Trost
„Das ist ein ungünstiges Foto von Finn, in der Realität ist er viel schöner", schwärmte Daphne über ihren neuen Freund und war Feuer und Flamme.
Katia sah sich das Bild auf dem Handy an. Ein junger Bursche mit blonden Haaren, blauen Augen und einem glatten Gesicht. Rein von Bartstoppeln aber trotzdem mit ein klein wenig Akne gesegnet. Es war vielleicht ein ungünstiges Foto, attraktiv fand Katia Finn trotzdem nicht. Darum ging es ja auch schlussendlich nicht. Daphne, ihre Schwester, war seit langem mal wieder so richtig glücklich.
„Haben ihn Mum und Henry schon gesehen?"
„Katia, du sollst Dad doch nicht immer bei seinem Vornamen nennen. Was hat Levi dir gestern gesagt?"
„Schon klar", erwiderte Katia mutlos. „Gut, haben ihn Mum und D-A-D schon gesehen?"
Daphne legte eine geheimnisvolle Grimasse auf.
„Ja, allerdings. Mum war begeistert von ihm, aber...", und ihr Gesicht verfinsterte sich, „Dad konnte sich mal wieder nicht zusammenreißen mit seinen widerlichen Sprüchen."
„Was hat er gesagt?", fragte Katia entsetzt, denn sie ahnte schlimmes.
„Er sagte, Finn solle sich wie seine Landsmänner eine Suppenschüssel über den Kopf ziehen, damit man seine ekelhaften Aknepusteln nicht sehen muss. Das fand er auch noch lustig und hat gelacht. Und als ich ihn gebeten habe, sich zu entschuldigen, verhöhnte er Finn, ob er sein armes Schwedenherz getroffen hätte. Er ist so ein widerlicher fremdenfeindlicher Kotzbrocken."
Daphne redete sich in Rage. Ihr sonst so porzellanweißes Gesicht unter ihren schwarzen Haaren war purpurrot vor Wut.
„Und wer nimmt ihn wieder in Schutz? Natürlich Mum. Er hatte ja eine schwere Kindheit, er hat das alles von seinen Eltern so vorgelebt bekommen. Das ist doch keine Entschuldigung. Da könnte man ja zukünftig alle mit einem schlechten Benehmen in Schutz nehmen. Oh nein, er hat seine Frau umgebracht, aber verurteilt ihn nicht, er hatte eine schlechte Kindheit."
Auch wenn Daphne anstrengend war, so war Katia froh, dass ihre Schwester hier war und nicht bei Finn in Schweden. Eine Familienfeier ohne Daphne war für sie nicht zum aushalten. Zusammen kramten sie im Keller herum, um den Weihnachtsschmuck zusammenzusuchen. Katia wusste, was ihr Vater für ein Mensch war. Er war nicht nur sehr fremdenfeindlich, er war auch zu ihrer Mutter ein widerlicher Typ, sagte ständig frauenfeindliche Dinge und als sie und Daphne kleiner waren, hatte er die Kinder geschlagen. Jetzt machte er sie nur noch verbal fertig, stellte sie bloß oder beschimpfte sie.Aber sie waren Schuld, sie waren immer Schuld. Nie er, sie waren es, die hier nicht hingehörten. Die beiden Schwestern waren froh, nun selbstständig eine Leben zu führen, unabhängig von der Familie und dem Hofbetrieb.
„Vergiss nicht, dass wir noch die Rinder reinholen müssen, bevor es dunkel wird", erinnerte Daphne ihre kleine Schwester. Katia nickte, war aber gedanklich ganz wo anders. Nero hatte sich seit gestern nicht mehr gemeldet. Sie schrieben, seit die Ferien begonnen hatten. Und es war nicht Katia, die damit angefangen hatte. Nero war es. Nero hatte ihr ein Foto geschickt von seinem Apartment in Berlin, wo er untergebracht war. Er schwärmte von seinem neuen Job als Ballettmeister. Zwei bis drei Tage chatteten sie durchgängig miteinander, dann war Stille. Nero antwortete nicht mehr. Katia wollte nicht empfindlich sein, aber irgendwas fühlte sich seltsam an. Sie wollte nicht wie andere Mädchen sein. Aufdringlich oder depressiv, sie wollte so einfach nicht sein. Deswegen ärgerte sie sich. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich wirklich darüber Gedanken machte. Dass sie stundenlang auf ihr Smartphone starrte, in der Hoffnung, Nero würde ihr schreiben. Jede Vibration ließ sie aufschrecken. Das musste ein Ende haben. „Er ist NUR dein Lehrer", sagte sie sich immer wieder gedanklich.Und dann kam wieder die Erinnerung zurück, wie Nero sie umarmt hatte. Wie er gestrahlt hatte. Und wie er sagte, er sei so glücklich, sie getroffen zu haben. Er sendete so widersprüchliche Signale, die Katia zunehmend mehr und mehr verwirrten.
Wieder einmal saßen sie alle am Tisch, es war ein Tag vor Heilig Abend, und aßen. Katia stocherte auf ihrem Teller herum und schob mit der Gabel die Kartoffeln an die Seite. Nur das Gemüse rührte sie an. Den Brokkoli, die Karotten. Den Blumenkohl nicht, der blähte nur ihren Bauch zu sehr auf.Gegenüber saß ihr Vater. Henry. Er war ein kräftiger Mann mit einem Bierbauch, einem Dreitage-Bart, einem gerötetem eingefallenem Gesicht, einem Doppelkinn und einer Brille. Er schaufelte sich das Essen in den Mund, als gäbe es keinen Morgen mehr, schmatzte und hustete durch seine kaputte Lunge. Katia ekelte es an, ihm dabei zuzusehen. Schon ihn beim Schmatzen zuzuhören, erweckte bei ihr einen Brechreiz. Schließlich beobachtete sie, wie Henry sich sein Weinglas nahm und den Alkohol hinunter kippte, als sei es Wasser. Beim Hinstellen des Glases sah er auf Katias Teller.
„Tu doch nicht so, als seist du jetzt magersüchtig. Und dann wundert sich deine Mutter, dass du keinen Freund hast."
„Henry, bitte", flüsterte Katias Mutter.
„Ich frag mich ehrlich, warum wir überhaupt Geld daran verschwenden. Sie kann doch nicht einmal tanzen. Außerdem hat sie viel zu viel Hüften für eine dieser Sorte. Die sind doch alle so klapperdürre. Und richtige Männer, die gibt es da ja auch nicht. Die sind doch da alle stockschwul."
Sie merkte, wie ihr Griff sich um den Griff der Gabel verstärkte. Henry versuchte, Katia zu provozieren.
„Ich sag dir eins: du wirst mir und deiner Mutter das Geld nicht aus der Tasche ziehen, Fräulein. Du bist viel zu sehr verwöhnt worden von uns. Wir werden uns nicht um dich kümmern, wenn du auf der Straße sitzt."
Henry sprach mit vollem Mund. Katia sah angeekelt, wie ihm Essensreste aus den schwarzgelben Zahnresten fielen. Henry war ihr Vater, sie musste ihn lieben und Ehren. So stand es in der Bibel. Doch Katia konnte es nicht. Sie konnte es nicht. Alles an diesem Mann ekelte sie so an.
„Lieber auf der Straße sitzen, als so einen Ehemann zu haben, wie dich", murmelte sie leise.
Auf einmal wurde es mucksmäuschen Still am Tisch. Sogar die sonst so taffe Daphne hatte ihre Gabel an den Tellerrand gelegt und sah mit offenem Mund zu ihrer kleinen Schwester.
„Wie war das?", fragte Henry mit einem gefährlichen Unterton.
Katias Mutter zog scharf die Luft ein.
„Ich...", stotterte Katia.
„Was hast du zu mir gesagt, du undankbares Gör?", brüllte Henry nun.Er schob sich vom Tisch weg und sprang auf, schlug mit der Handfläche auf die Tischplatte. Das Geschirr zitterte gefährlich.
„Das ist der Dank dafür, dass wir dich aufgezogen haben, wie unser eigenes Kind? Dass wir dich mit unserem Essen genährt haben, dir Klamotten und ein Bett zur Verfügung stellen? Dass du auf diese verdammte geldfressende Tanzschule darfst?"
„Henry, bitte-„
„Nein, Magda, das lassen wir uns nicht mehr gefallen. Weißt du, was deine Mutter alles für dich getan hat? Was ICH für dich getan habe?"
Henry war so laut. Katia sah auf ihren Schoß, erwiderte nichts. Sie war den Tränen nah und so wütend über das, was Henry ihr vorwarf. Sie hatte immer versucht, dankbar zu sein und tat doch so viel, um ihren Eltern das auch zu beweisen. Nie würde es genug sein. Nie.
„Geh auf dein Zimmer, ich möchte dich heute nicht mehr sehen", sagte Henry.
Katia ließ sich das kein zweites Mal sagen. Sie lief die Holztreppen nach oben und schlug ihre Zimmertür zu. Sie ließ sich in ihr Bett fallen, kuschelte sich in die Decken und weinte. Weinte und wünschte sich, dass Weihnachten bald wieder vorbei war. Von unten hörte sie den Streit zwischen ihrem Vater, ihrer Mutter und Daphne. Wie sich die Frauen für sie einsetzten. Doch Henry blieb eisern.
„Als dein Ehemann hast du auf meiner Seite zu stehen. Immer verschwörst du dich mit ihnen gegen mich. Du verwöhnst sie viel zu sehr. Sie hat so nicht mit uns zu reden, Magda."
Katia kramte ihre Kopfhörer aus der Tasche, setzte sie sich in die Ohren und drehte die Musik an, um in eine andere Welt zu flüchten. In eine Welt, wo sie allein und unbeschwert war. Wo all die Trauer und der Schmerz vergessen war. Wie als kleines Kind, lief sie mit weißen Wölfen durch den Wald, baute sich Unterschlüpfe aus Zweigen und kuschelte sich in warmes Fell. Später merkte sie, dass das Fell an ihrer Nase kein Traum war.Es war Balou, der alte Hofhund, der Katia ins Zimmer gefolgt und die Türklinke mit seinen großen Pfoten geöffnet hatte. Er war in ihr Bett gesprungen, wie in alten Kindertagen, und legte sich zu ihr, um sie zu trösten.
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