o9. Nah beieinander
Harry saß Louis gegenüber, als die Gruppe am gleichen Abend in ein kleines, italienisches Restaurant in der Stadt ging, um sich vor dem Ende des Seminars in zwei Tagen noch einmal austauschen zu können.
Da es draußen regnete, mussten sie mit einem Platz im Inneren vorliebnehmen – aber das war in England ohnehin nicht sonderlich ungewöhnlich. Das Wetter konnte sich immerhin stündlich ändern – und wer wurde schon gern von einem Regenschauer überrascht, während er seine Pizza aß?
Die Wände des Restaurants waren in hellen Brauntönen gehalten und an den Wänden befanden sich viele Dekoelemente, die allesamt aus Holz gefertigt waren.
Bunte Schiffe, Fische, Möwen, die Sonne, zwei Fischer und sogar ein echtes Netz.
Das Lokal war gut gefüllt und Harry hatte sich bereits seit Stunden auf diesen Moment gefreut.
Er hatte wirklich Hunger.
Zu Beginn erhob Louis sich und prostete mit seinem Weinglas in die Runde. „Ich würde mit Ihnen gerne auf die gelungene Fortbildung anstoßen."
Harry, der sich an diesem Abend für ein Glas Wasser entschieden hatte, stieß mit den etwa zwanzig weiteren Kursteilnehmern und Louis an.
Niall neben ihm hatte sich ebenfalls geschworen, heute nur alkoholfreie Getränke zu bestellen. Er trank generell nicht viel Alkohol, eigentlich fast überhaupt nicht.
„Das ist eine wirklich ausgezeichnete Fortbildung", lobte Nick, ein Lehrer mittleren Alters aus Nordirland und grinste, ehe er einen Schluck aus seinem Glas nahm. „Wahrscheinlich die beste, die ich je besucht habe."
Wieder schlich sich ein zurückhaltendes Lächeln auf Louis' Lippen. „Danke."
Niall stieß Harry unsanft in die Seite. „Jetzt sag schon was", zischte er, während eine andere Kursteilnehmerin ebenfalls ihre Meinung über das Seminar abgab. Im Endeffekt wiederholte sie lediglich Nick's Worte.
Harry verdrehte die Augen. „Auf gar keinen Fall."
„Warum denn nicht?", flüsterte Niall. „Mach ihm doch ein Kompliment. Das wird ihn freuen."
Harry presste die Lippen zusammen. „Halt die Klappe."
Ein tiefes Seufzen drängte sich aus Niall's Brust. „Du bist echt mies im Flirten."
Der junge Lehrer spürte, wie Wut in ihm aufstieg.
Die Leute sahen sie schon an, weil sie tuschelten wie zwei Schulmädchen.
„...wirklich eine wunderbare Art, den Schülern die klassische Literatur näher zu bringen", schloss eine ältere Lehrerin ihre Rückmeldung, ehe Louis die beiden Männer, die ihm gegenübersaßen, angrinste.
„Wollen Sie auch etwas beitragen?", fragte er mit amüsierter, doch fester Stimme.
Harry konnte spüren, wie ihm das Herz in die Hose rutschte.
Das würde Niall zurückbekommen.
„Naja, die...", stammelte er, „Die Fortbildung war tatsächlich sehr interessant. Ich mag die Art, wie Sie Zitate verwenden, um das eigentliche Anliegen hinter der Frage greifbar zu machen."
Louis lächelte.
Er hatte nicht mit einer ernsthaften Antwort gerechnet, hatte Harry's Gesicht in seiner Diskussion mit Niall doch so finster ausgesehen.
Jetzt allerdings konnte er es spüren.
Die leichte Röte, die ihm ins Gesicht stieg und der Schwarm Schmetterlinge, der plötzlich in seinem Bauch herumwirbelte.
Er war stets bemüht, die Fassung zu bewahren und sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen.
Doch die Reaktionen seines Körpers konnte er nicht verstecken.
Als er sich wieder setzte, nahm er einen Schluck aus seinem Weinglas und schluckte das leichte Zittern in seiner Stimme hinunter.
Er beäugte Niall und Harry, wie sie sich unterhielten und beobachtete belustigt, wie sie sich gegenseitig neckten. „Ihr scheint euch wohl schon eine Weile zu kennen."
Niall zuckte die Schultern. „Ich kenne Harry seit dem Kindergarten", antwortete er. „Leider."
„Leider?", wiederholte Harry fassungslos und kniff seinem Freund unsanft in die Seite. „Vergiss du mal nicht, wer als Trauzeuge dem Brautstrauß hinterhergefahren ist, den du im Standesamt hast liegenlassen. In der Londoner Innenstad. Eine halbe Stunde vor der kirchlichen Trauung."
Niall räusperte sich empört. „Ich?", wiederholte er. „Der Brautstrauß ist ja wohl wirklich nicht meine Angelegenheit. Oder sehe ich etwa aus wie meine Frau?"
Louis war verwundert.
Er hätte erwartet, dass die beiden Männer sich aus dem Studium kannten.
Kindergartenfreundschaften erreichten in der heutigen Zeit leider selten das Erwachsenenalter und er hatte immer geglaubt, er sei der einzige Mensch in ganz London, der seit seiner Geburt nur seinen einzigen und besten Freund Liam hatte.
„Du bist verheiratet?", hakte Louis nach, als die beiden Freunde ihre Diskussion beendet hatten.
Niall nickte. „Ja", antwortete er. „Seit zwei Jahren. Harry war mein Trauzeuge."
Harry erinnerte sich an den chaotischsten Tag seines Lebens gerne zurück – auch wenn er Niall mehrmals hätte die Nase brechen können.
Der Brautstrauß war nämlich nur der Anfang gewesen.
„Es ist schön, einen Freund zu haben, auf den man sich verlassen kann", antwortete Louis. „Das ist viel wert."
„Ja, vor allem wenn man einen Babysitter braucht", murrte Harry und dachte an die vielen Abende, die er mit Niall's Töchtern auf seinem Sofa verbracht hatte, um sich Barbie-Filme anzusehen und sich nebenbei schminken zu lassen.
Er liebte die beiden, das stand außer Frage – aber er war auch froh, wenn Niall sie wieder mit nach Hause nahm.
„Wie viele Kinder hast du denn?"
„Zwei", antwortete Niall und lächelte, ehe er ein Bild aus seiner Brieftasche fischte. „Zwei Mädchen."
Louis beäugte das Foto mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Tatsächlich.
Zwei übers ganze Gesicht strahlende, fast gleich alte Mädchen mit braunen Locken und Sommersprossen im Gesicht.
„Die sehen eher aus, als wären sie von Harry", kommentierte Louis mit einem Grinsen.
Niall stieß ein lautes Lachen hervor, als er das Bild wieder einpackte. „Du glaubst gar nicht, wie oft ich das schon gehört habe."
„Sehr witzig", machte Harry und dachte an die Gerüchteküche zurück, die sich damals in der halben Nachbarschaft aufgetan hatte.
Was für ein Zufall.
Bei einem Kind konnte man sich vielleicht noch herausreden – aber nach zwei Kindern mit braunen Locken?
Das reichte den meisten Nachbarn schon, um zu behaupten, Harry würde mit Niall's Frau Mary schlafen und Niall wäre zu blöd, um das zu begreifen.
Niall grinste und legte seinem Freund brüderlich die Hand auf die Schulter. „Gut, dass Harry mit Frauen nichts anfangen kann, nicht wahr?"
Harry lief knallrot an und verdrehte die Augen. Vielleicht wäre der Wein doch die bessere Lösung gewesen.
„Wenigstens habe ich nicht auf meiner eigenen Hochzeit das Hochzeitsauto geschrottet", schoss er zurück. Dabei konnte er sich ein Kichern nicht verkneifen.
Niall musste ebenfalls lachen, als er daran zurückdachte, wie er den Oldtimer im knietiefen Schnee versenkt hatte, weil es genau an diesem Tag einmal in hundert Jahren in London schneien musste.
„Klingt, als wäre es eine witzige Feier gewesen", kommentierte Louis und leerte sein Weinglas.
Die Stimmung in der Gruppe war ausgelassen und die Leute unterhielten sich über die verschiedensten Themen, während sie aßen und tranken.
Nachdem die meisten Kursteilnehmer nach dem Essen in ihre Gespräche vertieft waren, ging Louis mit Harry auf eine Zigarette vor die Tür, obwohl sie eigentlich beide gar nicht rauchten.
Harry zog verwundert die Augenbrauen nach oben und sah sein Gegenüber irritiert an. „Stimmt was nicht?"
Louis schluckte und erwiderte die Verwirrtheit. „Das gleiche wollte ich eigentlich dich fragen", antwortete er in ruhiger Tonlage. „Was ist los?"
„Wie kommst du denn darauf, dass etwas los wäre?"
Louis seufzte. „Du siehst besorgt aus. Die ganze Zeit. Bedrückt dich etwas?"
Harry seufzte.
Er wusste nicht, ob das der richtige Moment war, ehrlich mit Louis zu sein.
Andererseits ... Gab es den überhaupt?
Aber er wollte Louis nicht von Anfang an belügen, auch wenn er sich vorkam, wie der letzte Vollidiot, als er ihm seine Situation erklärte.
Harry seufzte tief auf und zuckte die Schultern. „Es bedrückt mich nicht direkt", antwortete er. „Es ist nur ... Meine letzte Trennung verlief nicht so schön. Das ist noch nicht lange her. Ich habe einfach Angst, dass mir das gleiche wieder passiert."
Louis nickte, während er ihm zuhörte und legte die Stirn nachdenklich in Falten. „Liebe und Schmerz liegen oft sehr nah beieinander."
Harry sah ihn einen Moment lang an und wunderte sich über Louis' ausgesprochen ausgeprägtes Fingerspitzengefühl, hatte er sich doch die beste Mühe gegeben, sich nichts anmerken zu lassen.
Er nickte also und spürte die Erleichterung in seiner Brust, als er realisierte, dass Louis ihn verstand.
„Die Dinge sind nicht immer so einfach, wie man sie gerne hätte", sagte Harry und blickte in den langsam dunkler werdenden Himmel. „Sonst wäre da wohl einiges anders gelaufen."
Louis lächelte und ging einen Schritt auf Harry zu.
Sanft legte er einen Finger über seine Lippen und gab ihm einen sanften Kuss. „Du musst es mir nicht erzählen", flüsterte er, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Lass dir die Zeit, die du brauchst."
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Hallo meine Freunde und Happy Halloween!🎃👻
Wusstet ihr, dass es auf dem Wiener Prater eine Geisterbahn gibt, die "Hallo Wien" heißt?
Selten so gelacht, ge? Ich als Wienerin hab den Witz schon hundert Mal gehört.😂
Was macht ihr heute und wie hat euch das Kapitel gefallen?🤍
All the love,
Helena xx
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