21
An diesem Tag haben die beiden ausnahmsweise einmal gleichzeitig Schluss, weil heute der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien ist. Sonst würde Astraia an diesem Tag immer zur Fotografie- AG gehen, aber die fällt vor den Ferien aus. Astraia hatte Yeshua allerdings nicht mehr gesehen, weshalb sie schon nach Hause laufen will, als Yeshua ihr etwas hinterherruft.
„Astraia. Warte doch Mal"
„Hast du keinen Kurs mehr?", fragt sie.
„Nein, der fällt heute aus. Es ist doch der letzte Tag. Deine AG fällt doch auch aus", sagt er und schlendert nun neben ihr her. Sie freut sich. Sie hatte einmal nebenbei erwähnt, dass sie zu dieser AG geht und er hatte es sich gemerkt.
„Ich muss mit dir reden"
„Ich muss aber eigentlich zu meiner Mutter. Sie rastest aus, wenn ich zu spät komme", erklärt sie ihm.
„Ich kann dich mit meiner Maschine fahren, wenn du vorher mit mir redest"
„Hier an der Schule?", fragt sie. Er schüttelt wild den Kopf. Niemals würde er ihr das Ganze hier an der Schule erklären, wo jeder die beiden sehen und hören kann. Niemals würde er ihr das alles erzählen, wenn es jemals jemand aus der Schule erfahren würde. Niemand sollte seine Vergangenheit kennen.
„Nein. Ich würde uns an einen Ort bringen, der eine Bedeutung für mich hat"
„Okay, aber danach fährst du mich sofort zum Markt"
„Ja, versprochen", erwidert er und startet sein Motorrad. Er reicht Astraia einen Helm und die beiden steigen auf die Maschine. Nach ungefähr zehn Minuten sind sie an einem Ort angekommen, denn Astraia zuvor noch nie gesehen hatte. Die beiden steigen von dem Motorrad ab.
„Yesh, ist es das, was ich denke?", fragt sie mit einem Mal unsicher.
„Ja", antwortet er tonlos. Er nimmt sie an der Hand.
„Nur hier kann ich es dir erklären", sagt er und zieht sie weiter. Die beiden sind an einem Friedhof angekommen, über den sie nun laufen.
„Also...", versucht er zu beginnen, doch sie merkt, dass es ihm sehr schwer fällt, darüber zu reden.
„Du musst es mir nicht erzählen", erklärt sie ihm.
„Ich möchte aber, dass du mich vielleicht ein bisschen mehr verstehst"
„Du hast mich doch gefragt, ob ich Geschwister habe, oder?", fragt er sie mit einem Mal. Die beiden bleiben vor einem Grabstein stehen.
„Ja. Du hast mit Nein geantwortet"
„Das war eine Lüge. Ich hatte eine kleine Schwester. Sie war alles für mich. So wie Luz alles für dich ist. Wir waren jeden Winter Eislaufen, bis-"
„Bis sie letztes Jahr verstorben ist", beendet Astraia den Satz. Es ist eine einfache Schlussfolgerung.
„Es tut mir so wahnsinnig Leid", sagt sie und die beiden umarmen sich lange. Sie bemerkt, dass Yeshua leise weint. Sie hält ihn in ihrer Umarmung.
„Wie hat sie geheißen?", fragt sie vorsichtig. Sie ist sich nicht sicher, ob er gerne an die Zeiten erinnert wird, in der seine kleine Schwester noch auf der Erde war.
„Skadi", erwidert er.
„Wow. Das ist ein wunderschöner Name", antwortet Astraia. Eine Weile ist es still zwischen den beiden, bis Astraia wieder das Wort ergreift.
„Ist das ihr Grabstein?", fragt sie und er nickt leise. Er nimmt die Kerze, die am Grab steht und zündet sie an.
„Kannst du mich einen Augenblick alleine lassen?", fragt er sie.
„Selbstverständlich", erwidert sie und macht einen Spaziergang über den Friedhof. Astraia ist gerne auf dem Friedhof, auch wenn hier viele geliebte Menschen liegen. Sie mag die Stille und die Natur auf Friedhöfen. Sie liebt die Atmosphäre und hat das Gefühl, denjenigen näher zu sein, auch wenn sie sie nicht gekannt hat. Auch wenn sie noch nie auf diesem Friedhof war, kannte sie andere. Dieser hier scheint noch schöner zu sein, als den Friedhof, den sie kannte.
Doch nun muss sie erst einmal über die gesamte Situation nachdenken. Yeshua hatte seine Schwester vor knapp einem Jahr verloren. Seine kleine Schwester. Er hatte nicht erwähnt, wie sie gestorben ist und Astraia ist sich auch nicht sicher, ob er jemals wieder mit ihr darüber reden wird. Nach einer halben Stunde kommt sie zurück und sieht von weitem, dass er immer noch vor dem Grab von Skadi sitzt und weint. Er scheint den Tod seiner Schwester noch immer nicht verkraftet zu haben. Vielleicht war er deshalb auch sauer, dass sie wegen ihrer kleinen Schwester nicht aufgetaucht ist, weil er dies nicht mehr konnte. Nach weiteren fünf Minuten kommt sie vorsichtig hinter dem Baum hervor, hinter dem sie nun noch gewartet hat und umarmt ihn noch einmal vorsichtig.
„Es ist okay", sagt sie und schließt ihn in eine innige Umarmung.
„Wollen wir noch ein paar Blumen kaufen?", fragt Astraia nach einer Weile. Sie denkt sich, dass es ihr bestimmt helfen würde, Blumen zu kaufen und sie an das Grab ihrer Geliebten zu stellen. Sie hatte zum Glück noch nie Erfahrungen mit dem Tod eines geliebten Menschen machen müssen. Yeshua nickt langsam und ist den ganzen restlichen Tag über von einer tiefen Trauer getrübt. Die beiden haben vergessen, dass sie heute zur Mathenachhilfe verabredet waren und deshalb musste Astraia nicht zu ihrer Mutter auf dem Markt. Sie haben kein einziges Matheblatt angefasst. Sie bemerkt erst, dass die beiden Mathe machen sollten, als ihre Mutter ihr schreibt. Die beiden sind immer noch auf dem Friedhof und stellen nun die rosa Rosen an das Grab seiner Schwester.
(21.12, 13:40) Mama: Wie läuft das Mathe lernen mit Yeshua?
Ihre Mutter hatte sich seinen Namen gemerkt. Sie antwortet nicht. Sie würde ihr später antworten und schreiben, dass es gut liefe. Das würde das Ganze glaubwürdiger machen.
„Kann ich dich noch etwas fragen, Yesh?", fragt Astraia vorsichtig.
„Was denn?", fragt er, immer noch mit Tränen in den Augen.
„Bist du deshalb abgehauen?", fragt sie.
„Ja. Es ging nicht. Ich dachte, ich bin schon so weit. Skadi und ich waren jedes Jahr gemeinsam Eislaufen. Ich dachte, ich kann es. Aber ich war noch nicht bereit", erwidert er.
„Es ist okay", sagt sie lächelnd.
„Wollen wir zurück fahren?", fragt sie.
„Auf den Markt?", fragt er, immer noch benebelt.
„Nein. Meine Mutter denkt, wir machen Mathe"
„Oh mein Gott. Tut mir Leid. Wir fahren nach Hause und machen Mathe", erwidert er und will schon schneller werden, als sie ihn am Ärmel festhält.
„Ich glaube, in deinem Zustand können wir kein Mathe machen. Und ich habe auch nichts dagegen", grinst sie ihn an und versucht ihm so ein Lächeln zu entlocken.
„Ich glaube, unsere angebliche Mathestunde ist auch gleich zu Ende. Würdest du mich dann trotzdem mit zum Markt nehmen?", fragt sie.
„Ich weiß nicht, ob es eine beschissene oder gute Idee ist, aber ich muss gleich eine Stunde mit Luz verbringen. Vielleicht magst du mitkommen. Wenn es dich nicht zu sehr an deine Schwester erinnert."
„Ich denke, die beiden wären die besten Freundinnen gewesen", lächelt Yeshua. Die beiden setzen sich auf das Motorrad und fahren zusammen zurück. Die beiden kommen am Weihnachtsmarkt an und dieses Mal kann sie Yesh sogar ihrer Mutter vorstellen.
„Darf ich vorstellen?", fragt sie ihre Mutter. Diese gibt Yeshua die Hand.
„Ist alles okay?", fragt sie ihn. Er überspielt die ganze letzte Stunde einfach, in dem er ihr lachend antwortet.
„Ja, Sie hatten Recht. Ihre Tochter kann kein Mathe", lacht er. Astraia ist erstaunt über sein Schauspielerisches Talent. Selbst sie hätte ihm dies abgenommen, obwohl sie wusste, was sie in den letzten Stunden wirklich gemacht hatten.
„Wo hat sich denn meine kleine Luz versteckt?", fragt Astraia nun fröhlich, weil Luz sich hinter dem Tresen vor den beiden versteckt.
„Okay. Luz, ich glaube dein Lieblingsfreund ist hier und möchte etwas Zeit mit dir verbringen", grinst Astraia sie an. Luz sieht Yeshua und ist schon total Feuer und Flamme.
„Yesh", ruft sie und springt ihm in die Arme. Nun hält er Luz im Arm, die ihn umarmt.
„Ich hab dich vermisst", sagt sie ehrlich.
„Ich hab dich auch vermisst", antwortet er lächelnd. Luz erinnert ihn tatsächlich total an seine eigene kleine Schwester, was in gewisser Weise schön ist. Die drei spazieren über den Weihnachtsmarkt.
„Yesh?", fragt Luz nach einer Weile.
„Ja?", fragt er.
„Kaufst du mir so einen Muffin?", fragt sie dreist.
„Was für einen?", fragt Yesh sie und hebt sie hoch, damit sie auf den Tresen schauen kann.
„Den da", sagt sie und zeigt auf einen Muffin mit einem Weihnachtsmann drauf. Astraia steht rechts von ihm und flüstert ihm ins Ohr, dass er dies nicht tun muss.
„Ich würde aber gerne", grinst er und sucht sich selbst auch einen Muffin aus.
„Welchen möchtest du?", fragt Astraia.
„Keinen"
„Sicher?", fragt Yesh. Sie nickt. Sie wollte ihn nicht ausnutzen.
Astraia wendet sich ab. Aus irgendeinem Grund ist es ihr peinlich. Sie wartet außerhalb des Standes. Die beiden kommen zurück. Luz ist inzwischen wieder von Yeshuas Arm herunter gekommen und hat zwei Muffins in der Hand.
„Ich konnte nicht. Sie wollte unbedingt auch einen für dich haben", sagt er lächelnd zu ihr. Luz drückt ihr einen Muffin in die Hand, der als ein Rentier verkleidet ist.
„Danke", bedanken sich die beiden Schwestern bei ihm.
„Das habe ich gerne getan", erwidert er.
„Also, wenn wir heute Mal richtig die Sau rauslassen wollen, dann müssten wir eigentlich noch schokoladenüberzogene Erdbeeren essen, Punsch trinken und mit dem großen Riesenrad fahren", sagt Yeshua nach einer Weile. Luz hat das Riesenrad auch schon entdeckt.
„Ich will damit fahren, Yesh!", ruft sie ihm zu.
„Schau. Die Kleine hat einen guten Geschmack", sagt er und die drei stellen sich am Riesenrad an. Astraia kann nicht für sich selbst und Luz bezahlen, weil sie ihr restliches Geld schon für den Kakao der beiden neulich ausgegeben hatte.
„Ich will nicht, dass du das alles für uns bezahlst", flüstert sie leise, sodass er es kaum verstehen kann, als er die Kosten schon wieder übernimmt.
„Aber ich möchte euch gerne einladen. Das macht mir eine Freude"
„Mir ist es aber unangenehm", gibt sie zu.
„Warum das denn?", fragt er. Inzwischen sind die Drei vorne in der Schlage angekommen und steigen in das Rad ein. Yeshua und Astraia sitzen auf der einen Seite und reden leise miteinander. Luz sitzt auf der anderen Seite und starrt gespannt nach draußen.
„Ich war hier noch nie!", freut sie sich. Nicht Astraia würde dieses Weihnachten zu dem Besten Weihnachten machen, sondern Yeshua.
„Ich habe auch ein Geheimnis", beschließt sie ihm zu verraten.
„Was denn?"
„Wir sind nicht gerade reich."
„Um ehrlich zu sein, haben wir überhaupt kein Geld. Mein letztes Geld habe ich für einen Kakao für Luz und mich ausgegeben. Ich bin völlig pleite"
„Aber das kann doch jedem Mal passieren"
„Yeshua. Du versteht das nicht. Das ist bei uns der Normalzustand"
„Meinst du, wir machen das hier alles zum Spaß? Den ganzen Weihnachtsstress?", fragt sie.
„Ich dachte, alle hier machen es zum Spaß, außer mir"
„Aber du scheinst doch Geld zu haben"
„Ja, aber auch nur aus einem Grund. Ich lebe alleine. Ich bin ganz alleine. Ich brauche nur mich selbst zu versorgen. Ich lebe in einer Jugendbetreuungsgruppe.", versucht er ihr zu erklären.
„Und deine Eltern?", fragt er vorsichtig.
„Hast du dir den Grabstein richtig angesehen?", fragt er. Anscheinend hatte sie es nicht ausreichend getan.
„Dort liegt meine ganze Familie. Meine Mutter ist bei Skadis Geburt gestorben. Mein Vater hat Suizid begangen, nachdem Skadi gestorben ist"
„Oh, Scheiße, tut mir Leid. Das wusste ich nicht"
„Das kannst du laut sagen", sagt er und die beiden schweigen eine Weile.
Er beschließt, ihr nun seine ganze Geschichte zu erzählen. Dann wüsste sie alles und es würden keine Missverständnisse mehr entstehen.
„Kannst du dich an die beiden erinnern, die die Puppe von Luz kaputt gemacht haben?", fragt er.
„Ja, warum?", fragt Astraia. „Das waren voll die Arschlöcher"
„Leider waren das eine Zeit meine Freunde", antwortet er. „Bis Zlatan mich da raus geholt hat"
„Wieso?", fragt sie aufmerksam.
„Ich bin nach dem Tod meiner Schwester und meines Vaters abgestürzt.", beichtet er.
„Jeder hat ein eigenes Päckchen zu tragen", erwidert er. Die beiden fahren noch eine Runde, die sie schweigend verbringen. Unten, als die drei aus der Gondel herauskommen bricht Luz das Schweigen.
„Du kennst die Geschichte anderer Menschen nicht", erwidert Astraia.
„Was?", fragt Yesh.
„Das hat Zlatan zu mir gesagt"
„Das meinte er damit" , erklärt sie sich selbst leise.
„Das war toll", sagt sie und umarmt Yesh. Ihm läuft eine Träne über das Gesicht, die er schnell wegwischt, bevor sie jemand sehen kann. Astraia hat es trotzdem gesehen und nimmt vorsichtig seine Hand. Nun laufen die beiden Händchen haltend über den Markt und schauen sich die Stände mit Luz gemeinsam an.
„Ich habe einfach Angst, wenn du Mal nicht mehr da sein solltest, dass Luz dann traurig ist, weil du ihr so viele schöne Sachen ermöglichst, die ich ihr niemals ermöglichen kann", bricht Astraia die Stille nach einer Weile.
„Vielleicht muss ich dir auch etwas beichten", fügt sie noch hinzu.
„Was denn?", fragt er.
„Ich hatte damals einen Freund, meinen ersten richtigen Freund. Ich war so verliebt, dass ich nicht gesehen habe, wie er mich eigentlich ausnutzt. Obwohl ich bis heute nicht verstehe, wie er dies geschafft hat.", beginnt sie.
„Du musst es mir nicht erzählen, wenn du damit nicht klarkommst", erwidert er.
„Ich möchte aber. Es ist nur fair, wenn ich dir meine Geschichte ebenfalls erzähle"
„Okay", sagt Yesh.
„Also, ich war total verliebt ihn diesen Jungen. Er hat mich zuerst aber überhaupt nicht beachtet. Null. Bis ich eines Tages seine Aufmerksamkeit hatte und alles für ihn getan hätte – was er auch zu Genüge ausgenutzt hat. Ich hätte fast Lumi und Sirius verloren. Er hat mich total manipuliert. Die haben mir am Ende die Augen geöffnet, als es allerdings schon zu spät war. Ich stand alleine da, hatte eine Menge Schulden und er war weg"
„Und Luz mochte ihn auch so gerne, wie du?", fragt er.
„Auch sie hat er so manipuliert"
„Scheiße"
„Ich will Luz nie wieder so etwas antun"
„Ich werde niemals gehen", sagt er und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Versprichst du es?", fragt Astraia unsicher.
„Versprochen", erwidert er.
„Ich meine, wir haben bis jetzt schon so viel überstanden, dann werden wir den Rest nun auch noch gemeinsam schaffen", erwidert er lächelnd.
„Danke", bedankt sie sich nach einer Weile.
„Wofür?", fragt Yesh.
„Dafür, dass du dieses Weihnachten zu einem ganz besonderen machst"
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