o2. Du bist neugierig
Am nächsten Morgen wurde Harry durch das penetrante Klingeln seines Telefons geweckt.
Ein Blick auf die Uhr ließ ihn irritiert die Augenbrauen zusammenziehen.
Halb Sechs.
Welcher Idiot rief um eine solche Uhrzeit bei ihm an und warum?
Als er auf sein Display blickte, erklärte das einiges.
Es war der Direktor der Schule.
Harry stöhnte entnervt auf und nahm das Gespräch an. „Arthur", grummelte er in sein Telefon. „Was verschafft mir das Missvergnügen?"
Er hörte ein empörtes Ausatmen am anderen Ende der Leitung.
„Schön, von Ihnen zu hören, Harry", gab er sachlich zur Antwort. „Ich wollte mich eigentlich bloß erkundigen, ob Sie gut angekommen sind."
Harry wusste, dass es sich dabei nur um einen weiteren Kontrollanruf handelte. Dieser diente einzig und allein dem Zweck, ihm zu zeigen, dass man ihm keinen Millimeter weit mehr traute.
„Hätte es auf der Strecke einen Tornado oder einen Tigerangriff gegeben, hätte man Sie wahrscheinlich schon informiert", fauchte Harry in den Hörer, als er bemerkte, dass auch Niall neben ihm wach wurde und sich die Augen rieb.
Harry konnte förmlich hören, wie Arthur die Augen verdrehte. „Also gut", seufzte er schließlich. „Dann weiß ich erstmal Bescheid."
Ohne ein weiteres Wort beendete Harry das Gespräch und legte auf.
Niall, der gerade eben wach geworden war, rieb sich müde die Augen. „Was war das denn schon wieder?"
Fluchend stand Harry aus seinem Bett aus und wunderte sich darüber, wie kalt es in dem kleinen Raum war.
„Dieser Vollidiot", schimpfte er. „Ruft der mich allen Ernstes um halb Sechs an und will wissen, ob wir gut angekommen sind."
Niall zog beide Augenbrauen nach oben. „Warum hat er dann nicht gestern schon angerufen?"
„Weil dieses sadistische Arschloch darauf warten wollte, bis es mich aus dem Schlaf reißen kann."
Niall konnte förmlich spüren, wie Harry zu einem brodelnden Kessel wurde, der jeden Moment explodieren konnte.
Dieser Mann war der Einzige, der es schaffte, Harry so dermaßen zur Weißglut zu bringen.
Mit niemandem sonst hatte er jemals so große Differenzen gehabt.
Als die beiden Männer schließlich gefrühstückt hatten, machten sie sich auf den Weg zur ersten Sitzung des Seminars.
Sie waren durch ihren unfreiwilligen, frühen Start in den Tag etwas eher dran, weshalb sie sich an den Pulten in der vorderen Reihe niederließen.
Stöhnend warf Harry seinen Rucksack neben sich und ließ sich auf dem Stuhl nieder.
„Kopfschmerzen?", grinste Niall und grinste seinen Freund belustigt an.
Harry verdrehte die Augen. „Das ist nicht witzig", knurrte er. „Du weißt ganz genau, dass ich eigentlich keinen Wein vertrage."
Noch ehe Niall antworten konnte, betrat Louis in schwarzer Jeans und schwarzem Hemd den Raum.
Harry wunderte sich.
Trug er etwa immer schwarz?
Und was daran war es, das ihn so sympathisch wirken ließ?
„Guten Morgen", begrüßte er die beiden Männer und deutete auf die Uhr über sich. „So früh?"
Harry wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch Niall spürte den Zorn in seinem besten Freund und kam ihm schließlich zuvor. „Ja, wir wurden ziemlich früh geweckt", sagte er also. „Aber das macht nichts."
Louis stellte seine Tasche auf den Tisch und lächelte. „Ich hoffe doch, dass nicht ich Sie geweckt habe."
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht", gab er zur Antwort. „Nur ein weiterer Kontrollanruf des Rektors."
Louis schmunzelte.
Es war amüsant zu sehen, wie launisch dieser Mann Harry werden ließ.
Eigentlich glaubte er nämlich, dass das nicht seine Art war.
Harry machte auf ihn eigentlich einen ziemlich lebensfrohen, unbeschwerten Eindruck. Zumindest solange, bis man ihn an den Dingen hinderte, die er wirklich wollte.
Als schließlich auch die restlichen Teilnehmer den Seminarraum betraten, schloss Louis die Tür.
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde trat er vor die Gruppe und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen seinen Tisch.
Dann ließ er die blauen Augen einmal durch die Reihen wandern.
„Heute beschäftigen wir uns mit den Kernelementen des Kreativen Schreibens", eröffnete er den Kurs. „Was macht Ihrer Meinung nach ein gutes Buch aus?"
Einen Moment lang herrschte Stille zwischen den einzelnen Teilnehmern.
Auch Harry musste einen Moment lang nach.
Es dauerte eine Weile, bis die ersten Antworten fielen.
„Starke Charaktere."
„Spannung."
„Die geweckten Emotionen."
„Eine schlüssige Handlung."
„Die Charakterentwicklung."
Harry fragte sich schließlich, was in seinen Augen ein gutes Buch ausmachte.
Warum hatte ihn Ephemeral beispielsweise so sehr fasziniert?
Was an diesem Roman hatte ihn so sehr gefesselt?
Um diese Frage beantworten zu können, musste er die Handlung noch einmal Revue passieren lassen.
Es ging also um diesen Protagonisten, der durch Zufall auf eine Sammlung alter Tagebücher stößt.
Schon ab diesem Punkt war Harry sich im Grunde genommen im Klaren darüber gewesen, dass dieses Buch anders war als die vielen anderen, die er zuvor gelesen hatte.
Der Schreibstil des Autors war sehr lebendig.
Beinahe so, als würde man selbst diese Tagebücher finden.
„Die Art des Autors, zu schreiben", sagte Harry also. „Wenn diese Säule fehlt, wirkt das Buch tot. Mit den richtigen Worten aber wird es erst lebendig und erzeugt all die wichtigen Dinge, wie Emotionen, Charaktere, deren Handlungen und Spannung."
Louis lächelte in sich hinein und nickte zufrieden.
Was für eine schöne Antwort auf eine so einfach wirkende Frage.
Im Grunde genommen war sie allerdings schwieriger, als sie auf den ersten Blick aussah.
Prüfend ließ er seinen Blick über die kleine Gruppe gleiten.
Sein Blick blieb an dem Grün in Harry's Augen hängen.
Irgendetwas sagte ihm, dass der junge Mann mit den schulterlangen Locken tiefgründiger dachte, als er das selbst überhaupt bemerkte.
Er mochte solche Menschen.
In ihnen steckte eine gewisse Fähigkeit, die Dinge anders zu begreifen.
„Wenn Ihre Schüler Texte schreiben", fuhr Louis also fort. „Mit welcher Erwartungshaltung gehen Sie an die Korrektur?"
Louis war ein sehr ruhiger Redner, und doch umgab ihn etwas Schelmisches. Harry erwischte sich bei dem Gedanken, diese Seite von Louis gerne kennenlernen zu wollen.
Er benutzte Metaphern auf eine ganz eigene Art und Weise.
Genau die Art und Weise, die Harry in seinen Lieblingsbüchern so sehr imponiert hatte.
Es ging darum, die Metaphern mit etwas zu verknüpfen, das die Menschen nachvollziehen konnten.
Die richtigen Worte, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit.
Harry beobachtete jede von Louis' Bewegungen, und er wurde mit jeder Minute ein kleines bisschen neugieriger.
Als Harry sich mit Niall auf den Weg in die erste Pause des Tages machte, grinste sein bester Freund ihn provokant an.
Harry rollte mit den Augen. Schon wieder.
Er hasste es, wenn Niall ihn so ansah.
„Nun spuck's schon aus", drängte er also. „Worüber amüsierst du dich dieses Mal?"
Niall zuckte die Schultern. „Du bist neugierig."
„Worauf?"
„Louis."
Harry schüttelte entsetzt den Kopf. „Bin ich überhaupt nicht."
Niall's Grinsen wurde noch breiter. „Ich kenne dich doch, Harry", schmunzelte er. „Und wenn du mich fragst, geht es ihm genauso."
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Hallo meine Lieben,
und wie jede Woche - einen schönen Donnerstagabend.🤍
Das Wochenende steht vor der Tür. Ich hoffe, ihr habt es alle gut durch die Woche geschafft.🤍
Na, was sagt ihr zu dem Kapitel? Was denkt ihr, wird als nächstes passieren?
Ich freue mich, von euch zu hören!🤍
All the love,
Helena xx
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