Niklas
Niklas erwachte wieder einmal aus einem wunderschönen Traum.
Er hatte wieder einmal Marie in seinen Armen gehalten.
Oft und oft hatte er in den letzten Monaten davon geträumt, immer wieder dieselbe Szene, er lag im Bett, sie war eng an ihn geschmiegt, er atmete ihren Duft ein, eine Haarsträhne kitzelte ihn.
Dieses Glücksgefühl, das er da spürte, war das der ersten Nacht.
Sonst brachte ihn der Verlust immer fast um, wenn er erwachte.
Wenn er merkte, dass er alleine war!
Aber heute war irgendetwas anders.
Heute war er erfüllt von Zuversicht, von mehr als nur Hoffnung.
Heute war er erfüllt von tiefem Glauben, dass alles gut werden würde!
Endlich gut werden würde.
Er sprang aus dem Bett, ging unter die Dusche, cremte sich ein, grinste dabei, rasierte sich vorsichtig, wählte einen besonders teuren Duft als Eau de Toilette, grinste wieder, schlüpfte in seine neueste Jeans und sein knappstes Shirt, alles natürlich vollkommen ohne Hintergedanken!
Er sah auf die Uhr.
Halb elf! Von nun an lief der Shutdown!
Jede Sekunde konnte er von Marie hören, seiner süßen, unbeschreiblichen Marie, der Liebe seines Lebens.
Er zwang sich, ruhig zu bleiben, nicht so auszuticken wie gestern.
Wenn sie kam oder anrief, durfte er kein Nervenbündel sein!
Er wollte auch keine Eier mit Schinken braten, wollte nicht nach Küche riechen.
Er kontrollierte sein Handy, hörte die Mailbox ab, obwohl sie nicht blinkte, rief die Textnachrichten auf, obwohl keine neue gemeldet war.
Er prüfte den Akkustand.
Natürlich hatte er alle Balken, schließlich war das Telefon die ganze Nacht auf der Ladestation gewesen.
Er trank eine Tasse Kaffee, putzte sich die Zähne.
Er aß ein Schinkenbrot und putzte sich die Zähne.
Er trank ein Glas Orangensaft und putzte sich die Zähne, gurgelte mit Mundwasser.
Er nahm seine Gitarre, fing an zu spielen.
Er hatte mittlerweile ein umfangreiches Repertoire, sang alle Texte leise zu den Melodien, schickte ihr seine Worte und Töne.
Sie musste fühlen, dass er an sie dachte!
Dann würde sie sich in ihr Auto setzen und zu ihm kommen.
Wenn er nur intensiv genug an sie dachte, würde sie nicht anders können, als ihn anzurufen!
Sie bräuchte gar nicht viel zu sagen oder zu erklären! Nur die drei Worte: „Ich liebe dich!"
Dann wäre seine Welt wieder ganz, dann würde er wieder leben können!
Charly hörte im Gästezimmer die wunderbare Musik und seine flehende, schöne Stimme.
Das Herz drehte sich wieder einmal in ihr um.
Sie wusste nicht, was sie mit ihm machen sollte, wenn Marie sich nicht meldete!
Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
Sie wusste genau, dass es ohne ihre Dummheit damals nicht zu der Katastrophe gekommen wäre.
Aber mit 16 hielt man sich eben für unverwundbar!
Sie wollte das taffe Mädchen sein, das keine Angst hatte, alleine nach Hause zu gehen!
Sie wollte auch ihrem angebeteten Bruder sein Geschmuse nicht kaputt machen.
Außerdem hatte sie wohl auch ein wenig zu viel getrunken, was sie sehr mutig gemacht hatte!
Paul hatte damals dafür bezahlen müssen, Niklas musste es heute.
Schließlich stand sie auf, machte sich bemerkbar.
„Schön!" sagte sie nur.
„Danke!" antwortete er genau so einsilbig.
„Kaffee?" fragte sie.
„Hatte ich schon!"
„Frühstück?"
„Nein, danke! Mach dir ruhig was!" Er begann wieder, seine Runden zu drehen.
Er schwitzte, er sollte nochmal duschen.
Er fror, kontrollierte die Heizung.
Sie lief auf Höchsttouren.
Ihm war schlecht, er würde sich übergeben!
Er hatte Heißhunger, würde noch ein Brot essen.
Dann musste er sich aber gleich nochmal die Zähen putzen!
Hatte er zu viel Aftershave erwischt?
Sollte er sich doch glatt rasieren, oder mochte sie den Bartschatten?
Er musste auf die Toilette!
Kondome!
Hatte er genug Gummis?
Er raste ins Schlafzimmer.
Ja, die müssten reichen!
Waren sie schon abgelaufen?
Nein, alles im grünen Bereich! Ein Blick auf die Uhr: Elf!
Marie! Bitte! flehte er.
Ein Vater unser?
Schadete sicher nicht!
Ein Avemaria?
Besser zehn!
Die Minuten schlichen dahin, die Stunden dehnten sich.
Es wurde Zwölf, Eins, Zwei, Drei, Vier!
Er war ein einziges Nervenbündel, Charly ging es nicht viel besser.
Warum meldete sie sich denn nicht?
Um halb fünf schlug die Glocke an.
Sein Herz blieb stehen, raste los.
Doch es war nicht sie, es war Hans.
Er hielt ein schmales Päckchen in der Hand, das er ihm entgegenstreckte.
Niklas erkannte das Geschenkpapier und erstarrte.
Sie hatte es nicht gelesen!
Hans brachte es ihm zurück!
Doch warum grinste der andere so?
Weil er froh war, dass Marie nichts mehr von ihm wissen wollte?
Er streckte wie in Trance die Hand aus, merkte, dass das Päckchen schmaler war als seines gewesen war, merkte, dass das Papier zerrissen gewesen war und mit Klebestreifen geflickt war.
„Ihr seid wohl eine Art von Seelenverwandten!" sagte Hans nur und ging wieder.
Mit einem Griff zerfetzte Niklas die Verpackung, hielt eine Kladde in Händen, die nicht seine war. Noch in der offenen Wohnungstüre las er einen Brief, der an dem Buch klebte.
Liebster Niklas!
Er sank in die Hocke, ließ die Tränen laufen. Wieder einmal!
Endlich habe ich die Erklärung bekommen, auf die ich neun Monate lang gewartet habe. Sie ist umfangreicher ausgefallen, als ich gehofft hatte. Sie verdient eine ebenso umfangreiche Antwort, die ich dir mit dieser Kladde gebe.
Du wirst sie sicher lesen, aber ich muss dich warnen. Sie enthält eine Überraschung, mit der du sicher nicht gerechnet hast. Ebenso wenig wie ich allerdings! Wenn du fertig gelesen hast, wirst du auch wissen, wo du mich findest.
Nur eines im Voraus, damit du nicht so lange im Ungewissen bleiben musst: Ich liebe dich!
Marie, die noch nie glücklicher war als heute, weil sie endlich verstehen kann!
Charly kam vorsichtig an, um nach ihm zu sehen.
Wortlos hielt er ihr den Brief hin, das Buch hatte er an sich gepresst, als hätte er Panik, jemand wollte ihm seinen größten Schatz entreißen.
Sie las die Zeilen, die Marie, die Liebe im Leben ihres Bruders, aufgeschrieben hatte, und sie mochte das Mädchen noch mehr als bisher schon, wenn auch nur aus der Ferne.
Was das wohl für eine Überraschung war?
„Soll ich dich alleine lassen? Soll ich fahren?" fragte sie vorsichtshalber.
Er stemmte sich hoch, grinste sie an.
Was immer in diesem Buch stand, war egal!
Sie liebte ihn!
Noch immer!
Seine Marie hatte alles gelesen, kannte die ganze Wahrheit.
Kannte sein Traurigkeit, hatte von seinen Tränen, seiner Sehnsucht, seiner inneren Zerrissenheit erfahren.
Und danach hatte sie geschrieben: Ich liebe dich!
„Nein! Bleib bitte! Jetzt musst du auch das süße Ende erfahren!" erklärte er, und Charly wusste, noch nie hatte er glücklicher gestrahlt.
Er zog sich in sein Schlafzimmer zurück, warf sich auf das Bett, das ihn nun nicht mehr traurig machte, sondern ihm die zweitschönste Erinnerung seines Lebens schenkte.
Die Erinnerung an die Nacht, als er es geschafft hatte, ein Versprechen zu halten, als er eine wunderbare Frau nur in den Armen gehalten hatte – auch wenn er höllische Qualen gelitten hatte!
Kurz war er versucht, hinten anzufangen. Aber das hatte sie nicht verdient. Neun Monate lang hatte sie für ihn geschrieben, er musste diesen Weg von Anfang bis zum Ende mit ihr gehen.
Er schlug die erste Seite auf, las ihre Schimpfworte, von denen er jedes einzelne verdient hatte, lächelte über ihre Ironie, die er ebenso verdient hatte.
Schmunzelte ein wenig stolz auf sich als Mann darüber, dass es ihr wohl gefallen hatte, was er ihr hatte zeigen wollen.
Dann tauchte Mister X auf und dann dieser verdammte Benni, der natürlich seine Chance sah. Das Herz zog sich in ihm zusammen.
Aber sie hatte beide abblitzen lassen.
Er las, wie sie gelitten hatte, auch körperlich.
Litt nachträglich mit ihr.
Aber das hatte sich dann wohl gegeben, da in der Kirche hatte sie sehr gut ausgesehen.
Sie war bei einer Untersuchung gewesen.
Gott sei Dank hatte Sophie sie dort hingebracht!
Und er war schuld an ihren Magenproblemen! Er hätte ihr das nie antun dürfen! Niemals!
Tränen stiegen in ihm hoch.
Doch was stand da?
Schwanger?
Sie war schwanger?
Von ihm?
Das konnte doch nicht sein!
Mit den Gummis war alles in Ordnung, keiner war geplatzt oder gerissen!
Das hätte er gemerkt!
Wenn es in der Vergangenheit mal passiert war, hatte er die Mädels immer überreden können, die Pille danach zu nehmen.
Er hatte auch bezahlt dafür!
War sie schon schwanger gewesen?
Hatte sie ihn angelogen?
War das die angekündigte Überraschung?
Mit hochrotem Kopf las er weiter.
Sie war sich sicher, hat nicht eine Sekunde gezweifelt!
Aber sie will das Kind nicht!
O Gott! Nein!
Doch!
Sie will es behalten!
Sie war schwanger?
Neun Monate waren vergangen!
War er Vater geworden?
Würde er Vater werden, bald?
Sie war beim Frauenarzt, es gab eine Erklärung!
Das eine Mal, als er zwischen ihren Schenkeln kommen durfte, ein für ihn wahnsinniges Erlebnis, da war es passiert!
Er hätte das wissen müssen!
Fuck!
Nein, er konnte gar nichts Schlimmes daran finden!
Wie im Taumel las er weiter.
Es ging ihr gut!
Ein Kind!
Die Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, er hatte keine Ahnung, ob er geatmet hatte, seit er diese Worte gelesen hatte.
Ein Kind!
Aber er musste sich jetzt darauf konzentrieren, was sie geschrieben hatte.
Oh! Sie beschimpfte ihn aber ordentlich, fast musste er lachen darüber!
Sah sie beinahe vor sich, wie ihre riesigen Augen nicht mehr blau, sondern dunkel vor Zorn waren!
Doch dann freute sie sich!
Sie hatte ein Kind gewollt, es hatte nicht geklappt mit Benni!
Aber seine Jungs waren flott unterwegs gewesen!
Sein Herz platzte beinahe.
Das Herzchen hatte geschlagen, und wo war er an diesem Tag gewesen?
Hatte sich irgendeinen Freundschaftsmist eingeredet!
Er ertappte sich dabei, dass er diese so wichtigen Seiten ein paar Mal las, ganz so, als könnte sein Gehirn das ganze Ausmaß nicht fassen.
Charly klopfte vorsichtig, stellte einen Teller mit Broten, eine Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit Kaffee auf den Nachttisch.
Er nickte nur kurz mit dem Kopf.
Er lachte über ihre Story von einer Katrin, an die er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, war glücklich, dass sie nicht mehr so sehr böse war auf ihn.
Doch dann traf ihn der Schock vollkommen unvermittelt!
Benni!
Benni wollte wieder zurückkommen!
Benni wollte sein Kind aufziehen!
Und sie hatte zugstimmt!
Nein, Marie!
Alles, nur das nicht!
Sein Magen zog sich zusammen, er raste auf die Toilette, gab alles, was er in sich gehabt hatte, wieder von sich.
Danach schleppte er sich in sein Bett zurück, wusste nicht, ob er die Kraft haben würde, weiter zu lesen.
Doch es musste sein!
Der Drecksack schlief im Arbeitszimmer!
Erleichtert atmete er auf.
Aber sie bereute diesen blöden Entschluss bald!
Wirf ihn hinaus, Baby!
Ganz schnell! dachte er. Ich verstehe ja, dass du einsam bist, verletzt, dass du jemanden brauchst, aber bitte nicht Benni!
Dann las er von dem Tag, als er auf dem Parkplatz ihrer Schule auf sie gewartet hatte.
Sie waren so nah gewesen und hatten sich doch nicht getroffen!
Verdammtes Schicksal!
Doch was war das?
Sie hatte mit diesem Arschloch Möbel gekauft?
Für sein Kind?
Aber es kam noch schlimmer!
Er hatte sie angefasst, hatte sie bedrängt!
Doch sein Mädchen hatte sich gewehrt!
Der Dreckskerl war weg!
Sie hat die Scheidung in Angriff genommen!
Wunderbar!
Doch dann?
Was war das?
Sie wollte mit ihm sprechen, doch er kam mit eine schönen Frau im Arm die Straße entlang?
Davon wüsste er aber!
Doch blitzartig verstand er: Charly! Sie hatte ihn mit seiner Schwester gesehen!
Noch einmal: Verdammtes Schicksal!
Sie hätte es ihm gesagt!
Vor Monaten!
Oh!
Jetzt war sie aber ordentlich sauer!
Verständlich!
Ein bisschen zumindest!
Jetzt redete sie nicht mehr mit ihm, nur noch mit der Kladde!
Sie war dabei, ihn zu vergessen?
Never, Baby!
Das kannst du dir abschminken!
Dann hättest du nicht geschrieben: Ich liebe dich!
Er trank einen Schluck Kaffee, aß ein Brot, sein Magen hatte sich beruhigt.
Er hatte eine Menge aus ihrem Leben erfahren.
Über ihre Eltern, die Schule, wusste nun auch, warum sie sich beurlauben hatte lassen.
Er war stolz auf sie, so wie sie es sich gewünscht hatte.
Ein gut geplantes Lehrerkind!
Das war ulkig!
Ungeplanter als dieses Kind war wohl kaum eines je gewesen!
Aber diese Tochter - seine Tochter! - würde das am meisten geliebte Kind der Welt sein, das wusste er!
Sie nannte sie Nicola!
Nach ihm!
Von wegen, du vergisst mich, Süße!
Wieder waren wir uns so nahe gewesen, da an der Kirche! dachte er.
Das kleine Bäuchlein, das er bemerkt hatte, war in Wirklichkeit schon sein Kind gewesen, das in ihr wuchs!
Er schluckte wieder schwer.
Sein Kind!
Seine Tochter!
Seine Nicola!
Nein!
Sie war auf Korsika gewesen!
Zur gleichen Zeit wie er.
Und wieder hatte sie Charly und ihn zusammen gesehen!
Mein Gott, Mädchen!
Warum war denn das Schicksal gar so gegen uns?
Habe ich mich also nicht getäuscht!
Das war Sophie gewesen, da in dieser Boutique! dachte er.
Aber was musste sie sich wieder für Sorgen machen!
Was für schlimme Gedanken sind durch dieses hübsche Köpfchen gegeistert!
Für was für einen Typen hat sie mich gehalten!
Wieder flossen die Tränen. Wie hätte sie denn über mich denken sollen?
Zwei Nächte – und weg war ich!
Ohne ein Wort!
Wie hätte ich denn umgekehrt reagiert?
Was hätte ich von ihr gehalten?
Aber dieser Harald schien ein guter Typ zu sein!
Dankeschön für deine unterstützenden Worte, mein Schwager in spe.
Dann kam der Tag, an dem sie an seiner Schule war.
Er fühlte noch immer die Verzweiflung, als er da am Straßenrand saß.
Aber sie hatte genauso gelitten!
Er begriff immer mehr, warum sie handeln musste, wie sie gehandelt hatte.
Sie hatte es ihm nicht so nebenbei erzählen können, dass sie ein Kind von ihm erwartete.
Sie wusste ja nicht, wie sehr er sie noch immer liebte.
Dann der Besuch bei Paul im Krankenhaus!
Tüchtiges, mutiges Mädchen!
Er war diesem Schritt aus dem Weg gegangen, sie hatte ihn getan!
Und weil das Schicksal eben noch ein paar Überraschungen drauf hatte, kam sie genau an jenem Tag wieder zu ihm, als Charly zu Besuch war.
Und natürlich hatte er nicht geöffnet, sondern Charly hatte zum Fenster hinuntergesehen!
Er schüttelte den Kopf. Die Platte mit Broten hatte er abgeräumt, die Thermoskanne war leer.
Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er gegessen oder getrunken hatte.
Er musste auf die Toilette, konnte sich aber nicht losreißen von den Worten seiner Süßen.
Es waren nur noch wenige Seiten.
Die Geburt!
O mein Gott! Und er war nicht bei ihr gewesen!
Hätte ihm nicht einfach jemand Bescheid geben können?
Sie hätten ihn doch gefunden!
Wenn sie gewollt hätten!
24 Stunden hatte sie gelitten!
Er schluchzte in sein Kissen, konnte nicht mehr aufhören zu weinen, wieder einmal.
Er hatte alles falsch gemacht, hatte sie alleine gelassen!
Und sie hatte geschrieben: Ich liebe dich!
Wie konnte sie ihn lieben?
Aber seine Tochter war gesund, alles war gut, sie hatte es überstanden, sein wunderbares Mädchen!
Er blätterte noch einmal um, fand ein eingeklebtes Bild. Eine strahlend schöne Marie hielt ein wunderschönes Baby im Arm, das ihn anzulächeln schien!
Er zerfloss vor Liebe.
Darunter stand: „Hallo Papa! Ich bin Nicola! Wird Zeit, dass du dich her bewegst! Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Gynäkologie, Zimmer 2013!"
Er musste lachen.
Sehr viel romantischer war seine Süße auch nicht beim Texten!
Er sah auf die Uhr, gerade sechs!
Er stand auf, taumelte zu Charly, weckte sie sehr unsanft.
Sie war sofort wach, sah ihn aufmerksam an, er hatte total verschwollene Augen, die aber leuchteten.
Er hielt ihr das Buch hin, sie sah das Foto.
„Meine Tochter!" brachte er gerade noch heraus, bevor er zu schluchzen, zu heulen, zu weinen anfing wie noch nie zuvor.
Es schüttelte ihn nur so, er bekam einen Schluckauf, trank aus ihrem Glas, verschluckte sich, hustete, schluchzte weiter, lachte, lachte, lachte, ließ sich auf ihr Bett fallen.
„Ich bin Vater!" schrie er. „Ich habe eine Tochter!"
Charly lachte mit ihm, freute sich mit ihm, hielt ihn in den Armen, den großen, hübschen Bruder, der über Nacht Vater einer kleinen Nicola geworden war.
Und die Kleine war wirklich ein ausnehmend hübsches Baby, sie war schockverliebt in ihre kleine Nichte.
Verleugnen konnte er sie sowieso nicht, sie sah aus wie er als Baby! Sie waren sich sehr ähnlich gewesen, aber er war immer der Hübschere gewesen!
„Und was machst du dann noch hier?" fragte sie lächelnd.
„Meinst du, ich kann gleich hin?" fragte er unsicher.
„Also, ich denke, du solltest jetzt wieder der selbstbewusste Kerl werden, der du gewesen bist.
Eine Frau liebt dich seit neun Monaten, du hast eine Tochter, die beiden haben einen Mann verdient!"
Ein Ruck ging durch seinen Körper.
Charly hatte recht.
Er hatte eine Frau und ein Kind.
Die beiden brauchten einen ganzen Kerl, keinen verheulten Typen, der wie ein geprügelter Hund durchs Leben schlich, den ganzen Tag traurige Lieder spielte und sang, der vor lauter Liebeskummer vergessen hatte zu leben.
Eine Frau und ein Kind!
Er raste in sein Schlafzimmer, öffnete die Schublade seines Nachttisches, holte eine kleine Schatulle heraus. Darin lag der Verlobungsring seiner Oma. Sie hatte ihn ihm auf dem Sterbebett in die Hand gedrückt und geflüstert: „Für deine Frau!"
Es war ein ungewöhnlich modernes Schmuckstück im Art-Deko-Stil, aus Platin mit einem kleinen viereckigen Diamanten. Es sollte kein Verlobungsring sein, nur ein Zeichen, das sagte: „Du gehörst zu mir - und ich danke dir dafür!"
Daneben lag ein kleines goldenes Kettchen mit einem Schutzengel, das ihm sein Patenonkel zur Taufe geschenkt hatte. „Gott schütze dich!" war eingraviert.
Dann durchzog er das Männerpflegprogramm noch einmal äußerst sorgfältig, schlüpfte in die Jeans, die er damals getragen hatte, als sie mit dem Auto vor ihm weggerast war. Ein weißes Hemd und die Lederjacke vervollständigten sein Outfit.
Er würde jetzt zu Marie fahren, und Gott möge dem gnädig sein, der sich ihm in den Weg stellte. Vor allem die Hexe von Hebamme würde er zusammenfalten auf DinA 3!
Er verabschiedete sich von Charly. „Danke!" sagte er nur und wusste, dass mehr nicht nötig war.
Marie
Marie lag entspannt im Bett, hatte ihre süße Tochter gestillt und gewickelt.
Sie war schon sehr geschickt.
Sie hatte gefrühstückt, Patrick hatte sie angestrahlt, sie hatte zurückgestrahlt, sein Tag war strahlend schön geworden.
Sie wusste, Niklas würde kommen.
Heute oder morgen!
Vielleicht musste er sich an den Gedanken, Vater zu sein, erst gewöhnen.
Vielleicht schluckte er schwer an der Verantwortung, die sie ihm aufgebürdet hatte.
Doch irgendwie glaubte sie nicht daran.
Er hatte sehr liebevoll von Nico, Leon und Emma geschrieben, war ein Vollblutpädagoge, er würde seine eigene Tochter nicht ablehnen.
Die Hebamme kam zur Untersuchung, hatte wieder dieses zynische Grinsen im Gesicht.
Was die bloß für ein Problem mit mir hat? fragte sie sich wieder. Ich frage sie einfach!
„Warum sind Sie eigentlich so ekelhaft zu mir? Ich werde nicht die einzige Frau sein, die ihr Kind alleine bekommt! Warum mögen Sie mich so gar nicht?"
Die andere sah sie noch missmutiger an. „Das kann ich dir schon sagen, Püppchen! Du hast mit deinem schönen Lärvchen bestimmt einen verheirateten Mann angebaggert, hast gedacht, mit einem Kind kriegst du ihn rum, seine Familie zu verlassen, und wenn nicht, kannst du ihn kräftig abzocken!"
Als sie begonnen hatte, war von beiden unbemerkt die Zimmertüre aufgegangen, Niklas stand im Rahmen, hörte fassungslos die Worte der Frau, die für das Wohlergehen seines Mädchens zuständig war!
Stattdessen beleidigte sie sie aufs Schlimmste!
Das konnte er nicht durchgehen lassen.
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