„Bist du auch schon so aufgeregt? Ich meine, wir bekommen heute unsere ersten Bewertungen. Was wird Svetlana wohl über mich sagen? Es ist eine Ehre, mit einer so großartigen Lehrerin zusammenarbeiten zu dürfen."

Eliana, die Klassenbeste, schwärmte schon den ganzen Morgen von diesem Tag, den normalerweise jeder gefürchtet hatte.Sie waren alle dabei, sich aufzuwärmen und die Mädchen banden sich die Spitzenschuhe zu.Es hatten sich zwei Grüppchen gebildet. Hannah und Mary, die beiden Freundinnen, hatten sich zu Eliana und Ariane gesellt. Katia saß bei Allie, Peter und der stillen Lotta. Katia fühlte sich viel wohler bei Allie, Peter und Lotta. Hannah und Mary waren ihr zu laut und zu albern. Sie waren wie richtige klischeehafte Mädchen. Redeten viel über Jungs, Klamotten, ausgelassene Partyabende mit viel Alkohol. Das war alles für Katia völlig unverständlich. Sollte nicht ihr Fokus auf der Schule liegen? Auf ihrem großen Traum? Die Lehrer predigten es immer wieder: kein Alkohol, keine Drogen, keine Zigaretten, keine langen Nächte. Am besten alles vermeiden, was ablenken könnte.Trotzdem waren Mary und Hannah relativ gut im Ballett. Eliana und Ariane waren ähnlich wie Hannah und Mary, nur viel furchteinflössender für die unsichere Katia. Eliana und Ariane wichen sie alle aus, wenn sie durch die Gänge stolzierten. Sie waren Svetlanas Prima Ballerinas. Jede Stunde waren sie DIE Beispiele. Jeder an dieser Schule wollte mit den beiden befreundet sein. Alle, außer Allie. Allie nahm kein Blatt vor den Mund. Allie arbeitete hart, gut, war aber auch knallhart und ehrlich. Was Allie am wenigsten leiden konnte, das war Arroganz. Und sie war bis jetzt die einzige auf der Schule, die sich traute, den beiden Prima Ballerinas die kalte Schulter zu zeigen. Und den Lehrern. Wenn ein Lehrer auf nicht angemessene Lehrmethoden zurückgriff, war Allie die erste, die sich dagegen wehrte. Nicht selten flog sie dafür auch aus den Klassen und musste zur Schulleitung gehen. Auf den Gängen munkelte man bereits, dass es nicht mehr lange dauern würde, dass man Allie von der Schule verwies. Denn es war absolut unverschämt, als Balletteleve einem Lehrer zu widersprechen.Die Lehrer hier waren nicht nur Autoritätspersonen, manchmal waren sie wie Götter. Was sie sagten, war Gesetz. Und alle hatten dem Folge zu leisten. Sonst gab es mächtigen Ärger.Wie Nero wohl über Allie dachte? Katia mochte Allie, auch wenn sie vielleicht nicht alles gut hieß, was Allie tat. Aber Allie war ehrlich, mutig, authentisch. Und sie war nie gemein gewesen zu Katia. Im Gegenteil, sie hatte Katia sogar schon geholfen.Lotta war auch ein nettes Mädchen, fand Katia. Lotta war nur sehr schüchtern, immer eher unscheinbar und ging in der Gruppe fast ein bisschen unter. Svetlana hatte die schüchterne Lotta besonders auf dem Kieker, wenn sie nicht gerade Katia piesackte. Lotta rannte ziemlich oft weinend aus dem Unterricht und sie tat Katia wirklich leid.Peter, der einzige Junge, war für Katia eine Art Fels in der Brandung. Er war vollkommen vorurteilsfrei, ruhig, besonnen, machte seine Arbeit gewissenhaft, redete mit jedem, war respektvoll und einfach eine Art großer Bruder. Wenn Peter anwesend war, dann hatte Katia immer das Gefühl, dass sich die Mädchen ein wenig zusammenrissen. Er war der beste Freund von Allie. Die beiden waren immer zusammen. Jeder auf der Schule hielt sie für ein Paar. Dann aber erfuhren sie, dass Peter schwul war. Damit waren alle Karten auf dem Tisch. Katia liebte Allie, Peter und Lotta. 

„Guten Morgen, Klasse!"

Die schrille Stimme von Svetlana ertönte durch den Raum. Durch ihre Brillengläser musterte sie jeden ihrer Balletteleven genauestens. Bei Katia blieb sie haften. Ihre Blicke fühlten sich wie Messerstiche in Katias Brust an. Katia konnte nicht atmen, wenn Svetlana sie so ansah. Doch dann hallte eine allbekannte Stimme in ihrem Kopf wieder.

„Leck sie, Katia!"

Während Svetlana einem nach den anderen rausholte, arbeiteten die Schüler selbstständig an der Stange.Mit jedem Namen, der aufgerufen wurde, klopfte Katias Puls immer schneller und lauter bis zum Hals. Bis ihr Name fiel, da dachte sie, ihr Herz hätte einen Aussetzer.Mit langsamen Schritten ging sie in den Flur zu ihrer Lehrerin und schloss die Tür. Die Musik des Pianisten war nur noch dumpf durch die Wände zu hören.

„Setz dich."

Katia setzte sich ihrer Lehrerin gegenüber. Ein weiteres Mal fiel Katia auf, wie perfekt Svetlana einfach war. Sie war so schlank, hatte tolle Körperformen und einen langen Hals. Sie war sicher einst eine grandiose Tänzerin gewesen. 

„Also, Bauernmädchen", begann sie mit ihrem russischen Akzent. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo ich bei dir Anfangen soll. Ein ganz großes Problem ist dein Körper, du bist steif, in den Bewegungen zu hart und du bist viel zu dick. Deine Oberschenkel und deine Oberarme sind viel zu kräftig, viel zu viel Muskulatur."

„Meine Eltern haben einen Hof, ich helfe dort aus, wenn ich zuhause bin. Die Eimer sind schwer, ich muss viel tragen und..."

„Du bist hier aber auf einer Ballettschule und nicht auf dem Bauernhof, Katia."

Das war das erste Mal, dass Svetlana Katias richtigen Namen sagte, oder? Katia wurde warm und kalt ums Herz. Svetlanas Augen suchten weiter ihre Liste ab.

„Also Abnehmen ist eine Aufgabe, dann dein Gesicht...", Svetlana rümpfte deutlich die Nase, als würde sie einen üblen Geruch einatmen. „Versteh mich nicht falsch, du bist vielleicht ein schönes Mädchen. Aber wenn ich dich ansehe, Mädchen, will ich wegsehen. Dein Gesicht ist nicht schön genug für das klassische Ballett. Ehrlich gesagt, alles an dir ist nicht wirklich das, was wir suchen. Aber du arbeitest hart und das sehe ich. Ich wünschte, die anderen hätten deine Disziplin. Ich weiß trotzdem nicht, wie ich dir helfen kann..."

Svetlana schlug ihr Buch zu. Katia fühlte wieder diesen durchbohrenden Blick.

„Du nimmst immer noch bei Nero Privatunterricht, oder?"

Katia nickte zögerlich.Sie hörte ein dumpfes Raunen.

„Wenn du deine Prüfung schaffen willst, Liebes, solltest du keinen Unterricht bei ihm nehmen. Hörst du? Stattdessen kann ich dir welchen anbieten, wenn du willst. Es ist deine Entscheidung."

Svetlana bot...Katia Privatunterricht an?

„Aber....ich....soll ich ihm das etwa so sagen?"

„Ja, sag ihm das ruhig so", sagte Svetlana völlig kalt und trocken.

„Ich habe alles gesagt, geh bitte wieder rein. Und dann schick mir Lotta rein."

Katia ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie stürmte förmlich in die Klasse, wo gerade an den doppelten Pirouetten gearbeitet wurde. Später in der Pause war ihr erster Griff zu ihrem Smartphone. Nero. Er wollte die Bewertung wissen, was Svetlana ihr gegeben hatte, damit er wusste, woran sie arbeiten mussten. Als Katia ihr Handy anschaltete, war der erste Name, der ihr entgegen ploppte, folgender: Nero

Nero hatte ihr eine Nachricht geschrieben.

"Wir müssen die menschlichen Werte reflektieren, wenn wir tanzen. Ehrlichkeit, Mut, Freundlichkeit. Die Wahrheit ist die Schönheit.Ich denke, vielleicht bist du oft viel zu hart zu dir selbst, und das spiegelt sich in deinen Bewegungen wieder.Vielleicht bist du bereits gut genug!Vielleicht warst du schon immer gut genug!"