21. Da kann man nichts machen
Am Freitagabend konnte Harry spüren, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug.
Er saß in Louis' Auto, einem – wie sollte es anders sein – ziemlich altem Wagen, der allerdings gut gepflegt und vor allem eins war: schick.
Harry musste sich erst einmal daran gewöhnen, dass er in diesem Auto bei der kalten Außentemperatur keine Sitzheizung hatte – ein Minuspunkt, der für ihn zu einem Ausschluss dieses Wagens geführt hätte.
Aber die Freude, Louis zu sehen, überwog diese Kleinigkeit.
Er gab seinem Freund zur Begrüßung einen kurzen Kuss auf die Lippen und lächelte. „Schön, dass du da bist."
Louis grinste und lenkte den Wagen zurück auf die Straße.
Er konnte sehen, wie nervös Harry war.
Unaufhörlich spielte er mit dem untersten Knopf seines rötlichen Hemdes, während er an den schulterlangen Locken sehen konnte, dass er vor Aufregung zitterte.
Heute würde Harry Louis' Eltern kennenlernen.
Natürlich war er nervös.
Er hoffte, einen guten Eindruck machen zu können.
Noch nie hatte ihn jemand – abgesehen von Niall – seinen Eltern vorgestellt.
Und Niall's Eltern kannten ihn seit dem Kindergarten.
„Ich besuche meine Eltern nur sehr selten", erzählte Louis, als er den Wagen um eine scharfe Kurve lenkte.
Harry spürte, wie ihm übel wurde.
Etwas, das ihm leicht passierte, sobald er in einem ungewohnten Auto auf dem Beifahrersitz saß. Noch schlimmer erging es ihm auf der Rückbank.
Die Übelkeit schien an diesem Abend besonders stark zu sein.
„Warum das denn?", hakte er also mit einem flauen Gefühl in der Magengegend nach und hoffte, dass Louis nicht bemerkte, dass er kurz davor stand, sich in den Fußraum seines alten Chevrolets zu übergeben.
Dieser hingegen zuckte nur beide Schultern. „Das Verhältnis ist ein bisschen angespannt", erklärte er. „Außerdem verbringe ich viel Zeit in der Arbeit."
Ein bisschen angespannt?
Harry hätte gern gewusst, was genau er damit meinte.
Er wollte allerdings nicht neugierig wirken, weshalb er seinen Blick einfach nach draußen auf die vorbeiziehenden Lichter des abendlichen Londons richtete.
Dafür traf ihn die nächste Frage wie ein Schlag.
„Was ist eigentlich mit deinen Eltern?", hakte Louis nach. „Du hast noch nie etwas erzählt..."
Augenblicklich huschte ein Schatten über Harry's Gesicht. Ein dunkler Schatten.
Louis bereute seine Frage noch im gleichen Augenblick.
Schließlich hielt der Wagen an einer roten Ampel und Harry wich dem Blick seines Freundes aus. „Naja, so viel gibt es da nicht zu erzählen", antwortete er, noch immer unsicher, was er mit seinen Händen anstellen sollte. „Meine Mutter starb bei einem Autounfall, als ich fünf Jahre alt war und mein Vater redet nicht mehr mit mir."
Louis schluckte.
Das hatte er nicht erwartet.
„Er redet nicht mehr mit dir?", hakte er zögerlich nach und versuchte, Harry's Gesichtsausdruck zu deuten.
Doch er war völlig leer.
„Nein", antwortete er und schluckte. „Weil ich Schuld an ihrem Tod bin."
Louis zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte irritiert den Kopf. „Blödsinn", rutschte es ihm heraus. „Du warst fünf Jahre alt, wie solltest du bitte Schuld an einem Autounfall gewesen sein?"
Harry spürte, wie sein gesamter Körper sich anspannte.
Zu der Übelkeit gesellte sich nun auch ein starkes Ziehen in der Magengegend.
„Es war schon spät am Samstagabend", gestand Harry und sah aus dem Fenster. „Damals habe ich unheimlich gern Schokolade gegessen. Leider hatten wir keine mehr zu Hause, und ich habe nicht aufgehört zu quengeln, bis sie noch einmal losgefahren ist, weil sie mir einfach keinen Wunsch abschlagen konnte..."
Fassungslos starrte Louis auf Harry, der den Blickkontakt um jeden Preis vermeiden wollte.
So bemerkte er die grüne Ampel erst, als hinter ihm jemand kräftig hupte.
„Meine Güte, Harry, du warst fünf Jahre alt", antwortete er, ehe er die Kreuzung überquerte. „Du konntest unmöglich wissen, dass das passieren würde."
„Wäre ich nicht so dickköpfig gewesen, könnte sie heute noch leben", entgegnete Harry, der keine Gnade mit sich selbst zu haben schien. „Mein Vater wäre kein Säufer, der unser gesamtes Geld in der örtlichen Spielhalle verzockt hat und wahrscheinlich hätte ich mein Studium mit besseren Noten abgeschlossen, wenn ich nicht in jeder freien Minute hätte arbeiten müssen, um das Ganze zu finanzieren."
Louis wusste gar nicht mehr, was er dazu sagen sollte.
Er konnte das Beben in Harry's Stimme hören.
Dieses Beben, das die Menschen immer dann in ihren Stimmen hatten, wenn etwas sie innerlich zerriss.
„Meine Schwester ist mit sechzehn ausgezogen und ich habe viel Zeit bei Niall und dessen Familie verbracht, bis wir für das Studium in eine gemeinsame Wohnung gezogen sind", erzählte Harry und holte tief Luft, um die aufkommenden Gefühle ertragen zu können.
Tröstend legte Louis eine Hand auf Harry's Oberschenkel, als sie an der nächsten Ampel hielten. „Es tut mir so leid, Harry."
Harry wich dem Blick seines Freundes aus. Er zuckte lediglich die Schultern. „Da kann man nichts machen", kommentierte er und fixierte seine frisch geputzten Schuhe. „Die Dinge sind nun einmal, wie sie sind."
Louis konnte den Schmerz in Harry's Worten hören, auch wenn er um jeden Preis versuchte, diese Tatsache vor ihm zu verbergen.
Er hatte nicht gewusst, dass Harry es so schwer gehabt hatte, und auch hatte er nicht gewusst, dass er sich insgeheim die Schuld für den Tod seiner eigenen Mutter gab – nur weil er ein unschuldiges Kind mit der unstillbaren Lust auf Schokolade gewesen war.
Welches Kind hätte nicht gequengelt?
Welches Kind liebte keine Schokolade?
Welches Kind hätte nicht alles dafür getan, am Samstagabend an ein Stück Schokolade zu kommen?
Louis konnte es in Harry's Augen sehen.
Sie waren hart, kompromisslos, unversöhnlich.
Er war tatsächlich der festen Überzeugung, dass die ganze Katastrophe seine Schuld war.
Vielleicht erklärte das diese tiefe Traurigkeit, die Louis immer in ihm gespürt hatte. Dieses tiefe Gefühl eines Verlustes, das sich in den vielen Tragödien und Dramen in seinem Bücherregal widerspiegelte.
Louis wollte nicht länger auf dem Thema herumreiten.
Er bemerkte, dass Harry noch nicht so weit war.
„Ich bin stolz auf dich", sagte er also, und plötzlich richtete Harry's Blick sich ganz automatisch auf ihn.
Irritiert.
„Was?"
„Du bist deinen Weg doch trotzdem gegangen", erklärte Louis mit einem Lächeln auf den Lippen. „Obwohl du allen Grund gehabt hättest, aufzugeben. Du hast dein Studium trotzdem durchgezogen, obwohl die Umstände so schwierig waren. Das ist doch ein Grund, stolz auf sich zu sein – oder findest du nicht?"
Ein ehrliches Lächeln fand sich plötzlich auf Harry's Lippen.
So hatte er die ganze Sache noch nie gesehen.
„Vielleicht hast du Recht", murmelte er, während er sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
Ja, das Aufgeben war für ihn nie ernsthaft in Frage gekommen.
Es wäre gelogen, zu behaupten, er hätte nie mit dem Gedanken gespielt.
Es wäre natürlich der einfachste Weg gewesen, das Studium abzubrechen.
Aber auch Niall hatte ihn ermutigt und ihn unterstützt, wo auch immer er konnte.
Er war nicht allein gewesen.
Irgendwie hatte er sich trotzdem durchgebissen.
Harry hatte gar nicht mitbekommen, wie Louis den Wagen auf den Parkplatz eines imposanten Hauses in einem Londoner Vorort gelenkt hatte.
Die Einfahrt wie der Vorgarten waren zwar klein, doch das Haus schien von außen mehr eine alte Villa zu sein, als ein gängiges Wohnhaus in einer Großstadt.
Louis stellte den Motor ab und bedachte Harry mit einem prüfenden Blick. „Bist du dir sicher, dass du nicht umkehren willst?"
Harry winkte zügig ab. „Es ist lange her, Louis", sagte er, nun mit gefestigter Stimme, obwohl er wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte, als er antwortete. „Ich komme damit klar."
Obwohl Louis meilenweit gegen den Wind riechen konnte, dass Harry ihn anlog, wollte er sich ihm nicht aufdrängen.
Er spürte instinktiv, dass die Zeit für ihn noch nicht reif war, darüber zu sprechen – und vielleicht würde sie das auch nie sein.
Manche Menschen sprachen nie über die Hölle, die sie erlebt hatten.
Andere wiederum erzählen bereitwillig von ihren Traumata, um sich den Kummer von der Seele zu reden.
Louis wusste nur nicht, zu welcher Sorte Mensch er selbst gehörte.
Die beiden Männer stiegen also aus dem Auto, und Harry staunte über die aufwändige Architektur des Gebäudes.
Der Stuck an dessen mittlerweile ausgeblichenen, in Erdtönen bestrichener Außenwand war ungewöhnlich detailliert.
Seine Knie waren vor Nervosität ganz weich, als Louis die Klingel drückte.
Ein ermutigendes Lächeln fand sich auf dessen Lippen, als er sanft Harry's Hand drückte.
Noch nie hatte er irgendjemanden seinen Eltern vorgestellt.
Doch das war nur einer der Gründe, warum Louis selbst nicht wusste, wie dieser Abend enden würde.
Seine Eltern hatten keine Ahnung davon, dass dieser Jemand, den er ihnen vorstellen wollte, ein Mann war.
Als die Tür des Hauses sich allerdings öffnete, traute Harry seinen Augen kaum.
Für einen Moment zweifelte er an seinem Verstand, hätte sich am liebsten in den Arm gekniffen, um zu sehen, ob er nicht doch träumte.
Er konnte nicht sofort begreifen, was er vor sich sah.
„Arthur?"
Der Rektor blickte irritiert in Harry's Gesicht. „Was machen Sie denn hier?"
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Hallo meine Lieben,
ich wünsche euch einen schönen Donnerstagabend.♥️
Für mich ist immer schon Wochenende.🕺
Ich hoffe, ihr hattet eine schöne Woche.
Was glaubt ihr, wie wird es weitergehen?
Bin gespannt auf eure Kommentare!♥️
All the love,
Helena xx
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