Ares' Opfer
Der Junge hatte die Schuhe ausgezogen, um keinen Lärm zu machen und schlich mit angehaltenem Atem an den Tempelwachen vorbei.
Glücklicherweise waren diese zu abgelenkt vom Geplänkel, um ihn zu bemerken. Doch auch das stete Winseln aus dem Gebäudeinneren trug sicherlich dazu bei, dass der Junge den Eingang unbehelligt passieren konnte.
Der schneeweiße Kretische Spürhund lag auf dem Steinboden und versuchte vergeblich, den Strick um seinen Hals loszubekommen. Der über dem Rücken geringelte Schwanz wedelte aufgeregt, als er den Jungen erkannte und er winselte lauter.
Entsetzt legte der Junge einen Finger an die Lippen.
"φεγγάρι*, sei leise!", zischte er.
Der Spürhund strangulierte sich beinahe selbst in dem verzweifelten Versuch, zum Sohn seines Besitzers zu gelangen. Die Krallen kratzen laut über das Gestein und der Junge warf einen ängstlichen Blick über die Schulter, doch die weiße Hündin hatte schon so oft zu entkommen versucht, dass die Wächter nicht einmal in ihrem Gespräch innehielten.
Als der junge Sohn des Schafhüters seine Spielgefährtin erreichte, streichelte er beruhigend ihren Hals und entknotete dann hastig das Seil. Da der Junge wusste, dass das Tier im Dunkeln wie ein Geist leuchten würde und selbst die faulen Wachen das Schaben der Krallen auf Stein mitbekommen würden, versuchte er erst gar nicht, sich wieder hinauszuschleichen.
Stattdessen gab er seiner Freundin einen entschiedenen Klaps, wodurch sie überrascht japsend in Richtung Ausgang schoss und rief:
"He, ihr da! Wo geht es denn hier zur Heimlichkeit?"
Nicht gerade die best-durchdachteste Idee, doch sie reichte aus, dass die beiden für einen Moment ihre Aufgabe vergaßen.
"Auf jeden Fall nicht im Tempel", knurrte der stämmigere der beiden mit einer Stimme, die dem Achtjährigen die Beine schlottern ließ.
Trotzdem machte er einen scheinbar unauffälligen Schritt in eine der Ecken - möglichst weit weg vom Altar - und sagte mitleid-heischend:
"Aber ich muss doch so dringend!"
Schnaubend begann der erste Wachmann:
"Hör' mal zu, du Jüngelchen-, wurde jedoch von seinem Kamerad unterbrochen.
"Ach, entspann dich doch mal, Alexios. Der Junge hier hat lediglich ein wenig viel vom Wein seines Vaters getrunken und weiß nicht, wo er gerade ist", lachte der fröhlichere Blondschopf.
Der Vater des Jungen besaß keinen Weinberg - kein Schäfer konnte auch noch die zusätzliche Zeit aufbringen, Wein zu bestellen - doch der Bursche widersprach nicht.
Er war dankbar, dass er sogar für seine schlotternden Beine eine halbwegs glaubwürdige Ausrede hatte und musste lediglich ein dümmliches Grinsen auf sein Gesicht zwingen.
"Komm mit, wir begleiten dich ein Stück zu einem Busch, in dem du dich erleichtern kannst", meinte der Blonde augenzwinkernd.
Alexios war dagegen, doch der Junge tat, als habe er ihn nicht gehört und nickte langsam, als habe der Vorschlag eine Weile gebraucht, um sein umnebeltes Gehirn zu erreichen.
"Dat is' wohl dat beste", erwiderte er lallend und gab sein bestes, das Grinsen nicht wanken zu lassen, als er am Wachmann vorbei sah.
Sie waren nur noch eine Handvoll Schritte von der Öffnung entfernt, als der grimmigere der beiden sich noch einmal umdrehte und ausrief:
"Potzblitz, die Opfergabe ist verschwunden!"
Da wartete der Schäferjunge nicht länger, sondern riss sich vom Arm des Blonden los und rannte in die Nacht hinaus. Er ignorierte die fragenden und wütenden Rufe der Wachen und folgte möglichst genau dem Weg, den die Hündin genommen haben mochte. Doch da sich seine Augen noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten, verfing sich sein Fuß in einer Ranke und der Flüchtende wurde zu Boden gerissen. Zischend wich die Luft aus seinen Lungen und sein Fuß begann fürchterlich zu pochen.
"φεγγάρι! φεγγάρι!", rief der Junge nach seiner Spielgefährtin und es interessierte ihn nicht, dass er dadurch seinen Aufenthaltsort verriet.
Entschieden entriss er der Pflanze seinen Fuß und rappelte sich hastig wieder auf.
Er würde ganz bestimmt nicht zulassen, dass die Hündin dem grausamen Kriegsgott Ares geopfert wurde.
Sein Vater hatte zwar keinen übermäßigen Respekt vor der Priesterin gehabt, die das 'reine' Opfertier gefordert hatte, während er fort war, doch er hatte ihr auch nicht widersprechen können.
Hastig forthumpelnd lauschte er auf ein Winseln oder Hecheln, doch sein eigener, keuchender Atem war zusammen mit seinem rauschenden Blut beinahe so laut, dass er kaum seine inzwischen vor Ares' Strafe ängstlichen Verfolger hörte. Was die Hündin schließlich verriet, war ihr leuchtendes Fell, dass sie zur bevorzugten Opfergabe hatte werden lassen.
Er rief leise nach ihr und sie stellte neugierig die Ohren auf, fand ihn beinahe sofort, lief leichtfüßig auf ihn zu und leckte ihm begeistert Hände und Gesicht.
Überglücklich umarmte der die weiße Hündin und streichelte ihr weiches, warmes Fell. Doch allzu schnell holte ihn die Wirklichkeit wieder ein, als er das altbekannte Bellen anderer Kretischer Spürhunde hörte.
Zuerst schien φεγγάρι freudig einstimmen zu wollen und der Schäferjunge hatte schon eine Hand auf ihrer Schnauze, um ihr das Maul zuzuhalten, als ihr erhobener Schwanz herabsank, sie die Rute instinktiv zwischen die Hinterbeine klemmte und leise winselte.
Er strich ihr einmal beruhigend über den Kopf, bevor er sich zwang, aufzustehen.
Wenn sie schon das Rudel geholt hatten, durften sie keine Zeit mehr verlieren, wenn sie nicht wie Hasen zu Tode gehetzt werden wollten.
Verbissen ignorierte er den stechenden Schmerz im Fuß und machte sich auf den Weg zu einer in der Nähe gelegenen Kalkhöhle.
Er konnte zwar auf einen Baum klettern, doch er würde nach diesen Risiken φεγγάρι sicher nicht im Stich lassen.
"Komm, meine Süße - es ist nicht mehr weit", sagte er sanft, aber zittrig.
φεγγάρι legte den Kopf schief, doch folgte ihrem jungen Herrchen brav.
Als der Junge erkannte, dass ihr Kopf und besonders ihre Ohren sich immer wieder nach hinten wandten und sie unruhig um ihn herum tänzelte, hätte er sie am liebsten voraus geschickt. Doch selbst, wenn er das hätte tun können, würde seine Freundin die Höhle wohl kaum freiwillig betreten.
Zumindest galt das für den kleinen, schmalen Gang, der gut versteckt am hinteren Ende der Höhle lag und in einen weiteren, kleinen Raum führte. Denn obwohl sie auch für die Hasenjagd gezüchtet worden war, hütete sie doch lieber die Herde, als ihrer Beute durch schmale Gänge nachzujagen.
Und der Geruch aus dem Inneren würde wohl jeden Hund ängstigen.
Also hatte der Junge keine andere Wahl, als seiner ausdauernden, immer wieder Kreise ziehenden Hündin nach zu humpeln so schnell er konnte.
Die bellende Meute wurde lauter und im gleichen Maße wurde der Junge unvorsichtiger, sodass er letztlich plötzlich in ein Bächlein trat und der Länge nach in das steinige Wasserbett fiel.
Sofort lief φεγγάρι zu ihm und schnüffelte winselnd an seinem Haar.
Diese Geste der Besorgnis brachte den vor Angst und Erschöpfung fast kopflosen Jungen wieder zur Besinnung und er setzte sich im lauwarmen Wasser auf.
Als die Hündin erkannte, dass ihrem Herrchen nichts passiert war, wedelte sie freudig mit dem Schwanz und trank mit nervös nach hinten gedrehten Ohren einige Schlucke aus dem sie umgebenen Wasser.
Der Schäferjunge betrachtete Hündin und Wasser - ein helles Leuchten im schwächeren silbernen Leuchten des Bächleins - und nutzte die kurze Trinkpause, um seine Gedanken zu sortieren.
Kurzentschlossen packte er einen schweren Stein vom Bachbett und hob seine neue Waffe auf.
Dann nahm er noch schnell selbst einen Schluck und stand auf, vorbei er seine Freundin mit leisen Lauten hinter sich her durch das Wasser lockte. Vielleicht würde dies ja ihre Duftspur verwischen.
Gefasst, aber düster konnte sich der Junge des Gedankens nicht erwehren, dass er die bedingungslose Treue seiner φεγγάρι vielleicht gar nicht verdient hatte - doch er war fest entschlossen, ihr diese Treue zurückzuzahlen und sie zu beschützen.
Als die ungewöhnlichen Gefährten die Kalkhöhle erreichten, hatte ihnen ihr kurzes Bad zwar Zeit verschafft, doch trotzdem waren die Wachen so nahe, dass man Alexios über das Bellen der Meute brüllen hörte:
"Na warte, Jüngelchen! Du kannst was erleben! Die Hohepriesterin um ihre Opfergabe zu bringen!"
Unisono warfen beide einen besorgten, ängstlichen Blick über die Schulter und dem Jungen wurde klar, dass er keine Zeit haben würde, ein besseres Versteck zu suchen.
Doch vielleicht war das auch gar nicht nötig - wenn sie es nur schafften, unbemerkt in die Höhle zu schlüpfen...
Selbst, wenn die Jagdhunde dann ihre Fährte finden würden, müssten die Verfolger annehmen, dass sie das Versteck wieder verlassen hatten, nachdem sie die Haupthöhle leer vorgefunden hatten.
Wie erwartet lief die Hündin bereits nach kurzem Zögern hinein, doch als der Junge sie durch den schmalen Spalt schieben wollte, klemmte sie die Rute zwischen die Beine und hielt dagegen.
Lautlos fluchend ging der Junge voraus, um zu zeigen, dass der Zugang gefahrlos möglich war.
Der verletzte Dachs, der einmal hier gelebt hatte, war ein leichtes Ziel gewesen, doch der kleine Raum verströmte immer noch einen strengen Dachsgeruch, der ihre Rettung sein konnte - zumindest, wenn φεγγάρι ihm endlich folgte.
Die Meute hatte den Eingang der Haupthöhle zwar noch nicht erreicht, doch das war nur noch eine Frage von Augenblicken.
Der Schäferjunge sah seiner Freundin fest in die Augen und versuchte es das erste Mal mit einem Befehl:
"φεγγάρι! Komm her, sofort!"
Die wirkte jedoch nur verwirrt und legte ängstlich die Ohren an, während er glaubte, den Schwanz draußen noch wedeln zu sehen. Sie hatte eindeutig Angst... um ihn. Ihre Nase zuckte nervös und er glaubte beinahe zu hören, wie sie ihn anflehte, aus der Todesfalle zurückzukommen.
"Komm schon", versuchte er es sanfter, "es ist sicher. Der Dachs ist tot."
Als auch das wirkungslos blieb, wollte er sie in purer Verzweiflung an den Schultern packen, doch da steckte der erste Jagdhund die Schnauze in die Höhle und φεγγάρι zog sich blitzschnell aus dem Spalt. Dann stand sie, die Rute hoch erhoben, die Ohren wachsam spielend zwischen ihm und der Meute.
Verwirrt starrte der Junge seine Freundin an und streckte unwillkürlich die Hände nach ihr aus, als die Hündin sich umwandte und ihm hechelnd die ausgestreckten Hände leckte - der Junge sollte erst später begreifen, dass dies ein Zeichen des Abschieds gewesen war.
Dann legte die schneeweiße Hündin die Ohren an, den Schwanz immer noch hoch aufgerichtet und knurrte tief aus der Kehle. Kurz war die Meute verwirrt, bevor sie sich zeitgleich mit ihr in Angriffsstellung duckten und zum Sprung bereit machten.
Mit einem wortlosen Schrei griff der Junge nach seiner Beschützerin, doch da hatte diese sich schon auf den ersten Angreifer gestürzt.
Fassungslos sah der Junge zu, wie die sonst so friedfertige und liebevolle Hütehündin sich in eine Bestie verwandelte, die entgegen jeder Vernunft ihr Herrchen beschützte.
Sie schlug sich tapfer und tötete acht von ihnen, doch es waren einfach zu viele. Der Junge wusste, dass es Wahnsinn war, doch er konnte nicht an sich halten, als drei Rüden sie zu Boden warfen. In einem animalischen Schrei preschte er auf die Tiere los und hieb mit aller Kraft mit dem Stein auf ihre Schnauzen.
Schmerzerfüllt jaulend ließen sie von ihr ab und er schleifte die Verletzte in den wenige Schritt entfernten Durchgang.
Kaum hatte er seinen zweiten Fuß hinein gesetzt, folgte ihm die Meute, durch die Wächter angestachelt. Doch weil er so schmal war, passte immer nur ein Tier in den Gang. Erbarmungslos und ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen zertrümmerte er Pfoten, schlug Schnauzen blutig oder gar Reißzähne aus, die nach ihnen schnappten.
Nach einer Ewigkeit kamen keine Hunde mehr nach, doch er wusste, dass ihnen dies höchstens eine Atempause verschaffen würde. Er musste den Durchgang verbarrikadieren und einen anderen Ausgang finden - und wenn er ihn mit bloßen Händen schaffen musste.
Wie in Trance wandte er sich um und bemerkte erst da, dass die Hündin viel zu schnell hechelte und immer noch Blut verlor.
"φεγγάρι!", rief er tränenerstickt und sank neben ihr auf die Knie.
Die Hündin sah ihn aus dem Augenwinkel an und winselte leise, ihr Schwanz schlug mit einem leisen Klopfen auf den Boden.
Hemmungslos weinend setzte sich der Junge in den Gang, legte ihren ehemals weißen Kopf in seinen Schoß und streichelte die treue Freundin, während er wieder und wieder ihren Namen sagte.
Während ihr Atem immer unregelmäßiger ging und ihr Körper immer kälter wurde, hörte der Schäferjunge die Meute zurückkommen - doch das war ihm jetzt gleich.
Nun hatte es doch ein Opfer im Namen von Ares gegeben. φεγγάρι hatte den ersten Kampf im Namen des Krieges gefochten, um jene zu beschützen, die sie liebte. Doch würde es den grausamen Kriegsgott besänftigen oder erzürnen, das sich seine Opfergabe selbst zur Kriegerin entwickelt hatte?
Dann dachte er nichts mehr, als die verletzte, aber zahlenmäßig immer noch überlegene Meute über ihn und die befleckte Unschuld herfiel.
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*φεγγάρι wird [fɛŋˈgari] also in etwa "Fengari" (alle Griechen mögen mir verzeihen ^^) ausgesprochen und bedeutet 'Mondschein' - das fand ich irgendwie passend.
Auch dieses kleine Werk ist wieder im Rahmen des Schreibwettbewerbs von sweet_predator entstanden - diesmal war die Voraussetzung, ein instrumentales Musikstück unserer Wahl als Grundstein der Geschichte zu wählen. Da ich Lindsey Stirling's Lieder schon immer bewundert habe und fast immer vor meinem inneren Auge ein kleines Kino abläuft, sobald ich ihre Stücke höre, war sie dafür wie geschaffen.
Trotzdem war es nicht so leicht, sich bewusst etwas neues zu suchen (also sowohl ein Stück von ihr, das ich noch nicht kannte, als auch nicht meine altbekannten Themen zu wählen) - ich hoffe dennoch, dass es mir mit dem Song: "Carol of the Bells" gelungen ist.
Mich hat die übergeordnete Macht der Götter bzw. der Kirche schon immer sowohl geärgert als auch fasziniert und als dieses Lied in mir ein Drängen und eine Angst auslöste, wie sie wohl bei einer Verfolgungsjagd als Gejagte/r entstehen mag, war die Idee geboren.
Anzahl der Wörter: 2.000 (und du hast keine Ahnung, wie oft ich das dafür wieder lesen musste, sweet_predator XD)
Eure Nuoli
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