51. Ausgerechnet ihn
Harry konnte gar nicht glauben, was er da hörte.
Mit einem Mal war seine Wut wieder da. Und neben der Wut auch eine wahnsinnige Frustration.
„Er hat dir fünftausend Dollar geboten, wenn du ihm erzählst, ich hätte dich angefasst?", fragte er nach, nur um sicher zu gehen, dass er sie richtig verstanden hatte.
Zögerlich nickte das Mädchen, und Harry fuhr sich mit beiden Händen über das blasse Gesicht. „Das kann doch nicht wahr sein."
Der Schock spiegelte sich auch in den Gesichtern von Louis und Niall. Keiner von beiden fand in dem Moment die richtigen Worte.
„Ist es richtig, dass du deinem Lehrer gegenüber immer wieder aufdringlich geworden bist?", fragte der Polizist schließlich ganz unverblümt, und Evelyn sah ihn einen Moment lang fassungslos an.
Natürlich hatte Harry ihm davon erzählt.
Ihre Wangen färbten sich blutrot. „Ja...", murmelte sie beschämt. „Ich mochte ihn eben."
„Du mochtest ihn?", wiederholte Louis, fast ein bisschen zu laut. „Und weil du ihn so sehr mochtest, missachtest du mehrfach seine körperlichen Grenzen?"
„Naja, ich...", stotterte sie kleinlaut, „Ich dachte, ich könnte seine Meinung vielleicht ändern. Ich meine, man hört das doch immer wieder."
„Was hört man immer wieder?", fragte Niall irritiert nach.
„Na, dass Lehrer etwas mit ihren Schülerinnen anfangen", antwortete Evelyn. „Ich dachte, er würde vielleicht doch irgendwann mit mir ausgehen."
Harry schüttelte den Kopf und massierte sich die Schläfen. Dieser Tag fühlte sich an wie ein einziger Fiebertraum.
„Ich bin stockschwul, Evelyn", zischte er also mit unterdrückter Wut. „Und selbst, wenn das nicht so wäre - ich würde niemals etwas mit einer Schülerin anfangen. Ich habe mir dieses Studium hart erkämpft und nebenbei in zwei verschiedenen Jobs gearbeitet. Es gibt nichts, was mich dazu bringen könnte, mein Staatsexamen so leichtfertig wegzuwerfen."
Niall konnte hören, dass die Stimme seines besten Freundes zitterte.
Und er konnte ihn verstehen. Diese Situation war kaum auszuhalten.
Evelyn nickte, wich dem Blick ihres Lehrers aus und richtete ihn stattdessen starr auf den Boden. „Ist das Ihr Freund?", wollte sie wissen, als sie auf Louis deutete.
Harry nickte. „Ja. Und den hättest du mit deinen Anschuldigungen fast verjagt."
„Das stimmt nicht", warf Louis augenblicklich ein und griff nach Harry's Hand. „Ich vertraue dir, Harry. Ich kenne deinen wahren Charakter."
Niall biss sich auf die Lippe, als er sich an Louis fragenden Blick erinnerte, nachdem man Harry abgeführt hatte.
Aber, und das musste er ihm zugute halten - er hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde gezweifelt. Er war zu keinem Zeitpunkt ernsthaft der Meinung, sein Freund hätte die Dinge, die man ihm vorwarf, wirklich getan.
„Das erklärt aber nicht, woher der Schulleiter von ihrer Verliebtheit wusste", meldete sich der Beamte erneut zu Wort.
Niall seufzte. „Wahrscheinlich hat er den ein oder anderen Annäherungsversuch auf den Überwachungsvideos gesehen und sich dort inspirieren lassen."
Der Polizist nickte und griff nach seinem Telefon. „Den werden wir jetzt schnellstmöglich zur Wache bestellen."
Louis schluckte. Arthur war so ziemlich der letzte Mensch, den er jetzt sehen wollte.
Aber er wusste auch, dass es verdammt wichtig war, seinen Vater zur Rechenschaft zu ziehen.
Nachdem er seinem Kollegen den Auftrag gegeben hatte, ihn zum Revier zu bitten, wand er sich wieder an Evelyn. „Ich hoffe, dir ist klar, dass das Konsequenzen haben wird."
Evelyn nickte, und in ihren Augen formten sich Tränen.
Harry's Mitleid hielt sich in Grenzen.
„Es tut mir leid", sagte sie und sie versuchte, Blickkontakt mit ihrem Lehrer aufzunehmen, doch dieser schien sie gar nicht ansehen können. „Ich wollte das doch alles gar nicht."
Die Mutter der Schülerin schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich glaube nicht, was ich da höre."
„Fragen Sie mal mich", zischte Harry in ihre Richtung, „Ich werde festgenommen, stundenlang beschuldigt, kassiere von Ihnen eine Ohrfeige und unzählige Beleidigungen - weil mein Schwiegervater mich nicht leiden kann!"
Beschwichtigend legte Louis ihm eine Hand auf die Schulter. „Beruhigte dich, Harry", flüsterte er. „Sie kennen jetzt die Wahrheit. Es wird sich eine Lösung finden lassen."
„Was hast du dir nur dabei gedacht?", hakte der Polizist erneut nach. „Dir muss doch klar gewesen sein, was das für Folgen haben kann."
Die Siebzehnjährige schüttelte den Kopf und strich sich die Haare hinter die Ohren und die Tränen aus dem Gesicht. „Nein", antwortete sie schließlich. „Ehrlich nicht. Ich wusste nicht, dass daraus so eine große Sache werden würde."
„Was hast du denn erwartet?", fragte ihr Vater entsetzt. „Weißt du, was du da für einen Stein ins Rollen gebracht hast? Solche Dinge sind ernste Anschuldigungen, Ev."
„Ich weiß", sagte sie mit zitternder Stimme, und Harry konnte deutlich sehen, dass ihre Brust zuckte. „Ich habe mir über die Konsequenzen nur einfach keine Gedanken gemacht."
Harry verdrehte die Augen. „Das habe ich bemerkt."
„Du hättest sein Leben damit ruinieren können", erklärte Niall, der als einziger im Raum noch mit einer ruhigen Stimme sprechen konnte. „Ist dir das eigentlich klar?"
Evelyn nickte. „Jetzt schon", gab sie zur Antwort. „Bitte, sagen Sie mir, wie ich das wieder gut machen kann."
„Solche Dinge kann man nicht einfach wieder gut machen", entgegnete Harry und strich sich eine Strähne des welligen Haares aus der Stirn. „Ich kann nicht glauben, dass ich dir das erklären muss."
Louis seufzte. Er konnte ihn verstehen, aber irgendwie konnte er auch verstehen, dass das Mädchen nach irgendeiner Art von Vergebung suchte, jetzt, wo ihr klar wurde, was sie eigentlich getan hatte.
„Es tut mir so leid", wiederholte sie weinend, während sie noch immer Harry's Blickkontakt suchte. Dieses Mal sah er sie tatsächlich an, doch es war schwer für sie, aus seinem Gesicht irgendwelche Emotionen abzulesen.
Sie hoffte auf eine Antwort von ihm, einen Wutanfall, irgendetwas - eine Absolution. Diesen Gefallen wollte er ihr allerdings nicht tun, und so schwieg er.
Niall beobachtete seinen Kollegen mit einem mittlerweile leichteren Gefühl in der Magengegend. Seine Empfindungen schienen in ihn zurückgekehrt zu sein, auch wenn er sie nach außen hin nicht zeigen wollte. Aber zumindest wirkte er nicht mehr so apathisch wie noch vor ein paar Minuten.
„Das bedeutet also, wir können ihn jetzt endlich mit nach Hause nehmen?", erkundigte Louis sich.
„Theoretisch gesehen, ja", antwortete der Polizist. „Aber ich würde Sie bitten, noch die Aussage Ihres Vaters abzuwarten."
Louis spürte, wie sich in ihm alles zusammenzog.
Genau das hatte er eigentlich vermeiden wollen.
Er war müde, und er hatte es so satt, sich den Schwachsinn anzuhören, den dieser Mensch von sich gab.
Doch bevor er bis drei zählen konnte, öffnete sich auch schon die Tür.
Arthur betrat den Raum mit einem besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. „Meine Güte, Evelyn, warum weinst du denn?"
Niall verdrehte die Augen. Dieser unbeschreibliche Bastard.
„Ihre Schülerin hat uns gerade erzählt, Sie hätten ihr fünftausend Pfund für eine Falschaussage geboten", eröffnete der Polizist ihm.
Arthur schüttelte augenblicklich den Kopf. „Das kann nicht sein", bestritt er. „Evelyn, warum erzählst du denn so etwas? Hat Harry dich unter Druck gesetzt?"
Jetzt reichte es ihm aber. „Wenn ich noch einen einzigen Satz aus deinem Mund höre, werde ich dafür sorgen, dass du ihn nie wieder verwenden kannst", zischte er in die Richtung des Schulleiters.
Der Polizist ging zwischen die beiden Männer und bat Arthur einen Stuhl an. „Beruhigen Sie sich. Wir sind doch gerade dabei, die Sache zu klären."
Louis griff nach Harry's Hand und verschränkte ihre Finger miteinander.
Als sein Vater das bemerkte, hätte er sich am liebsten in den Papierkorb übergeben.
Sein Sohn und dieser ... einfache Lehrer, der die Stimmung in seinem Kollegium ruiniert hatte.
„Sie wissen, dass Sie die Wahrheit sagen müssen?", wollte der Beamte von ihm wissen.
„Ja."
„Gut", fuhr er fort, „Dann erzählen Sie mir bitte, ob es richtig ist, dass Sie diesem Mädchen fünftausend Pfund geboten haben, wenn Sie gegen ihren Lehrer aussagt."
Arthur fühlte sich in die Ecke gedrängt, und eigentlich hätte er am liebsten alles abgestritten und die Situation noch irgendwie gedreht - aber es hatte keinen Sinn mehr.
Evelyn hatte ihre Aussage bereits gemacht, die Polizei hatte die Videoaufnahmen gesehen und Harry hatte ihnen mit Sicherheit auch erzählt, dass die Annäherungsversuche eigentlich von Evelyn ausgegangen sind.
„Ja, das stimmt", gab er zur Überraschung aller ohne weiteres Theater zu.
Louis zog irritiert die Augenbrauen nach oben. Das ging ja einfacher als gedacht.
Der Polizist verschränkte die Hände miteinander und sah den Mann vor sich ungläubig an. „Warum haben Sie das getan?"
„Weil ich wollte, dass dieser Mistkerl endlich bekommt, was er verdient!", rief Arthur lautstark durch den Raum und warf Harry einen ärgerlichen Blick zu. „Mein Sohn hätte Arzt werden sollen, er hätte alles haben können, wovon andere nur träumen - stattdessen wird er Bibliothekar! Und zu allem Überfluss bringt er dann noch nicht einmal eine hübsche Frau mit nach Hause, sondern ausgerechnet ihn!"
Harry atmete tief durch, biss sich auf die Zunge und presste sein Kiefer zusammen, um sich selbst an jeglichen unpassenden Kommentaren zu hindern, die ansonsten aus ihm heraussprudeln würden.
„Was hat er denn Ihrer Meinung nach so schlimmes getan?"
„Er hatte eine Affäre mit einem Lehrer aus dem Kollegium", erzählte Arthur also und schüttelte den Kopf. „Seitdem ist die Stimmung dort im Keller."
„Aber das ist doch nun wirklich nicht Ihre Sache", erklärte der Beamte und sah ihn fragend an.
„Natürlich ist das meine Sache", widersprach der Schulleiter. „Das sind meine Lehrer, es ist mein Kollegium. Ich bin verantwortlich dafür, dass das alles funktioniert."
„Was die Lehrer untereinander tun oder lassen entzieht sich allerdings Ihrer Kontrolle", antwortete der Polizist. „Und dem Bereich der Dinge, die sie etwas angehen. Eine Affäre mit einem Kollegen ist keine Straftat. Nur, weil Ihnen das nicht passt, können Sie ihm doch nicht einfach eine sexuelle Belästigung andichten."
„Ich musste ihn einfach endlich loswerden", fauchte Arthur, seine Stimme triefte vor Hass. „Er hat meinen Sohn verführt, und jetzt hält er auch noch ihn davon ab, etwas ordentliches aus sich zu machen."
„Entschuldigung?", gab Louis lautstark zurück, „Ich habe schon in der Stadtbibliothek gearbeitet, bevor ich überhaupt gewusst habe, dass Harry existiert. Ich glaube nicht, dass er mich dazu genötigt hat, kein Medizinstudium zu beginnen."
„Nein", erwiderte Arthur, „Aber du hättest eine nette junge Dame kennenlernen und dein Leben in den Griff bekommen können."
Ungläubig schüttelte der Beamte den Kopf. „Das sind ganz schön seltsame Ansichten, die Sie da haben. Ihr Sohn hat doch etwas aus sich gemacht. Er hat einen interessanten Job, einen wunderbaren jungen Mann als Freund und offensichtlich eine große Portion Loyalität in sich. Das kann man von Ihnen offensichtlich nicht behaupten."
Louis schluckte, um sich ein Kichern zu verkneifen.
Ja, so in etwa hätte er es auch ausgedrückt.
„Ich werde in meinem ganzen Leben nie wieder einen Fuß über deine Türschwelle setzen", sagte Louis und sah ihm dabei tief in die Augen. „Du bist also von dem Schandfleck, wie du deinen einzigen Sohn heute bezeichnet hast, befreit."
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Einen wunderschönen guten Morgen!🤍
Heute gibt es ein frühes Update, ich geh heute mit meinem Papa wandern und weiß noch nicht, wann ich zurückkomme.
Ich hoffe, ihr hattet ein schönes Wochenende.
Na, seid ihr erleichtert, dass es endlich raus ist?😅
All the love,
Helena xx
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