Strenge
Das zweite Ausbildungsjahr an der Ballettakademie war ebenso wenig ein Zuckerschlecken, wie das erste. Viel mehr noch. Katia merkte schnell, wie sehr das Tempo angezogen wurde.
„Liebe Katia, auch wenn ich es schätze, wie hart du an dir arbeitest, so muss ich dir trotzdem mitteilen, dass du durch die Prüfung gefallen bist."
Selenas Augen waren voller Mitleid, als sie das sagte. Katia hatte dort auf ihrem Stuhl gesessen und war unglaublich traurig.
„Und doch gebe ich dir noch eine Chance, liebe Katia. Denn ich sehe, wie sehr du dich anstrengst. Ich muss dir ehrlich sagen: arbeite hart! Und du darfst auf keinen Fall nachlassen. Denn andernfalls wirst du es nicht schaffen, die anderen sind jetzt schon allesamt besser als du. Halte dich ran. Nur so kannst du es vielleicht schaffen. Es liegt an dir."
Katia war so froh, dass Nero ihr dieses Jahr jedes Wochenende Privatunterricht geben würde. Schade war nur, dass er nicht mehr ihr Lehrer war.
Jede Klasse bekam ab dem zweiten Jahr nur einen Lehrer zugeteilt. Nero hatte auf eigenen Wunsch keine Klassen von Katias Jahrgang haben wollen. Er war der Meinung, sie alle hätten es nicht verdient, auf dieser Akademie zu sein.
Alle, außer Katia. Genau das hatte er zu ihr gesagt. Katia war da anderer Meinung, trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt, dass Nero so stark an sie glaubte. Das tat unglaublich gut. Das kannte Katia nicht. Ihre Eltern hatten nie an sie geglaubt. Genauso wenig wie ihre Geschwister.
„Guten Morgen, Klasse."
Die Klasse war bereits im Raum, um sich aufzuwärmen. Hier unter den Schülern herrschte ein besseres Arbeitsverhältnis, als in Katias vorherigen Klasse. Sie waren alle hoch motiviert und diszipliniert.
Es war unglaublich.
Als ihre neue Lehrerin durch die Tür kam, standen sie alle auf und begrüßten sie respektvoll.
Die Lehrerin allerdings erwiderte es nicht, sondern lief mit hoher Nase zum Spiegel und stellte sich in eine perfekt ausgedrehte erste Position.
„An die Stange, Kinder. Wir beginnen mit der ersten Übung. Pliés."
Sie nickte zum Pianisten und er begann zu spielen.
Katia stand direkt hinter einem Mädchen mit blonden kurzen Haaren und einem netten Lächeln. Sie war etwas muskulöser, als die anderen. Aber sie hatte schöne Linien und einen verdammt guten Point.
Svetlana, ihre neue Lehrerin, hatte einen barschen Ton. Sie jagte die Klasse von einer Übung durch die nächste. Katia kam kaum hinterher.
Nero war langsamer gewesen in seinen Erklärungen und sie hatten immer Zeit, sich alles zu notieren. Hier aber war das nicht der Fall.
Bei der dritten Übung, den Jetés, ging Svetlana an ihnen vorbei und betrachtete sie kritisch durch ihre Brille. Bei Katia blieb sie stehen.
„Wie ist dein Name, Kind?"
Die Musik verstummte. Alle sahen zu Katia. Auch das Mädchen vor Katia. Nur im Gegensatz zu den anderen war ihre Mimik freundlich, herzlich, warm...
„K-Katia, Miss."
Svetlana schürzte die Lippen und schnaufte.
„Katia, weißt du was eins Plus eins ist?"
„Ähm.....ja, Miss."
Gelächter ging durch die Reihen.
Svetlana packte Katias Arm und riss ihn brutal in eine andere Position.
„Wenn hier die zweite Position ist, hast du deinen Arm auch hier zu haben. Und hör auf, so fest zu sein. Das ist hässlich. Ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, wenn ich dich ansehe, als ob jemand mit den Nägeln über eine Tafel kratzen würde."
Katia musste schlucken. Sie wollte im Erdboden versinken. Aber sie bemühte sich, die Korrekturen ihrer Lehrerin umzusetzen. Später am Tage ließ Svetlana sie nicht in Ruhe mit ihren Schikanen. Katia sollte alleine eine Pirouette drehen.
„So, liebe Kinder, genau so möchte ich das nicht haben. Nehmt euch ein schlechtes Beispiel daran und macht es besser."
Später im Bett lag Katia die ganze Nacht wach und notierte sich alle Korrekturen und Übungen in ihrem Buch.
Dass Svetlana sie so fertig gemacht hatte, war nicht das schlimmste. Am meisten hatte es wehgetan, wie die anderen über sie gelacht hatten.
Sie waren einfach alle besser.
Irgendwie fühlte sich Katia nicht wohl. Und auch in ihrem Kopf kam ihr immer nur ein Gedanke:
Was hatte Svetlana gegen sie? War es nur ihr können? Oder war es persönlich.
Sie bemühte sich doch auch, wie alle anderen. Sie hatte es doch verdient, hier zu sein. Aber Oder nicht?
Es war spät. Katia kuschelte sich in ihre Decke. Morgen war ein neuer Tag. Morgen würde sie Svetlana zeigen, dass sie es besser konnte.
Am nächsten Morgen war Katia bereits die erste an der Stange. Sie ging alles genau durch, was sie gestern alles gemacht hatten. Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Mitschüler. Sie lachten, stellten sich an die Stange und machten sich warm.
Katia konzentrierte sich so stark, wie sie konnte. Immer wieder ging sie alle Korrekturen und Notizen durch.
Die Tür knallte. Svetlana, gekleidet in ihrem lila Bustier, hatte eine grimmige Miene aufgesetzt. Es kam kein Wort von ihr. Sie machte nur ein Handzeichen und der Pianist begann zu spielen.
Als niemand reagierte, schrie sie durch den Raum:
„Erste Übung! Jetzt! Sofort!"
Katia zuckte zusammen, bewegte sich aber sofort und begann, die Übung zu machen. Im Gegensatz zu den anderen. Sie standen nur da und starrten Löcher in die Luft.
Die Musik hörte auf zu spielen.
„Ich habe euch gestern alle Übungen gezeigt, Kinder. Ich verlange Professionalität. Wir sind eine Company und kein Kindergarten. Und außerdem, Kind, ja, du. Was soll diese Frisur?"
Katia erstarrte. Meinte Svetlana sie?
„Keine Dutts im Nacken. Ihr seid keine alten Bauernfrauen."
Die Musik begann erneut und Svetlana peitschte sie durch die Übungen. Katia wusste jeden einzelnen Count, jeden Schritt, aber Svetlana ließ auch kein gutes Haar an ihr.
„Bein überstrecken bei der Arabesque, Bauernkind. Dein Oberschenkel ist so dick wie bei einem Pferd. Das sieht nicht schön aus."
So ging es weiter. Die ganze Stunde lang. Es spitzte sich zu, als Svetlana sich darüber beschwerte, dass die Klasse eine falsche Abfolge der Übungen vollführte.
Sie wurde rasend vor Wut.
„Das ist nicht MEINE Übung, Klasse. Untersteht euch-„
„Verzeihung, Miss?"
Katia hob die Hand. Svetlana sah sie aus ihren dunklen Augen an. Voller Wut und voller Hass. Wie eine Krähe, die nur darauf wartete, jemandem die Augäpfel auszukratzen, dachte Katia. Aber sie holte tief Luft und sagte, was sie auf ihrer Seele hatte.
„Die Übung haben Sie gestern genau so gezeigt. Ich habe es mir notiert, es stimmt so, wie wir sie-„
„Sei still, Bauernkind. Ich weiß genau, welche Übungen ich gestern gemacht habe. Du hast nicht zu sprechen, wenn ich dich nicht auffordere. Hast du verstanden? Ruhe und komm zu mir nach vorne, SOFORT!"
Ihr Schrei hallte wie ein Echo im Raum. Katia wünschte sich, sie würde unsichtbar werden. Alle sahen sie an. Sie stellte sich an die vordere Stange und sah zu Boden. Die restlichen Stunden verbrachte Katia damit, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie weinte.
Svetlana ließ sie in Ruhe.
Konnte sie nicht einfach die Klasse wechseln? Am liebsten würde sie das tuen. Vielleicht aber sollte sie der ganzen Sache aber noch eine Chance geben.
In der Pause saß sie auf der Bank und starrte auf den Boden.
Was Nero wohl dazu sagen würde?
„Hey, Katia, richtig?"
Es war das Mädchen aus ihrer Klasse. Die mit den blonden Haaren und dem warmen Lächeln.
„Katia, mach dir keinen Kopf. Du warst richtig. Svetlana ist nur manchmal ein wenig verpeilt. Das ist so ne Macke von ihr, aber sie meint das nicht böse. Ich bin übrigens Allie."
Sie gab Katia die Hand. Katia zögerte erst, dann erwiderte sie und versuchte, zu lächeln.
Allie war also ihr Name.
Katia würde sich den Namen merken.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro