Respekt
Die Sonne kam selten in London zum Vorschein. In London regnete es oft. Schien aber mal die Sonne, dann tummelten sich die Élèves vor der Schule herum.
„Ich hatte heute richtig Ärger mit Nero", erzählte ein Mädchen mit braunen Locken.
Katia hörte es nur durch Zufall.
Sie las ein Buch, abseits der anderen Schüler.
Auf der Ballettschule hatte sie auch Freunde, die waren aber schon in höheren Leveln eingeteilt. Sie waren im Tanzen schon länger als sie und hatten dementsprechend auch zu anderen Uhrzeiten Unterricht. Gemeinsame Pausen hatten sie selten bis gar nicht.
So verbrachte Katia ihre Freizeit oft allein. Das fand sie aber nicht schlimm.
Sie wollte nicht die Gespräche anderer Schüler belauschen.
Doch die Mädchen saßen direkt neben ihr. Es blieb ihr nichts anderes übrig.
Die Mädchen redeten laut. Sehr laut.
„Ich habe sein Englisch verbessert. Er meinte, ich sei frech und verbannte mich aus dem Unterricht. Unfassbar. Dabei wollte ich ihm doch nur helfen. Außerdem wie sollen wir denn von ihm lernen, wenn wir die Hälfte nicht verstehen können, von dem, was er sagt?"
Das Mädchen mit den Locken war sichtlich erbost.
Neros Akzent war manchmal schwer zu verstehen. Da musste Katia zustimmen. Doch seit ihr Nero Privatunterricht gab und sie ihn häufiger sprechen hörte, fiel ihr das gar nicht mehr auf.
Nero gab sich ja auch viel Mühe, etwas zu erklären.
Konnte es sein, dass man sich mit der Zeit an einen Akzent einer anderen Person gewöhnte und es nicht mehr auffiel?
'
„Katia, kann ich dich mal was fragen?"
Es waren zehn Minuten später. Nero hatte Pause und hatte sich zu Katia gesetzt. Katia war überrascht. Es war das erste Mal, dass Nero sich zu ihr setzte in der Pause.
Normalerweise verbrachte auch er die Pausen immer alleine. Jetzt saß er hier neben ihr auf der Bank, rauchte und sah sie neugierig aus seinen rehbraunen Augen an.
„Was ist „to see""
Katia deutete auf ihre Augen. - to see: sehen
„Und was ist dann „sea"?"
Katia musste kurz überlegen. Dann zeigte sie auf ein Bild in ihrem Buch, auf der man eine Küste sah. - the sea; das Meer
„Was ist der Unterschied zwischen „break" und „brake"?"
Katia nahm einen Stock und zerbrach ihn. - to brake: kaputt machen
„to break", sagte sie.
Dann stand sie auf, lief los und stoppte abrupt.
„Brake"
Zu ihrer rechten zeigte sie dann auf ein Auto. - the brake: die Bremse
Nero nickte und wiederholte die Worte für sich.
„To see...with the eyes...the sea...water and beach...to break, destroying things but brake...."
„Ich finde es mutig, dass du in ein anderes Land gegangen bist und eine neue Sprache lernst. Und trotzdem unterrichtest."
Katia erschrak selbst, dass sie das gesagt hatte. Sie hatte das Bedürfnis, Nero Mut machen zu wollen. Aber durfte sie das als Schülerin zu ihm sagen?
Nero reagierte nicht darauf. Sollte sie ihn darauf ansprechen?
„Ist alles in Ordnung bei dir?"
Die rehbraunen neugierigen Augen wurden finster und sahen aus, als könnten sie jeden um sich herum erstechen. Wenn sie könnten, was sie Gott sei dank nicht taten.
„Diese Mädchen hier sind so frech. Sie sind nicht meine Lehrer, ich bin der Lehrer. Sie müssen vor mir Respekt haben. Ich weiß, was sie erwartet. Wenn sie auf mich nicht hören, dann werden sie es nicht schaffen. Ihre Karriere. Kein Choreograf wird mit ihnen arbeiten wollen."
Nero war bekannt dafür, wütend zu sein. Schnell emotional zu werden.
Er zerdrückte seine Zigarette zwischen seinen Fingern und knurrte.
„Katia, du vertraust mir. Oder?"
Katia nickte.
Nero stand auf.
„Gut."
Ohne ein weiteres Wort ging er wieder ins Gebäude.
Katia hoffte, er würde sich noch einmal umdrehen zu ihr und ihr "Tschüss" sagen oder so etwas.
Aber Nero drehte sich nicht um.
Er ging hoch und würdigte sie keines Blickes.
-
Auf dem Nach Hause Weg dachte Katia über seine Worte nach. Seine Frage.
„Katia, vertraust du mir?"
Warum war ihm das wichtig?
Und viel wichtiger: warum fragte Katia sich das?
Denn was sie ebenfalls beschäftigte: war es von einem Schüler unangebracht. einen Lehrer zu verbessern, wenn es eigentlich gut gemeint war?
War das unhöflich, wenn man das tat? Oder kam es auf die Situation an, die Lage, die Art, wie man etwas sagte?
Fakt war, dass Nero Englisch lernen wollte.
Denn sonst hätte er sie doch nicht angesprochen.
Ihn hatte es interessiert, was die Unterschiede waren zwischen ähnlich klingenden Wörtern.
Katia kam ein Lächeln ins Gesicht.
Nero schien ihr zu vertrauen.
Katia bog in eine Seitenstraße ein, kramte ihren Schlüssel aus der Jackentasche und schloss ihre Wohnungstür auf.
Wie schwer es sein musste, ein Ballettlehrer zu sein in einem völlig fremden Land. Nero brachte ihnen nicht nur Tanzen bei. Er erzog sie. Alle Schüler hier waren schon lange volljährig, eigentlich war das damit abgeschlossen. Doch er war eine Autoritätsperson. Inwiefern hing das zusammen?
Katia hatte keine Ahnung von Pädagogik.
Nicht jeder war von Neros Lehrmethoden begeistert. Aber es war Ballett und nicht die Wohlfahrt. Und Nero wollte ihnen helfen, später in der Branche Fuß zu fassen.
Choreografen waren streng. Sie verlangten einen gewissen Respekt.
Es war spät und Katia taten die Zehen weh.
Ihre Spitzenschuhe waren neu und noch nicht eingetanzt. Sie musste jetzt erst einmal ihre Nägel verarzten. Und dann, dann würde sie schlafen gehen. Sie war hundemüde und morgen war ein neuer Tag.
Ein neuer Tag voller Anstrengung, Schweiß, Blut aber auch voll Leidenschaft, Erfüllung und Freude.
Außerdem würde sie Nero wiedersehen.
Mit diesem Gedanken würde sie diese Nacht lächelnd einschlafen.
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