Niklas
Als Hans gegangen war, tigerte Niklas in der Wohnung auf und ab.
Er hatte schnell noch die letzten Ereignisse aufgeschrieben, das Buch hübsch eingepackt.
Er hatte es für sie geschrieben, es waren seine Worte von ihm für Marie. Wenn sie es lesen würde, würde sie verstehen.
Mehr als seine innersten Gedanken konnte er ihr nicht bieten!
Wenn sie nicht ausreichten, hatte er sie verloren.
Das Buch war gnadenlos ehrlich, denn Ehrlichkeit war das Mindeste, was sie nach den neun Monaten verdient hatte.
Wenn sie es las, wie lange würde sie dafür brauchen?
Einen Tag, zwei?
Wenn es sie nicht wirklich interessierte, wohl auch länger.
Egal!
Er musste warten!
Wieder einmal!
Aber sie würde sich melden!
Und wenn nicht, war das eben auch eine Antwort.
Er hatte noch einen Brief dazu geschrieben, der sie dazu bringen sollte, das Buch wenigstens aufzuschlagen.
Er hoffte, er hatte auf die Schnelle die richtigen Worte gefunden.
Aber es waren Worte aus seinem Herzen, so falsch würden sie nicht sein.
Er räumte seine Einkäufe in den Kühlschrank, hoffte, dass sie zu ihm kommen würde, bevor alles abgelaufen war.
Dann lachte er über sich selbst!
Er würde natürlich alles frisch kaufen!
Als er zwanzig Kilometer durch die Zimmer gelaufen war, rief er Charly an.
Doch die war mitten in einer Probe.
Kai hatte gerade eine schwierige Montage zu machen, seine Eltern gingen nicht ans Telefon.
Vor lauter Frust rief er einen Kollegen an, besprach mit ihm den Wochenplan für die Woche nach den Ferien.
Der war zwar nicht sehr begeistert, ließ sich aber darauf ein.
Niklas hatte manchmal eine etwas bestimmende Art, gegen die man nicht gut ankam. Aber er war eben der Superstar an der Schule, würde sicher einmal Schulrat werden, man sollte es sich also besser nicht mit ihm verderben.
Nach all den Aktivitäten war gerade mal eine Stunde vergangen.
Niklas packte seine Sporttasche, wollte ins Fitnesscenter.
Er hängte zur Sicherheit ein Post-it neben seinen Klingelknopf.
Ich bin im Fitness-Center, ruf mich bitte an, Marie! schrieb er darauf und kam sich nicht im mindesten komisch vor.
Im Club powerte er sich bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit aus, genoss es, wie die Erschöpfung hochstieg, wie die Gedanken aufhörten, in seinem Gehirn zu kreisen.
Zuhause hörte er schon im Treppenhaus das Telefon läuten, kurz darauf meldete sich sein Handy.
Charly!
Wie ein Wasserfall sprudelten die Wort au ihm heraus. „Du musst kommen! Du musst mich davor bewahren, durchzudrehen!" schloss er.
Sie wechselte ein paar Worte mit Kai, bekam scheinbar sein Okay.
Er würde die beiden wieder einmal eine Woche in Urlaub schicken, auf die Kinder aufpassen! nahm er sich vor.
„Ich bin in eineinhalb Stunden da!" versprach sie.
„Fahr vorsichtig! In zwei bin ich auch noch nicht komplett durchgedreht!" bat er.
Marie
Marie war ziemlich geschafft, konnte aber nicht schlafen, weil sie immer ihre wunderschöne Tochter anhimmeln musste.
Die Kleine trank schön brav, dann kam eine Kinderschwester, um sie zu wickeln und zu baden, und Marie konnte vor Verlustschmerz kaum atmen.
Das wird ja was werden! dachte sie. Hoffentlich verwöhne ich sie nicht zu sehr!
Aber Sophie und Harald hatten ihr versprochen, sie schon immer wieder zu erden.
Andererseits waren die beiden genauso verknallt in die Kleine wie Marie oder ihre Eltern.
Die Schwester brachte Nicola zurück, die Hebamme kam, um Marie zu untersuchen.
„Der Vater hat sich noch nicht blicken lassen?" fragte sie spitzer, als notwendig gewesen wäre.
Marie hasste die alte, verbitterte Kuh, die auch mit schuld daran war, dass sie so lange hatte leiden müssen.
„Das kriegen wir schon hin, Püppchen!" hatte sie immer wieder gesagt, und Marie hatte trotz ihrer Qualen das Süffisante herausgehört.
„Er ist auf Geschäftsreise in den Staaten!" log sie.
„Da ist er aber schon lange!" bekam sie als Antwort.
Klar! Sie war ja immer alleine bei den Vorbereitungskursen gewesen!
„Er muss viel arbeiten!" versuchte sie eine neue Lüge.
Doch die Hebamme hob nur die Augenbrauen.
Kurz darauf kam Hans mit einem riesigen Blumenstrauß und ein paar Päckchen, die er auf dem Tisch ablegte, der schon ziemlich überfüllt war.
Die Blumen steckte er in eine Vase, die er im Schrank fand.
Entzückt stand er vor dem Babybettchen. „Sie sieht aber ihrem Vater schon sehr ähnlich!" sagte er, ohne sich etwas zu denken dabei.
Doch Maries Antennen stellten sich sofort auf. „Kennst du Niklas denn?" Den Ball hatte sie ganz vergessen, das war ja alles schon lange her.
Hans sah sie und grinste. „Hey! Der Typ hat mir die Schönste der Schönen weggeschnappt!" scherzte er. „Den vergesse ich in meinem Leben nicht!"
„Oh! Oh! Lass das nur Laura nicht hören!" gab sie zurück.
Lachend schüttelte Hans den Kopf, wurde dann aber plötzlich sehr ernst.
„Ich habe ihn heute zufällig getroffen!" gestand er. „Er ist ziemlich fertig!"
Sie schoss hoch. „Du hast ihm doch nichts erzählt?"
„Nein! Bleib cool, Baby! Da mische ich mich nicht ein!" Leider! dachte er. „Aber er hat mir etwas für dich mitgegeben!"
Er gab ihr das Päckchen. „Mach erst auf, wenn du alleine bist!"
Kurz darauf verabschiedete er sich, merkte, dass Marie in ihren Gedanken ganz woanders war. Wo, konnte er sich schon vorstellen.
Er war gespannt, ob er je erfahren würde, was bei den beiden schiefgelaufen war.
Als Hans gegangen war, riss Marie wie im Fieber das schöne Geschenkpapier in Fetzen. Ein einzelnes Blatt fiel heraus, sie saugte die Worte blitzschnell auf.
Liebste Marie!
Ich habe in diesem Buch alle meine Gedanken an dich aufgeschrieben, neun lange Monate. Als ich damit begonnen habe, habe ich gehofft, es würden nur ein paar Seiten werden. Doch die Ereignisse überschlugen sich, spitzten sich zu.
Du hältst meine Wünsche, meine Träume und meine Hoffnungen in deiner Hand, und vor allem meine Sehnsucht nach dir, die immer stärker geworden ist, je mehr Zeit verging.
Marie, meine Süße! Ich habe dich immer geliebt, jeden langen Tag ohne dich mehr!
Gib mir eine Chance und lies, vielleicht kannst du mir dann verzeihen! Ein etwas seltsam aufgelegtes Schicksal hat mir heute Hans geschickt, aber es hat wohl einiges gut zu machen bei uns. Er hat mir nicht verraten, wo du steckst, dafür wird er schon einen Grund haben. Ich hoffe aber, es geht dir gut.
Melde dich bitte bei mir, wenn du fertig gelesen hast. Ruf mich an oder komm vorbei, Tag oder Nacht, es ist egal, denn ab heute warte ich jede Sekunde jeden Tages auf dich. Und wenn du fertig mit mir sein solltest, sag mir auch das ehrlich, damit ich lernen kann, damit zu leben.
Niklas 0190 28 29 39 808.
Bitte!
Dann schlug sie das Buch auf, wunderte sich nur kurz, dass sie beide eine ähnliche Idee gehabt hatten, dass sie beide das Bedürfnis gehabt hatten, ihre Gedanken aufzuschreiben.
Sie las die ersten Seiten und bekam nun endlich die Antwort, auf die sie so lange gewartet hatte. Fast neun Monate lang!
Paul!
Hatte sie richtig vermutet gehabt.
Paul, in den sie verknallt zu sein glaubte, ein ganzes Jahr lang!
Sie hatte seine Nähe gesucht, wo immer es möglich gewesen war. Er war fröhlich gewesen, hatte mit ihr gelacht, hatte sie ernst genommen!
War ganz anders als Benni gewesen!
Sie hatte sich ein Leben an seiner Seite zurechtgeträumt, hatte auf ein Zeichen von ihm gehofft, hatte sich so sehr gewünscht, dass er sie mögen würde.
Oder mehr als mögen!
Am letzten Abend dann war das Kollegium zum Essen gegangen, sie war mit ihm und zwei Kollegen noch in eine Bar gefahren.
Dort hatte er sich volllaufen lassen, hatte sie ziemlich gedemütigt mit harten Machosprüchen, und sie hatte sein wahres Gesicht gesehen.
Das des schwachen Mannes, der nie im Leben etwas wagen würde – auch nicht wegen ihr!
Sie war um fünf Uhr morgens zu ihrem Auto gegangen, war vor Angst beinahe gestorben. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört!
Und er behauptete jetzt, sie wäre die Liebe seines Lebens?
Sobald sie hier rauskam, würde sie ihn fertig machen!
Dann las sie weiter.
Sie brachten Nicola, legten sie an ihre Brust, sie nahm es kaum wahr.
Die Kleine wurde zappelig, forderte Aufmerksamkeit.
Marie musste lachen. „Süße! Der Papa hat ein Buch für mich geschrieben! Das muss ich doch lesen, oder?"
Sie strich über das kleine Köpfchen, küsste ihre Tochter zärtlich.
Dann vertiefte sie sich wieder in die Worte, die der hübscheste Mann, den sie je gesehen hatte, für sie geschrieben hatte.
Immer wieder musste sie lachen über seinen Stil oder den Kopf schütteln über all die Wirrungen.
Seine Schwester!
Die schöne Frau war seine Zwillingsschwester!
Deshalb war sie ihr auch so bekannt vorgekommen, in seinem Wohnzimmer hing ein großes Foto von den beiden!
Auf Korsika waren sie sich beinahe in die Arme gelaufen!
Da hätte schon alles gut werden können!
Harald hatte recht gehabt, hatte gespürt, dass das nicht alles Zufälle gewesen waren!
Sie las von Pauls Drohungen, seiner Bosheit, konnte nicht glauben, dass er all diese Dinge gesagt hatte.
Auf jeder Seite lernte sie Niklas besser kennen, diesen liebenswerten Mann, der seine Gefühle so aufs Papier bringen konnte.
Seine echten Gefühle, davon war sie überzeugt.
Sie heulte ein wenig, wenn sie von seiner Verzweiflung las, die ihrer so ähnlich gewesen war.
Die Nachtschwester löschte das Licht. „Sie müssen schlafen!" schalt sie.
Marie holte ihr Handy heraus, schaltete die Taschenlampenfunktion ein, las weiter.
Um sechs Uhr brachten sie ihr Nicola, da war sie gerade bei Pauls Unfall, also seinem Selbstmordversuch angekommen.
Während sie die Kleine stillte, erzählte sie ihr von den schönen Worten, die der Papa gefunden hatte, von seiner Liebe, seiner Traurigkeit.
Nicola trank hastig, als wollte sie ihre Mama schnell wieder zu ihrer Lektüre entlassen.
Doch die hielt die Tochter im Arm, während sie die letzten Seiten las, manche davon laut.
Ihre Tochter schien aufmerksam zuzuhören.
„Ich glaube, ich habe dir einen ganz guten Papa ausgesucht!" flüsterte Marie, während sie die Kleine abküsste. „Jetzt müssen wir nur mal sehen, wie er unsere Überraschung aufnimmt!"
Als der Praktikant ihr Frühstück brachte, nutzte sie zum ersten Mal aus, dass der immer ein wenig über seine Füße stolperte, wenn er sie ansah.
„Patrick? Könnten Sie bitte ein Foto von meiner Tochter und mir machen? Und es dann vielleicht ausdrucken? Und mir ein Blatt Papier, einen Stift und etwas Tesafilm bringen?"
Der Abiturient, der bis zum Beginn des Medizinstudiums hier jobbte, erfüllte jeden ihrer Wünsche strahlend. Die Schönheit mit den riesigen Augen und dem wunderhübschen Mund kannte seinen Namen!
Hatte ihn angesprochen!
Hatte ihn wahrgenommen!
Natürlich würde das nichts werden mit ihnen, aber er hatte ein wenig Stoff zum Träumen, zum Wünschen, zum Hoffen!
Marie klebte das Foto in ihre Kladde auf die Seite hinter ihrem letzten Eintrag, schrieb einen Brief, versuchte, dabei nicht zu heulen, packte das Buch in das zerrissene Papier, flickte es notdürftig.
Sie war zufrieden mit ihrem Werk, wenn es auch nicht so schön aussah wie das Päckchen von Niklas.
Von ihrem Niklas, der sie liebte!
Der sie seit neun Monaten liebte!
Der aber gedacht hatte, sie aus Loyalität einem Freund gegenüber verlassen zu müssen.
Es waren schlimme Zeiten gewesen, aber sie hatten sie auch zusammengeschweißt!
Ihre Liebe hatte überdauert.
Sie waren sich räumlich oft so nahe gewesen, aber ihre Herzen waren es die ganze Zeit!
Danach schlief sie entspannt ein.
Als Hans am Nachmittag mit Laura vorbeikam, nicht ganz uneigennützig, seine Freundin sollte das süße Baby ruhig sehen, drückte sie ihm ihr Geschenk für Niklas in die Hand.
„Kannst du das in seinen Briefkasten stecken?" bat sie. Er vermutete ganz richtig, dass beide ein ähnliches Geschenk füreinander haben würden.
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