47. Keine Geheimnisse mehr
Als Harry eine Stunde später wach wurde, hörte er Stimmen in der Küche.
Er brauchte eine Weile, um sie zuzuordnen.
Als jedoch zu ihm durchsickerte, dass es Louis war, der sich mit Niall unterhielt, rutschte ihm fast das Herz in die Hose.
Mit einem Satz war er hellwach.
Er strich sich das schulterlange Haar aus dem Gesicht und atmete tief durch.
Dann stand er auf und trottete langsam zu den beiden Männern, die miteinander am Esstisch saßen.
Niall lächelte seinen Freund sanft an. „Geht es dir besser?"
Zaghaft nickte er und mied Louis' Blick, der unaufhörlich und besorgt auf ihm lag.
Nach all den Dingen, die Louis eben gehört hatte, sah er Harry ganz anders als vorher.
Er sah die Dinge, die zwischen ihnen passiert waren und seine Reaktionen darauf in einem völlig anderen Licht.
Das Mitgefühl in ihm und sein schlechtes Gewissen standen ihm tief ins Gesicht geschrieben.
Vorsichtig legte er eine Hand an Harry's Hüfte. „Können wir reden?"
Harry nickte stumm, der Blick getränkt von Kummer.
„Dann setzt euch nach draußen", schlug Niall vor und lächelte die beiden Männer aufmunternd an. „Ich bringe euch noch etwas zu trinken und dann könnt ihr euch in aller Ruhe unterhalten."
Während Harry durch Niall's Wohnzimmer auf die Terrasse ging, schlang er beide Arme um den noch immer schmerzenden Körper.
Noch im selben Moment schwor er sich, nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol anzurühren.
Trotz des warmen Wetters war ihm kalt, er fröstelte, und jeder Windzug ließ ihn kurz erzittern.
Louis ließ sich ihm gegenüber nieder und einen Moment lang herrschte eine unangenehme Stille zwischen den beiden Männern.
Niemand wusste so recht, wie sie das Gespräch beginnen sollten.
Nachdem Niall wie versprochen einen Krug Wasser mit Zitrone vor ihnen abstellte, hoffte er, dass das Vitamin C Harry's Kopfschmerzen ein wenig lindern würde.
Er sah wirklich aus wie ein lebender Toter.
Dann ließ er das Paar allein und kümmerte sich um das Abendessen, in der Hoffnung, dass sie nach dem Gespräch zusammen essen und sich von den Strapazen der letzten Stunden erholen konnten.
Als sich die Tür hinter Niall schloss, seufzte Louis tief auf. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, als du plötzlich weg warst", gestand er. „Ich konnte dich einfach nicht mehr erreichen."
Erneut wich Harry seinem Blick aus. „Es tut mir leid."
„Nein, mir tut es leid", schüttelte Louis den Kopf. „Ich hätte mit dir sprechen müssen. Ich habe dir wehgetan, und das war der größte Fehler, den ich bisher in meinem Leben gemacht habe."
Harry fand im Moment nicht die richtigen Worte; er war überrascht von Louis' ehrlicher Art und Weise und seiner aufrichtigen Entschuldigung.
Er hätte mit einer Erklärung gerechnet, die als Ausrede dienen sollte - nicht aber mit der Tatsache, dass es ihn selbst schmerzte, ihn verletzt zu haben.
„Warum hast du es dann nicht getan?", wollte er wissen, viel weniger als Vorwurf, als eine ernste Frage, auf die er bisher selbst keine Antwort hatte finden können.
Louis presste die Lippen zusammen, während er sich die gleiche Frage selbst stellte.
Ja, warum eigentlich nicht?
Weil er ein bodenlos dummer Trottel gewesen war.
„Ich weiß es nicht", antwortete er also wahrheitsgemäß. „Weißt du, ich habe immer irgendwie auf den richtigen Moment gewartet, und ihn schließlich verpasst, weil ich nicht den Mut hatte, es dir zu erzählen. Ich war ein Idiot, und ich hatte keine Ahnung, wie schlecht das für unsere Beziehung und vor allem für dich war."
Eigentlich wollte Harry etwas dazu sagen, doch es war, als wäre sein Kopf leergefegt.
„Harry", sagte Louis und griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand, überrascht, dass er sie nicht wegzog. „Ich habe noch nie etwas vergleichbares empfunden, wie ich das für dich tue - ich werde diesen Fehler kein zweites Mal mehr machen. Lass es mich wieder gut machen."
Der junge Lehrer brauchte erneut eine Weile, um zu antworten. „Ich weiß so wenig über dich", flüsterte er schließlich, während er auf ihre Hände starrten, die beinahe schüchtern ineinander lagen.
Louis' Hände waren weich und warm, während seine Finger vor Kälte ganz rot geworden waren.
Ein versöhnliches Lächeln legte sich auf Louis' Lippen. „Was möchtest du denn wissen?"
Harry zuckte die Schultern. „Ich weiß beispielsweise gar nichts von deinen vorherigen Beziehungen", erwiderte er. „Du weißt von der Sache mit Jack, von meiner ersten ernsten Beziehung vor ihm und kennst die ersten Erfahrungen, die ich in Bezug auf meine Sexualität gemacht habe. In dieser Hinsicht weiß ich rein gar nichts über dich."
„Ja, das ist richtig", seufzte Louis. „Das liegt daran, dass es da auch nicht sonderlich viel zu erzählen gibt."
Irritiert legte Harry die Stirn in Falten. „Wie meinst du das?"
Louis atmete hörbar aus. „Meine Beziehungserfahrungen vor dir beschränken sich auf zwei lockere Bettgeschichten", erzählte er. „Das war's. Ich ... war noch nie zuvor in einer ernsten Beziehung. Ich konnte mich niemandem öffnen. Aber bei dir ist es anders."
Ein verächtliches Schnauben drängte sich aus Harry's Brust. „Das ist offensichtlich nicht wahr."
Louis schüttelte entschieden den Kopf. „Bitte beziehe das nicht auf dich. Das war mein Fehler und meiner allein - und er hat absolut nichts mit meiner Liebe zu dir zu tun."
„Wie kannst du dir da so sicher sein?"
„Weil ich daraus gelernt habe", gab Louis zur Antwort, ohne zu zögern. „In mir sind so viele Ideen, und ich kann es gar nicht erwarten, sie mit dir zu teilen."
Harry's Augen beginnen, zu leuchten. Plötzlich war in ihm nichts mehr als Bewunderung für den Mann, der da vor ihm saß. „Da ist eine ganz eigene Welt in deinem Kopf."
Der Bibliothekar schmunzelte. „Das kann schon sein", sagte er leise. „Und ich will sie dir zeigen."
Zuneigung und Liebe legten sich in Harry's Blick. „Ich bin so stolz auf dich", kam es plötzlich von ihm.
Nun war Louis wirklich ernstlich überrascht. „Wieso das denn?"
„Weil du ein einzigartiges Talent hast, Louis", entgegnete er. „Du erzählst Geschichten, wie niemand sonst."
Der Autor wusste gar nicht, wie ihm geschah.
Damit hatte er nicht gerechnet.
Er hätte eine Millionen Exemplare verkaufen können, und doch würde Harry's Meinung für ihn die wertvollste sein. „Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet."
Harry lächelte schwach.
Dann schien ihn die Erschöpfung wieder einzuholen. „Ich bin so durcheinander."
„Das ist verständlich", tröstete Louis. „Lass dir all die Zeit der Welt, die du brauchst, um deine Gedanken zu sortieren. Ich bin für dich da."
Harry musterte sein Gegenüber einen Moment lang. „Woher kommt das plötzliche Verständnis?"
Louis wusste nicht, ob seine nächste Aussage ein sonderlich kluger Schachzug war. Doch ehe er sich Gedanken darüber machen konnte, war sie auch schon heraus. „Während du geschlafen hast, habe ich mich eine Weile mit Niall unterhalten", meinte Louis. „Er hat mir erzählt, dass du früher phasenweise bei seiner Familie untergekommen bist, als es zu Hause so schlimm war."
„Niall hat gepetzt", stellte Harry fest und verdrehte die Augen.
„Ist das schlimm für dich?"
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe es dir ja schon selbst erzählt."
„Das stimmt schon", antwortete Louis. „Aber ich weiß auch, dass du nicht gerne darüber redest und mir deshalb nicht alles sagen konntest. Das soll kein Vorwurf sein, Harry."
Er spürte, dass seine Augen verdächtig brannten. „Ja", zischte er. „Weil es wehtut."
„Ich möchte nur, dass du weißt, dass du jederzeit mit mir darüber sprechen kannst, wenn du das möchtest", flüsterte Louis und drückte seine Hand etwas fester. „Ich werde immer für dich da sein. Bitte vergiss das nicht."
Harry zog seine Hand zurück, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog die Knie an den Körper, ehe er beide Arme um sie schlang. „Es ist so unangenehm, jemandem zu erzählen, dass man Schuld am Tod der eigenen Mutter hat."
Fassungslos starrte Louis seinen Freund an.
Er konnte es an seiner Stimme hören.
Hier ging es nicht um Selbstmitleid. Das war sein voller Ernst.
„Aber Harry", stammelte er, „Du warst damals gerade erst fünf Jahre alt geworden. Du hast nicht wissen können, dass an diesem Tag in genau dieser Sekunde ein Betrunkener über die Kreuzung rauschen würde."
„Ich weiß", murmelte Harry und konnte nicht verhindern, dass ihm eine heiße Träne über die Wange lief. „Aber hätte ich sie nicht noch kurz vor Ladenschluss zum Supermarkt geschickt, könnte sie heute noch leben und meine Familie wäre nicht so zerstört worden, wie sie es heute ist."
Louis' Herz wurde vor Mitgefühl ganz schwer.
Er rückte seinen Stuhl neben den von Harry und legte ihm behutsam eine Hand auf den Arm. „Dich trifft keine Schuld", flüsterte er. „Vergiss, was dein Vater gesagt hat. Er ist ein Idiot."
„Das hat nicht unbedingt etwas mit ihm zu tun", glaubte Harry, zu wissen. „Ich habe mir diese Vorwürfe schon vorher gemacht. Und dieses Schuldgefühl, Louis, es ... Es erdrückt mich."
Harry schluchzte auf und hielt sich die Stirn.
Wortlos zog Louis ihn in seine Arme und drückte ihm einen Kuss auf das wellige Haar.
Er strich ihm sanft über den Rücken und spürte, wie er sich eng an ihn schmiegte und sich mit einer Hand an seinem Hemd festkrallte.
„Es ist nicht deine Schuld", wisperte Louis und wog ihn sanft hin- und her.
„Niall's Eltern haben mich bei sich aufgenommen und ich hab ihnen das Leben zur Hölle gemacht", wimmerte Harry und löste sich aus Louis' Umarmung.
Das konnte Louis sich nun beim besten Willen nicht vorstellen. „Wie meinst du das?"
Harry wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schniefte. „In Niall's Familie war alles so ruhig und harmonisch", erzählte Harry mit zitternder Stimme. „Das war ungewohnt und es hat mir Angst gemacht. Ich konnte es einfach nicht aushalten. Also habe ich ständig Terror gemacht und Streit vom Zaun gebrochen, um irgendwie etwas Vertrautes zu spüren..."
Louis fühlte, wie Harry's Worte ihn tief berührten.
Die Vorstellung von Harry als kleinem Jungen, der so durcheinander und verzweifelt war, weil er plötzlich all die Liebe bekam, die ihm gefehlt hatte - und sie dann nicht annehmen konnte, weil er so sehr an die Leere in seinem zu Hause gewohnt war.
Es brach ihm das Herz.
„Harry, du warst ein Kind", erwiderte er und strich seinem Freund eine Strähne aus dem tränennassen Gesicht. „Und Niall's Eltern haben dich offensichtlich trotzdem geliebt."
„Das war ja das Problem", rief Harry, „Ich habe ständig meine Grenzen ausgetestet. Ich konnte ihnen nicht vertrauen. Ich wollte wissen, wie lang ich sie in den Wahnsinn treiben kann, bis auch sie die Schnauze voll von mir haben."
„Was ja nicht passiert ist", tröstete Louis mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen. „Sei nicht so hart zu dir selbst. Du warst traumatisiert und bist es noch heute. Du hast damals deine Zeit gebraucht, um die Geschehnisse zu begreifen."
Harry schniefte. „Ich bin ihnen so dankbar, dass sie mich nicht aufgegeben haben. Sie haben mir gezeigt, was Familie wirklich bedeutet und dass man alles schaffen kann, wenn man fest zusammenhält."
Bei diesen Worten füllte eine angenehme Wärme Louis' Herz. „Und genau das werden auch wir beide von jetzt an tun."
Harry hob den Blick und sah Louis in die leuchtend blauen Augen. Er konnte sehen, dass er jedes Wort meinte, das er sagte.
Zum ersten Mal während des Gesprächs schlich sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. „Also keine Geheimnisse mehr?"
Louis schüttelte den Kopf. „Keine Geheimnisse mehr."
______________
Einen wunderschönen Freitagnachmittag wünsche ich euch meine Freunde🤍
Bin schon gespannt, was ihr zu dem Gespräch zwischen den beiden sagen werdet.❤️
All the love,
Helena xx
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro