Liebste Marie!
Was war das heute? Warum warst du an meiner Schule? Warum hast du nicht angehalten? Du hast mich doch gesehen, mich erkannt! Du hast gemerkt, dass ich hinter deinem Auto herrenne, dass ich wie ein Verrückter versucht habe, einen SLK einzuholen!
Ich habe so auf eine gnädige rote Ampel gehofft, aber ausgerechnet heute war grüne Welle!
Vollkommen atemlos sank ich auf den Bordstein; Autos hupten mich an, es war mir egal! Von mir aus sollten sie mich doch totfahren!
Marie ist vor mir geflüchtet wie vor dem Teufel!
Du hättest nur anhalten müssen, nur kurz, nur eine Sekunde! Eine Sekunde hätte gereicht, um dir zu sagen: „Ich liebe dich!"
Ich weiß nicht, wie lange ich da am Straßenrand gesessen bin.
Ich weiß auch nicht, wie ich in die Schule zurückgekommen bin und welchen Unterricht ich gehalten habe oder wie ich wieder nach Hause gekommen bin!
Ich habe nur immer deinen Blick auf mich gesehen und habe dann das Geräusch der durchdrehenden Reifen gehört, als du davongerast bist!
Was ist los, Mädchen?
Was passiert mit uns?
Was tun wir uns an?
Ich muss das beenden, irgendwie muss das ein Ende finden! Ich kann nicht mehr!
Langsam beruhigte sich mein Herzschlag wieder, langsam bekam ich wieder Luft.
Ja, ich werde es beenden!
Zuerst muss Paul aus meiner Wohnung, damit ich wieder klare Gedanken fassen konnte, wieder Zeit und Raum für mich hatte!
Dann werde ich mit dir sprechen, und zwar, ohne Paul zu informieren! Ich kann keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen.
Ich werde alle Konsequenzen tragen: Die Scham über das, was ich getan hatte, die Enttäuschung meiner Eltern, den Bruch mit meinem langjährigsten Freund.
Es war so weit, es ging nicht mehr!
Doch es kam anders, natürlich kam es anders, Marie!
Am Nachmittag läutete es an der Türe, ich schleppte mich zum Öffner. Zwei Polizisten standen draußen. „Herr Ebeling?" fragte der Ältere.
„Ja!" antwortete ich erschrocken.
„Können wir reinkommen? Es geht um Herrn Paul Weller!"
Ich erschrak bis ins Mark! Was war los? Ich hatte so schlecht von Paul gedacht, gerade eben noch!
„Herr Weller hatte einen schweren Unfall. In seinen Papieren werden Sie als Ansprechpartner in Notfällen genannt. Er liegt auf der Intensivstation der Barmherzigen Brüder. Sein Zustand ist ernst, aber im Moment nicht lebensbedrohlich!"
Der Jüngere räusperte sich, ich merkte, dass er noch nicht alles losgeworden war.
„Wir haben einen Brief gefunden, an Sie adressiert, ein Abschiedsbrief wahrscheinlich!" fuhr er fort.
Ich schnellte hoch! Der Idiot! Hatte er es wirklich gemacht! Ein weiterer Schock fuhr mir in die Glieder.
„War er alleine im Wagen? War sein Sohn bei ihm?" Ich hatte panische Angst vor der Antwort.
„Nein!" beruhigte mich der Ältere. „Er war alleine! Kein Kind!"
Ich wählte die Nummer meiner Mutter. „Ist Nico bei dir? Geht es ihm gut?" stieß ich hervor.
Sie war etwas verwundert. „Ja! Er schläft! Er war sehr aktiv heute!" versuchte sie zu scherzen.
„Ich rufe dich später an! Paul hatte einen Unfall! Vielleicht kannst du Nico erstmal ein paar Tage behalten! Ich muss erst mehr erfahren!" bat ich sie.
„Natürlich, mein Junge! Mach dir um uns keinen Kopf! Wir kommen zurecht!"
Ich beendete das Gespräch. „Den Brief? Haben Sie ihn da? Kann ich ...kann ich ...ihn sehen?" stammelte ich.
Die Beamten sahen sich an, der Ältere nickte und zog ein Blatt aus einer Hülle.
„Waren Sie, ich meine, sind Sie ein Paar?" fragte er.
Ich riss den Kopf hoch. „Wir? Paul und ich? Nein, wir waren nur Freunde seit mehr als 20 Jahren! Also wir sind Freunde!"
Dann las ich den Brief.
Lieber Niklas,
ich habe heute etwas Unverzeihliches gemacht! Ich habe in deiner Kladde gelesen, und mir ist klar geworden, dass ich auf Marie verzichten muss! Aber du weißt auch, dass es mir unmöglich sein wird, euch zu sehen, wenn ihr zusammen seid. Deshalb muss ich gehen! Für immer! Mach es gut, ich wünsche dir viel Glück! Kümmere dich bitte um Nico!
Paul
Ich sank vollkommen in mir zusammen. „Der Idiot! Der Volltrottel! Hat er es also wahrgemacht!" stieß ich hervor. Ich konnte im Moment nicht das geringste Mitleid mit ihm empfinden, fühlte nur grenzenlose Wut in mir!
Er war Vater! Er hatte einen Sohn, dessen Mutter Alkoholikerin war! Und ohne nachzudenken, hätte er dieses Kind alleine zurückgelassen! Aus einem Wahn heraus! Einem Wahn wegen eines Mädchens, das ihn schon lange vergessen hat!
Er hatte weder an seine Schwester noch an mich gedacht! Nur an sich selbst!
Die Polizisten standen etwas verunsichert herum. Ich erzählte ihnen eine Kurzfassung unserer Geschichte.
„Und er hatte angedroht, sich das Leben zu nehmen?" fragte der Jüngere nach.
„Seines und das seines Sohnes, ja! Deshalb hatte ich gerade solche Angst um den Kleinen! Aber er ist wohlbehalten bei meiner Mutter!" erklärte ich.
Der Ältere setzte sich auf einen Stuhl gegenüber, ich hatte nicht genug Konzentration übrig, um die Namensschilder zu lesen. „Herr Ebeling, Sie sollten sich keine Schuld geben. Herr Weller hat offensichtlich eine Persönlichkeitsstörung, die behandelt werden muss. Wenn er physisch wieder hergestellt ist, wird er wohl in eine psychiatrische Abteilung verlegt. Das geschieht bei selbstmordgefährdeten Personen in der Regel. Sie sollten sich eine Auszeit nehmen von dieser Freundschaft. Manche Menschen sind toxisch, sie vergiften das Leben derer, die sie lieben!"
Er hatte sehr eindringlich gesprochen, und der Sinn seiner Worte leuchtete mir ein. „Gibt es noch Angehörige, die wir verständigen können?"
Ich gab ihm die Nummern und Adressen von Elisabeth und seinem Vater.
Dann war ich wieder alleine.
Ich musste mit Charly sprechen, da kam ich alleine nicht raus. Sie hörte mir eine Stunde lang geduldig zu, am Widerhall merkte ich, dass sie auf Lautsprecher gestellt hatte, damit Kai mithören konnte. Er war es dann auch, der mir antwortete.
„Hallo Niklas! Ich muss dir jetzt was erzählen. Mein Bruder hat sich mit 22 vor einen Zug geworfen, weil er sich eingebildet hatte, dass seine Freundin ihn mit mir betrogen hatte. Sie hatte so Andeutungen gemacht, um ihn eifersüchtig zu machen. Sie war 16 und ein ziemlich dummes Ding. Ich war 20 und habe mir die schlimmsten Vorwürfe gemacht, habe die Schuld bei mir gesucht, bis ich fast in eine Tablettensucht abgerutscht bin. Charly hat mich dann zu einem Seelenklempner geschleppt, der mir wirklich sehr geholfen hat. Vielleicht solltest du das auch versuchen, auch wegen der alten Geschichte, unter der du noch immer leidest."
Ich schwieg eine Weile. „Ja, vielleicht hast du recht!" antwortete ich schließlich, und ich glaubte das auch. Ich brauche auch Hilfe, nicht nur Paul. Das Erlebnis, das ich als 16jähriger hatte, hatte mich wohl traumatisiert, hatte mich erpressbar auf Lebenszeit gemacht, hatte eigentlich mein Leben zerstört, weil ich dich, Marie, verloren habe.
„Ich rufe meinen Therapeuten an, frage ihn nach einem Kollegen in Regensburg. Ich texte dir dann den Namen und die Nummer, okay?"
Dankbar nahm ich das Angebot an.
Nun, Marie, bin ich also so weit, dass ich einen Therapeuten brauche!
Dabei bräuchte ich eigentlich nur dich! Aber es kann schon sein, dass ich nicht glücklich werden kann, solange ich diese Schuld nicht verarbeitet habe.
Ich liebe dich Marie, und ich bräuchte dich so dringend in meinem Leben!
Jetzt muss ich schlafen, mir fallen die Augen zu!
Ein zutiefst verstörter, trauriger, wütender Niklas.
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Hallo, Kladde!
Die halbe Nacht habe ich mich im Bett herumgewälzt, habe wieder einmal ein Kissen durchgeheult. Ich habe einfach das Bild nicht aus meinem Kopf gebracht, wie Niklas meinem Auto nachgelaufen ist.
Warum zum Donnerwetter bin ich denn nicht stehen geblieben?
Warum habe ich in diesem Augenblick denn nicht kapiert, dass er mit mir reden wollte!
Dass er nicht so getan hätte, als würde er mich nicht kennen!
Aber so sollte er es doch nicht erfahren, so nicht!
Am Straßenrand, kurz vor dem Unterricht!
Was hatte mich überhaupt geritten, an seiner Schule vorbeizufahren?
Ich habe so lange geheult, bis Nicola sich beschwert hat und mich zur Strafe ordentlich geboxt hat.
Mein Gott! Ich muss mich um mein Kind kümmern! Sorgen! Muss auf sie Rücksicht nehmen!
Sie kommt ja ganz wirsch auf die Welt, mit der verrückten Mutter. Sophie hat mich dann noch immer im Bett gefunden, ein paar Stunden hatte ich geschlafen.
Ich erzählte ihr von gestern, sie schüttelte den Kopf!
„Mädchen! Was soll ich denn mit euch zwei machen? Ihr müsst
euch mal aussprechen! Wahrscheinlich sitzt er in seiner Wohnung und grübelt, du liegst hier und heulst! Wie soll sich denn da irgendetwas ändern?"
„Aber jetzt, wo ich so aussehe, will ich ihn auch nicht sehen!" erklärte ich schniefend.
„Wie siehst du denn aus? Schwanger siehst du aus und wunderhübsch! Was redest du dir denn da schon wieder ein?" Sie klang leicht entnervt.
Schon begann ich wieder zu heulen. Ich hatte es so satt!
Ich hatte es so satt, an Niklas zu denken, mich nach Niklas zu sehnen, mich immer und immer wieder zu fragen: „Warum ist er weggegangen?"
„Warum ist er nicht zurückgekommen?"
Ich hatte es satt, schwanger zu sein, ich hatte es satt, so unbeweglich zu sein, ich hatte es satt, alles so satt zu haben!
So eine miese Stimmung hatte ich nicht einmal, als Bennis Ehebruch aufgeflogen war!
So eine Stimmung hatte ich noch nie!
Und ich hatte es satt, so eine Stimmung zu haben!
Das alles knallte ich Sophie schluchzend hin. Sie hielt mich in den Armen, ließ sich vollheulen, strich mir übers Haar!
Langsam beruhigte ich mich wieder.
„Er hat so gut ausgesehen!" sagte ich leise. „Ich will ihn zurück!"
Ich dachte nach, was ich gesagt hatte. „Zurück! Ja, das ist gut! Ich habe ihn ja nie gehabt!" verbesserte ich mich.
„Bist du dir da so sicher?" fragte sie.
Ich wollte ihre Frage verneinen, wusste aber nicht, was richtig war.
Hatte ich ihn gehabt?
Hatte er mir gehört, wenigstens für kurze Zeit?
War sein Herz beteiligt gewesen, als seine Hände mich so zärtlich gestreichelt hatten, als er mich eine Nacht lang in den Armen gehalten hatte, als sein Körper mich geliebt hatte, immer wieder?
Als wir Nicola gemacht haben, hatte er in diesem Augenblick mir gehört?
Und ich wusste die Antwort genau! Ja! In dieser Nacht hatte er mir gehört, ganz und gar! Als ich ihn zwischen meinen Schenkel gepresst hielt, als er so perfekt an mir rieb, als er „Süße Marie! Du bist der Wahnsinn!" in mein Ohr flüsterte, war da keine Lüge, keine Falschheit, keine Berechnung zwischen uns gestanden!
Niemals!
Wie hatte ich das denn je glauben können?
Es war ein Selbstschutz gewesen, ich hatte mir das einreden müssen, um überleben, um verstehen zu können.
„Irgendwie hat sein Stimmungsumschwung mit Paul zu tun!" erklärte ich viel ruhiger Sophie. „Ich muss zuerst mit ihm sprechen!"
Er war an der Grundschule in Burglengenfeld, war nach unserem gemeinsamen Jahr näher an die Heimat versetzt worden. Da würde ich jetzt hinfahren!
„Schaffst du das alleine?" fragte Sophie.
„Ja!" Ich spürte so viel Kraft in mir.
Ich duschte, zog mich an und machte mich auf den Weg. Im Sekretariat stellte ich mich als Kollegin vor, erklärte, Herrn Weller besuchen zu wollen. Die Sekretärin sah mich neugierig an. Hoffentlich bringt sie die offensichtliche Schwangerschaft nicht in Verbindung zu Paul.
„Herr Weller hatte gestern einen schweren Autounfall! Er liegt bei den Barmherzigen Brüdern in Regensburg!" erklärte sie schließlich.
Ohne mich zu bedanken und ohne Abschiedsgruß raste ich zu meinem Auto zurück und bretterte zurück in die Stadt. Im Krankenhaus erfuhr ich, dass Paul auf der Intensivstation lag, heute aber aus dem Koma aufgewacht war, dass ich ein paar Minuten zu ihm konnte.
Ich muss gestehen, Paul war mir herzlich egal, aber ich erhoffte mir eine Antwort von ihm.
Ich klopfte an der Türe vom Stationszimmer, stellte mich vor.
„Marie? Sie sind Marie?" fragte die Schwester und musterte meinen Leibesfülle.
„Ja! Warum?" fragte ich leicht verunsichert.
„Er hat während des Komas immer wieder ihren Namen geflüstert!" antwortete sie. „Ist das Kind von ihm?"
„Nein! Nein! Sicher nicht!" Ich verstand gar nichts mehr. Ich hatte den Kerl vor vier Jahren zum letzten Mal gesehen, und er flüsterte meinen Namen im Tiefschlaf, und die Schwester vermutete, dass ich von ihm schwanger war? Was lief hier ab?
Paul öffnete die Augen, als ich neben sein Bett trat. Ein Strahlen überzog sein Gesicht. „Marie!" flüsterte er heiser. Und griff nach meiner Hand. Dann sah er meinen Babybauch, und das Lächeln verschwand.
„Ist das von ihm? Von Niklas?" Ich glaubte, Hass in seiner Stimme zu hören.
„Ja!" antwortete ich verständnislos. Was wusste er von Niklas?
„Hau ab, du Hure!" stieß er hervor.
Wut stieg in mir hoch. „Was wird hier gespielt? Was ist mit Niklas? Was geht hier vor?" fauchte ich. Ich war der Erklärung so nah, das fühlte ich.
„Du warst meine Göttin! Der Inhalt meines Lebens! Aber du hast dich von ihm ficken lassen, wie alle Weiber! Und auch noch schwängern! Und er hat mir ins Gesicht gelogen! Verschwinde!" Seine Worte ergaben für mich nicht den geringsten Sinn.
Doch an den Geräten, an die er angeschlossen war, piepste es laut los. Eine Schwester kam, bat mich zu gehen.
Wie in Trance kam ich zu Hause an. Paul und Niklas hatten eine Verbindung!
Paul sah mich als Inhalt seines Lebens! Nach vier Jahren! Ich begriff noch weniger als zuvor!
Ich musste wohl oder übel mit Niklas sprechen! Aber nicht an der Schule, zwischen Tür und Angel.
Ich wollte auch nicht anrufen und abgewimmelt oder weggedrückt werden. Ich würde zu ihm fahren! Ich brauchte nun endlich eine Erklärung! Ich brauchte nun endlich die Wahrheit!
Eine zu allem entschlossene Marie!
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