o8. Aber nicht von dir
Als Harry schließlich auf sein Zimmer zurückkehrte, war Niall noch wach.
Er saß mit seinem Kindle in der Hand auf dem Bett und schien ziemlich vertieft zu sein.
Dennoch bemerkte er seinen Freund, der etwas niedergeschlagen und klatschnass zur Tür hereinkam.
Er hustete.
Niall zog die Augenbrauen nach oben.
Da machte sich wohl eine Erkältung auf den Weg.
„Du siehst echt scheiße aus."
Harry zog die Augenbrauen nach oben. „Wow", machte er. „Danke für den reizenden Empfang."
„Bist du ins Wasser gefallen?"
Der junge Lehrer verdrehte die Augen. „Nein", antwortete er. „Louis und ich sind unerwartet in einen Regenschauer geraten, als wir im Wald spazieren gehen wollten. Wir haben zwar einen Unterstand gefunden, aber irgendwann wurde es dunkel und wir mussten den Rückweg antreten."
Niall zog schadenfreudig die Augenbrauen zusammen und grinste. „Das hat euch überrascht?", hakte er nach. „Weißt du, da gibt es so eine Erfindung, die nennt sich Wetterbericht."
Harry zog sich die nassen Schuhe aus und warf sie auf die Heizung. „Schon klar, du Schlauberger."
„Und warum siehst du so besorgt aus? Stimmt etwas nicht?"
Harry kramte in seinem Koffer nach trockenen Sachen. Als er diese gefunden hatte, zog er sich augenblicklich um. Das Kratzen in seinem Hals verschwand davon allerdings nicht.
„Eigentlich stimmt alles", antwortete er also. „Das ist ja das Problem."
Niall sperrte den Bildschirm seines Kindles und legte ihn zur Seite. „Wie meinst du das?"
Er deutete seinem Freund mit einer Geste, sich zu ihm aufs Bett zu setzen.
Nachdem Harry sich niedergelassen hatte, fuhr er sich aufgeregt durch das blasse Gesicht. „Alles wirkt so ... perfekt", versuchte er, sein Problem in Worte zu fassen. „Er ist intelligent, gut gebildet, einfühlsam, irgendwie mysteriös, ein bisschen schräg – aber auf die gute Art, weißt du was ich meine?"
Niall nickte.
„Aber ich muss die ganze Zeit an die Sache mit Jack denken", gestand Harry.
„Nicht auf diese Art", fügte er sofort hinzu, als er Niall's Blick sah. „Es geht mehr um die Angst, die ich deshalb vor der ganzen Sache habe. Was, wenn mir das nochmal passiert?"
Nun war Niall derjenige, der die Augen verdrehte. „Jack ist ein Arschloch", entgegnete er deutlich. „Nicht jede Beziehung muss in einer Vollkatastrophe enden. Es gibt auch noch gute Menschen auf dieser Welt."
Harry dachte zurück an die Zeit, in der er mit Jack eine heimliche Liebesbeziehung geführt hatte.
Es war weniger die Trennung als solche, die die ganze Geschichte so schmerzhaft machte, sondern die Kombination mit der Tatsache, dass er ihm danach so unglaublich hinterhältig in den Rücken gefallen war.
Er tat sich schwer, die Erinnerung daran loszulassen.
„Er hat dir doch gesagt, er ist nicht verheiratet", tröstete Niall und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Die Gegebenheiten sind ganz andere. Louis ist nicht Jack, und dieses Mal bist du keine Affäre, Harry."
Harry seufzte und er schüttelte sich bei der Erinnerung an den Tag, an dem er zu dem unangenehmen Gespräch mit dem Rektor zitiert worden war. „Er könnte doch auch in ganz anderen Dingen unehrlich zu mir sein", warf er also ein. „Dass er nicht verheiratet ist, ist doch nur die Spitze des Eisbergs."
Niall seufzte. „Ja, Harry, das stimmt", pflichtete er ihm bei. „Aber so wird das doch nie etwas werden, wenn du dir schon vorher alles kaputtdenkst."
Er wusste, dass Niall Recht hatte. Und er wusste auch, dass er dagegen wenig einwenden konnte, denn es war nun einmal die Wahrheit.
„Ich kann einfach nicht anders", antwortete Harry. „Ich glaube, ich habe die Sache mit Jack noch nicht so richtig auf die Kette bekommen. Das ist immerhin noch gar nicht so lange her."
Niall schien einen Moment lang nachzudenken.
Dann seufzte er erneut. „Du wirst es nicht wissen, wenn du es nicht versuchst."
Harry nickte.
Natürlich würde er es versuchen müssen.
Es gab gar keine andere Möglichkeit.
„Du kennst doch das Zitat von Hemingway", zwinkerte Niall. „Der beste Weg herauszufinden, ob du jemandem vertrauen kannst, ist ihm zu vertrauen."
Der nächste Morgen kam.
Natürlich tat er das.
Und trotzdem war Harry überrascht, als ihn die ersten Sonnenstrahlen des Tages an der Nase kitzelten – was er noch immer Niall's heimtückischer Attacke mit dem Wasserbecher vorzog.
Er stand auf, duschte, zog sich an – und doch bekam er nichts davon richtig mit.
Seine Gedanken sprangen ständig hin- und her. Von Louis zu Jack und von Jack zu Louis.
Er hatte mit Jack abgeschlossen, zumindest was seine romantischen Gefühle für ihn anging.
Aber die Angst blieb.
Es war schlichtweg noch nicht lange genug her und die Wunden mussten noch heilen.
Aber Louis war nun einmal jetzt in sein Leben getreten und nicht erst in ein paar Monaten. Also musste er diese Chance nutzen.
Ganz abgesehen davon wirkte Louis nicht wie jemand, der ihm absichtlich das Herz brechen würde.
Gut, dachte er bei sich, das hatte er bei Jack auch gedacht – allerdings hatte es dort, im Nachhinein betrachtet, einige Warnzeichen gegeben, die er nicht gesehen hatte. Oder nicht sehen hatte wollen.
Niall allerdings hatte sie bemerkt. Nur war er bei Harry auf taube Ohren gestoßen.
Alles in allem fasste Niall es gern mit folgenden Worten zusammen: „Ich hab's dir doch gesagt."
„Du schreibst nicht, weil du etwas sagen willst, sondern weil du etwas zu sagen hast."
- F. Scott Fitzgerald
Harry las das Zitat, das der Beamer an die Wand warf, immer wieder, doch sein Gehirn konnte dessen Bedeutung nicht erfassen, obwohl er es kannte.
Viel zu beschäftigt war er damit, sich den Kopf zu zerbrechen.
Das Kribbeln in seinem Magen wurde stärker, sobald Louis den Raum betrat und der Geruch nach Sandelholz und Vanille tat sein Übriges.
Sein ganzer Körper schien plötzlich verrückt zu spielen.
Er konnte sich plötzlich gar nicht mehr vorstellen, dass Louis etwas Böses im Schilde führte.
Wie er da so stand, wie immer adrett und ganz in schwarz gekleidet, während er über das Schreiben und die Literatur philosophierte, als hätte er noch nie etwas anderes getan.
„Was denken Sie, warum die Leute schreiben?", fragte er in die Runde, und Harry spürte, wie sein Herz ganz weich wurde.
Eine Frage, die einfach zu beantworten war – und doch irgendwie schwierig zu greifen.
Er spürte, wie sein Herz begann, schneller zu klopfen. „Weil manche Dinge eben raus müssen", sagte er also. „Manche Leute singen, manche tanzen, manche spielen Fußball und wieder andere gehen in die Natur. Autoren schreiben eben."
Ein Lächeln schlich sich auf Louis' Lippen.
Wenn Niall sich nicht täuschte, verfärbten sich seine Wangen in einem zarten Rotton.
Beinahe wäre es ihm gar nicht aufgefallen.
Aber es war die Art und Weise, wie er auf den Boden schaute und grinste, die ihn verriet.
„Ja", sagte Louis schließlich. „Manchmal schreiben die Menschen aber auch nicht, weil sie denken, dass all das, was sie in ihren Gedanken haben, schon einmal gesagt wurde. Und das mag sogar wahr sein. Natürlich wurde alles schon einmal irgendwie gesagt – aber nicht von dir."
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Einen wunderschönen Donnerstag meine Lieben!🤍
Wie war eure Woche?🤍
Freue mich auf eure Kommentare.🤍
All the love,
Helena xx
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