Atemwolke zwei
Meine Hände zitterten.
Außenstehende hätten wohl mit gutem Recht vermutet, dass es an der Kälte liege.
Ich starrte erst hinauf zum dunklen Himmel, der gnädigerweise auch die hässlichen, grauen Wolken verbarg, wenn er schon die Sterne verschluckte.
Ich seufzte, und beobachtete dabei die dunstig-weiße Atemwolke, die meinen Mund verließ, doch es half nichts.
Erst, als ich die Finger fester um die heiße Teetasse krampfte, legte sich das Zittern etwas.
Trotzdem war das Bedürfnis, aus vollem Halse zu brüllen, beinahe übermächtig.
Kein schöner, der Ästhetik gebührender, von Filmmusik untermalter Schrei.
Kein hohes Fiepsen, das wohldosiert bei jungen Damen sowohl Entzücken als auch Entsetzen ausdrücken konnte und absurderweise ebenfalls das Etikett ‚Schrei' erhalten hatte.
Sondern ein hässlicher, urtümlicher Laut, der in der Lunge brannte, im Hals vibrierte und sogar in den eigenen Ohren dröhnte.
Der Zorn, die Angst und die Verzweiflung kämpften um die Oberherrschaft und heizten mich von innen genauso sehr auf - wenn nicht sogar mehr - als der für diesen Zweck gebrühte Tee.
Als ich auf das Getränk hinabblickte, fiel mein Blick kurz auf die Rentiere und Sterne aus Lichterketten, die aufblasbaren Weihnachtsmänner und den ganzen anderen Firlefanz der Nachbarn, von dem auch dieser Garten nicht völlig frei war.
Schon merkwürdig, dass es einen Grund wie Weihnachten braucht, um sich frei zu nehmen und hier zu sein.
Ich pustete fast unmerklich in den Tee - einfach, um die ausgelösten Wellenbewegungen zu beobachten.
Doch auch diesmal wölkte aus meinem Mund natürlich der viel wärmere Atem, kondensierte weiß in der kalten Luft und trübte meinen Blick auf die Oberfläche.
Ich wandte den Kopf ab, ignorierte das Zittern und unterdrückte mit aller Macht den Schrei.
Natürlich konnte ich nicht ‚einfach so' losbrüllen.
In der Gesellschaft zeigte man seine Gefühle nicht im Übermaß - weder die positiven noch die negativen.
Nein - man brüllte nicht.
Also schwieg ich.
Nach einer Weile bemerkte ich im Augenwinkel eine Bewegung, und schaute zur Terrassentür.
Da stand Klara, der goldene Labrador, mit aufmerksam gespitzten Ohren und wedelndem Schwanz.
Ich lächelte schief, stellte die Tasse ab und stand auf, um die Tür zu öffnen.
Sobald die transparente Glastür gerade weit genug geöffnet war, schlüpfte sie an mir vorbei und begann, jeden Zentimeter des Gartens abzuschnüffeln.
Ich rollte mit den Augen und setzte mich wieder.
Als hätte sie das nicht schon Dutzende Male gemacht.
Doch sie war für ihre Verhältnisse erstaunlich schnell fertig damit und setzte sich vor mich hin.
Irritiert betrachtete ich den Hund.
„Was möchtest du?"
Wie zur Antwort wedelte sie wieder mit dem Schwanz, doch vor allem ihr Blick sprach Bände.
Klara versuchte zwar so zu tun, als gälte ihre gesamte Aufmerksamkeit mir, doch ihre Augen huschten immer wieder zu dem kleinen Tischchen.
Ein Tischchen, auf dem die halbleere Tasse, ein aufgeschlagenes Buch und vor allem ein Teller mit einigen Vanillekipferln draufstand.
Ich nahm einen der puderzuckrigen Kekse und führte ihn zum Mund, und wie an einem Faden gezogen, folgten Klaras Augen aufmerksam meiner Hand.
Das Vanillekipferl schmeckte wunderbar, doch bereits nach dem dritten Bissen fühlte ich mich schlecht, ihr so ‚vorzuessen' und meine grausame Stimmung an ihr auszulassen.
Ich leckte mir noch einmal über die Finger, dann stand ich wieder auf, stellte die Kekse außerhalb ihrer Reichweite, und ging ins Innere.
Ich holte aus einer dafür vorgesehenen Box drei kleine Leckerli und ging wieder nach draußen.
Sie war mir nicht gefolgt - natürlich nicht - sondern lag mit gespitzten Ohren am Gartentor und wartete auf ihr Frauchen.
Dann eben nicht.
Schneller als erwartet kehrte meine schlechte Laune zurück und fühlte sich an wie ein zäher Lavastrom, der von meiner Brust ausgehend jeden Zentimeter langsam ausfüllte.
Was hatte ich denn erwartet?
So selten, wie ich meine Familie besuchte, hatte der Hund keine richtige Bindung mehr zu mir - und das würde sich nicht vom heute auf morgen ändern.
Missmutig starrte ich wieder in meinen Tee.
Ich wollte nicht deprimiert sein, wollte keine Angst haben oder so wütend sein, dass ich irgendetwas zerstören könnte.
Doch ich glaubte nun einmal nicht an die Wunder, die Christi Geburt versprach.
Ich war hier, um diesen Sturm der Gefühle zu lindern, statt erneut eingesperrt in meinen vier Wänden verrückt zu werden.
Nachdenklich starrte ich zu dem leuchtenden Viereck aus dem Zimmer meiner Schwester hinauf.
Nicht jeder war zu dieser Zeit alleine oder fühlte sich isoliert und ich gönnte es ihr.
Trotzdem half das nichts gegen mein Gefühlschaos.
Es fühlte sich an, als stecke ich in einer Zeitschleife - als habe sich zum einen alles und zum anderen gar nichts verändert.
Kaum hatte ich ein wenig von der Freiheit und Individualität, von Bekanntschaften und Solidarität gekostet, wurden alle wieder in die zermürbende, niederdrückende Isolation gezwungen.
Und das Schlimmste war, das ich nichts tun konnte, um diese Isolation zu stoppen oder auch nur zu verkürzen.
Ich war machtlos, wenn ich nicht wollte, dass alle Menschen darunter litten.
Unwillkürlich fauchte ich leise, um wenigstens ein wenig von dem Frust abzubauen und Klara wandte den Kopf in meine Richtung.
Doch überraschenderweise wandte sie sich nicht wieder ab, sondern stand auf und trottete zu mir hinüber.
„Es ist in Ordnung. Alles gut", sagte ich leise und machte eine abwehrende Geste.
Ich hatte Angst, meine Wut an einem lieben Familienmitglied auszulassen.
Klara blieb jedoch sitzen, selbst als ich meinen Tee austrank und sie nur anstarrte.
Zwar wandten sich ihre Ohren immer wieder in Richtung Gartentor, doch ihr Blick aus den sanften, dunklen Augen blieb auf mich gerichtet.
Entschlossen, mir selbst noch Salz in die Wunde zu streuen, nahm ich einen weiteren der Vanillekipferl und begann ihn zu essen.
Er schmeckte nach Asche und das Zittern erfasste diesmal auch meinen Oberkörper und die Beine, als Klaras Blick natürlich der Süßigkeit folgte.
Diesmal half es nichts, die Tasse wieder zu nehmen und den Griff zu verstärken – nicht einmal das immer noch heiße Porzellan konnte genug Schmerzsignale schicken, um mich dazu zu bringen, sie abzusetzen.
Verschwinde!
Ich konnte sie nicht anfahren – wobei erschreckenderweise eher der Gedanke überwog, dass meine Schwester mich hören konnte, als dass ich den Hund ängstigte – doch ich war mir sicher, dass meine Körpersprache meine Gefühle verriet.
Kurz erschien eine weitere Atemwolke und irritiert starrte ich sie an – sie passte nicht zu meinem Atemrhythmus.
Dann sah ich zu Klara.
Sie hatte geseufzt und ihre beinahe weiße Schnauze lag auf meinem Knie.
Ich konnte nicht begreifen.
Spürte sie denn nicht, dass ich kurz davorstand, etwas zu zerstören?
Noch einmal seufzte sie und schob ihre feuchte Schnauze etwas weiter auf mein Bein.
Urplötzlich spürte ich den absurden Drang, laut loszulachen.
„Du hast es aber auch schwer", meinte ich – sowas wie ein Standardspruch in der Familie, wenn sie das tat und dabei so große Augen machte.
Klara spitzte die Ohren, bewegte sich aber ansonsten nicht.
Also nahm ich eines der Leckerlis zur Hand, und sofort richtete sich der Hund auf – gierig, wie kaum eine andere Rasse.
Ich erhob den Zeigefinger und sah sie nur an.
Doch Klara verstand den non-verbalen Befehl und setzte sich.
Also warf ich ihr die Belohnung zu und sie fing sie im Flug.
Nun wirkte sie hellauf begeistert, stand wieder auf und kam mit wedelndem Schwanz wieder so nahe, als wolle sie mit mir verschmelzen.
„Ah-ah!", machte ich automatisch den harten Laut und war überrascht, als es funktionierte.
Denn obwohl Klara die Ohren spitzte, war sie praktisch taub und hatte das Geräusch also wahrscheinlich nicht hören können.
Und körperliche Präsenz im Sitzen auszustrahlen war weit schwieriger – doch diesmal reichte es, damit sie Abstand hielt und mich mit schiefgelegtem Kopf ansah.
Noch einmal machte ich das Zeichen für ‚Sitz' und drückte dann die flache Hand mit der Innenfläche nach unten.
Wie gefordert legte Klara sich hin und bekam das zweite Leckerli.
Verwirrt merkte ich erst da, dass das Zittern wieder nachgelassen hatte.
Die giftigen, sich im Kreis drehenden Beschimpfungen und Fragen, genau wie die Gefühle waren nicht verschwunden.
Natürlich nicht – aber für den Moment waren sie wieder auf ein erträgliches Maß gesunken.
Einige Sekunden lang betrachtete ich die zweite, stete Atemwolke Klaras, die inzwischen nervös hechelte und das letzte Leckerli in meiner Hand fixierte.
Dann murmelte ich ein:
„Bleib", und hielt ihr das Leckerli hin.
Gierig leckte sie es von meiner Handfläche, ehe sie sich hoffnungsvoll auch die zweite Handfläche vornahm.
Eigentlich war dieser Befehl dazu gedacht, sie zum Halt zu bringen – sei es nun an der Straße, beim Abstellen des Futternapfs, oder wenn etwas herunterfiel, dass sie nicht essen durfte.
In diesem Moment dachte ich jedoch daran, dass sie nächstes Weihnachten vielleicht nicht mehr hier mit mir sitzen und mir Tricks vorführen konnte.
Eine weitere – wenn auch keineswegs neue – Last legte sich auf mein Gemüt.
„Alle – ich hab' nix", meinte ich leise.
Inzwischen hatte sie das auch begriffen und stand auf, um zurück zum Gartentor zu gehen.
Rasch begann ich Klara zu streicheln und gab mein bestes, meine Gefühle beiseitezuschieben.
Sie hielt inne und sah mich fragend an, während ich die Empfindungen in mich aufsog – sowohl ihr weiches Fell und ihre Wärme als auch den gewöhnungsbedürftigen Geruch nach Hund.
Nein, ich glaubte wirklich nicht an die Wunder von Christi Geburt – doch ich war fest davon überzeugt, dass wir daran glauben wollten.
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Eine weihnachtliche Schreib-Challenge von @KuhleKathiisten mit den vorgegebenen Worten "Hund", "Atemwolke" und "Vanillekipferl".
Nuoli
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