Besseres eingefallen, als zu schweigen.
„Du heilige Scheiße, dann ist es also tatsächlich wahr? Das Prinzchen hat tatsächlich sein Gedächtnis verloren?"
Ich hatte aufgehorcht.
Dabei hatte ich gar nicht gemerkt, wie meine Umgebung plötzlich begonnen hatte, Farbe anzunehmen.
„Was heißt hier Gedächtnis verloren?"
„Na was heißt das wohl, mein Prinzchen?", fragte er spöttisch.
Ich war von ihm zurückgewichen.
Da schien er den Ernst der Lage begriffen zu haben.
„Aber wie zur Hölle kannst du dein Gedächtnis verloren haben? Die alten Klapperkisten sagen natürlich, dass das mit einer Menge Hokuspokus zu tun hat, aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dein Körper spricht eine ganz andere Sprache. Mal sehen, ob wir da noch mehr herauskitzeln können."
Ohne jegliche Vorwarnung hatte er mich erneut angegriffen. Und wieder war ich ihm automatisch ausgewichen.
Bilder waren vor meinem inneren Auge aufgeblitzt, schöne und unschöne, allerdings zu kurz um sie betrachten zu können.
Da hatte er auch schon aufgehört, mich anzugreifen und die Bilder waren wie fortgewischt verschwunden.
„Mach das noch mal.", hatte ich aufgeregt gekeucht.
Er hatte auch noch die Unverschämtheit besessen, zu grinsen.
„Wusste ich doch, dass du auf ein kleines Kämpfchen stehen würdest. Was haste gesehen?"
„Wer bist du?", hatte ich anstatt einer Antwort misstrauisch erwidert.
„Lucius. Klingelt's da bei dir? Du weißt schon, dein erbittertster Rivale? Früherer Kindheitsfreund? Das schwarze Schaf der Familie? Das hat dich aber nicht davon abgehalten, dich mit mir zu treffen."
Ich hatte ihn nur verständnislos angesehen.
Er schien zwar enttäuscht, aber nicht überrascht gewesen zu sein.
„Man, das is' ja echt wie bei meinem alten Herr'n. Nur dein Körper scheint noch zu wissen, wer ich bin. Du kannst meine Schläge ja immer noch wie früher abfangen."
„Wenn wir Freunde sind, wieso hast du dann versucht mich umzubringen?"
„Nee, das haste falsch verstanden, Prinzchen. Wir sind schon lange keine Freunde mehr."
Ich hatte angefangen, die Geduld zu verlieren.
„Sag es mir doch jetzt endlich, wenn du mich kennst? Wer bin ich, dass du mich besser kennst, als ich selbst? Wie war ich denn, verdammt?!"
Ich war immer lauter geworden, sodass sich meine Stimme zum Ende beinahe überschlagen hatte.
Er war zurückgewichen, doch das Grinsen war wieder in seinem Gesicht erschienen.
„Immer langsam mit den jungen Pferden, Jay. Fangen wir ganz einfach an. Kannste dich an das schmucke Haus erinnern, indem du nie sein wolltest, obwohl jeder andere auf dich neidisch gewesen wäre? Oder an deine Spießer von Eltern?"
„Jay?", hatte ich nur gefragt.
„Hallo? Jayden? Wie zum Henker haste dich denn zurecht gefunden, wenn du nicht mal mehr deinen Namen weißt?"
Er hatte sich, diesmal wirklich überrascht, mit dem Finger an die Schläfe getippt.
Irgendwie unangenehm berührt, hatte ich nur mit den Schultern gezuckt.
„Keine Ahnung. Ein Wanderer Pärchen hat mich gefunden und in die Heilstätte gebracht."
Plötzlich waren mir jedoch die Bilder wieder eingefallen.
„Greif mich noch mal an.", hatte ich gefordert, bevor er etwas erwidern hatte können.
Lucius hatte wieder grinsen müssen.
„Du redest wohl immer noch nicht gern um den heißen Brei, was? Bist du so scharf auf ein Kämpfchen, dass dich nicht mal mehr interessiert, wer du bist?"
Wieder hatte ich nur mit den Schultern zucken können.
„Ich hab Bilder gesehen. Vielleicht kommen sie ja wieder, wenn du es darauf anlegst."
„Na schön, ich war eh nicht zum Plaudern hier."
Und nun kämpften wir schon seit Stunden, er mit einem Messer, ich unbewaffnet.
Beinahe ununterbrochen stürzten Bilder auf mich ein, sodass ich nicht umhin kam, ihn zu fragen:
„Stimmt es, was die Leute sagen? Habe ich blaues Blut?"
Er grinste, es war beinahe diabolisch.
„Kommt drauf an wie man's nimmt, Prinzchen. Ein scheißreicher Schnösel warste auf jeden Fall, nur hat dir das nicht sonderlich viel ausgemacht."
Ich sah Kampfszenen, mit mir in der Hauptrolle. Ziemlich oft gegen Lucius, doch auch gegen Verbrecher, Schläger und Unruhestifter.
„Klar gibt es auch Gerüchte, dass tatsächlich dein Blut blau sein soll. Willste es ausprobieren? Dafür müsstest du Wiesel dich aber erstmal treffen lassen.", meinte er murrend.
„Habe ich oft gekämpft?", fragte ich.
Er verdrehte theatralisch die Augen.
„Oh ja, unser edelmütiges Prinzchen musste sich in jede Schlacht werfen, die sich ihm bot."
„War ich ein guter Mensch?", fragte ich ihn, da ich entschieden zu viele blutige Bilder sah.
Er schnaubte.
„Du magst eine Menge gewesen sein, aber ganz sicher kein guter Mensch. Was meinste wohl, warum wir keine Freunde mehr sind?"
„Warum waren wir denn Freunde?"
Lucius sah mich nicht an, als er antwortete:
„Du weißt schon, das Übliche. Früher war es dir mal wichtig, was wir kleinen Leute denken. Irgendwann bist du dann wie deine reichen Eltern geworden. Eingebildet, ignorant und alles, was für dich zählte, war Geld. Du hast sogar der Forderung nach Lösegeld nachgegeben, die auf mich ausgesetzt war, weil du mir beim Stibitzen aus dieser scheiß riesigen Küche geholfen hast."
„Und wie kam ich dann auf diese Straße?"
„Als ob mich das interessiert! Du sollst einfach nur büßen!"
Nun war er wütend.
„Wofür denn?"
„Sie ist tot! Deinetwegen!"
Überrascht blieb ich stehen, so dass mich die eiskalte Klinge in zweierlei Hinsicht wie ein Schlag traf.
Ich taumelte rückwärts, während eine dickflüssige Substanz sich am Knauf sammelte und Lucius Hände beschmutzte.
„Siehste? Du hast tatsächlich blaues Blut... Scheiße, das ist ja wirklich blauer als ihre Augen...!"
Kurz entschlossen packte ich ihn am Hemd und zog ihn zu mir heran.
Bevor er auch nur reagieren konnte, lagen meine Lippen schon auf den seinen.
Alle Erinnerungen waren mit einem Schlag zurückgekehrt, also spürte ich keine Scham oder Trauer, keinen Schmerz und keine Wut. Lediglich Glückseligkeit, mit einem Hauch von Bedauern, der aber schnell verflog.
Was geschehen war, war geschehen.
„Was...?"
Mehr brachte Lucius nicht hervor, sogar zu verblüfft, um auszuspucken.
„Ich bin ja so glücklich..."
„Weshalb? Du bist im Begriff, dein Leben bei einem ungleichen Kampf zu verlieren."
Jeglicher Hohn und Hass schien, zumindest für diesen Moment, vergessen.
„Letztendlich war ich doch ein guter Mensch. Ich war wütend, traurig, ausgelassen, habe gelebt und geliebt. Dich geliebt."
Er wollte zurückweichen, doch ich gab ihm keine Gelegenheit dazu.
„Das ist nicht wahr! Lüg-
Ein zweiter Kuss versiegelte seine Lippen.
„Ich habe diejenigen beschützt, die mir etwas bedeuteten, habe für das gekämpft, woran ich glaubte. Mit allen Mitteln."
„Du hast sie getötet und mich beinahe eingebuchtet gekriegt! Das nennt das Prinzchen also ‚beschützen und für das kämpfen, woran er glaubt'? Das ich nicht lache!"
„Sie ist nicht tot. Ich bin sie."
Lucius wurde leichenblass.
„Bitte sag', dass das nicht wahr ist."
Sanft strich ich ihm eine blonde Haarsträhne mit der anderen Hand aus dem Gesicht und hinterließ so eine Blutspur darauf. Immer noch konnte er nicht zurückweichen, ich verhinderte es.
„Sieh' mich an, Luc, dann weißt du es.", hauchte ich und wusste, dass meine blauen Augen strahlen mussten.
Meine Stimme hatte ich wieder geändert, wie sonst, wenn ich zu ihm als Lycia sprach.
Beinahe wäre Lucius vor mir zusammengebrochen, würde ich ihn nicht noch immer halten.
„Und wieso dann die Sache mit dem Lösegeld? Wie ist es möglich, dass du dich getötet hast?"
Wieder lächelte ich.
„Ich wollte es dir endlich sagen. Wollte dich ganz für mich allein. Vermutlich wärst du sonst weggelaufen, bevor ich es dir hätte erklären können. Lycia ist nie gestorben. Alles, was du gesehen hast, war mich mit dem blutigen Messer. Ihren Leichnam hast du nie gesehen, oder?"
„Wer war es denn dann, den du erstochen hattest?", fragte Lucius ungläubig.
„Einen Soldaten, der mir untreu war. Er hätte mein Doppelleben auffliegen und dich töten lassen, bloß, um mir eins auszuwischen. Das konnte ich unmöglich zulassen."
„Warum hast du mir das nicht schon alles früher erzählt? Wir hätten doch ganz normal reden können..."
„Hätten wir? Du hättest mir niemals geglaubt, Luc. Und danach hätten wir uns vermutlich nie wieder gesehen."
„Wie bist du dann auf die Straße gekommen?"
Zögernd sagte ich:
„Ich kann mich verschwommen an einen Kampf erinnern, danach an nichts mehr. Vermutlich habe ich einen so bösen Streich abbekommen, dass ich vergessen habe, wer ich bin und war. Die Ärzte sagten, ich wäre ziemlich übel zugerichtet worden."
Obwohl er sich zuerst sträubte, küsste ich ihn ein weiteres Mal.
„Ob ich nun ein guter Mensch war oder nicht, ich habe getan, was ich für richtig hielt. Ich liebe dich, seit so langer Zeit, dass diese Liebe selbst den Schleier des Vergessens lüften konnte. Mögen die Mittel gerechtfertigt gewesen sein oder nicht, was geschehen ist, ist geschehen."
Schweigen entstand und diesmal machte Lucius keine Anstalten, zurückzuweichen.
„Nun hast du mich getötet. Was für ein tragisches, schrecklich schnulziges Ende.", hauchte ich lächelnd.
Ich ließ ihn los und öffnete das Band, das meine Haare zusammenhielt.
„Du hast meine Haare gemocht, ist es nicht so? Damals-
Während ich das sagte, hatte ich zurücktreten wollen, Luc hielt mich jedoch auf, bevor das Schwert aus meinem Körper glitt.
Sein Arm schlang sich stark und warm um meine Hüfte, wobei ich genau wusste, dass ich es war, der an Körperwärme, besser, an Blut verlor.
„Nicht. Ich will nicht, dass du mehr leidest, als du es schon tust. Du hast wahrlich blaues Blut, das es Königinnen und Königen das Wasser reicht. Ich liebe dich auch, Lycia, Jayden, ich liebe euch beide."
Stumme Tränen sammelten sich in seinen Augen und rannen seine Wangen hinab.
Es schmeckte salzig, bittersüß, voller Glück und Trauer, als sich Lucius' Lippen ein letztes Mal mit den meinen verbanden.
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