Sommerchallenge: Welcome Home
Ich habe mich schon seit dem Ende des Frühlingswettbewerbs auf die Sommechallenge der zehnbrieffreunde gefreut. Ich war gespannt, was für Inspiration ich finden würde. Dann habe ich allerdings Prompt 4 gesehen: "You still crave lemonade, but it doesn't satisfy you as much as it used to. You still crave summer, but sometimes you mean summer, five years ago."
Der Prompt spricht mir aus dem Herzen. Mein "dieser eine Sommer" ist zwar erst drei Jahre her, aber lasst euch sagen, ich vermisse ihn. Meine Geschichte basiert auf ein wenig Wahrheit, aber natürlich mit viel mehr Drama. ;)
Viel Spaß beim Lesen!
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Meine Schwester öffnet das Fenster und ich erstarre. Eine warme, dicke Brise weht in unser Zimmer herein. Stoff streift über meinen bloßen Oberarm. Der Vorhang am Fenster weht im Wind und streckt sich nach mir aus, ein neugieriger Finger, der versucht, mich einzufangen.
Es ist der Morgen nachdem wir erfahren haben, dass wir unsere letzte Prüfung für dieses Semester bestanden haben. Laut Wetterbericht sollen wir heute zum ersten Mal in diesem Jahr Temperaturen von mehr als 30 Grad bekommen. Ich kann das Lächeln meiner Schwester förmlich riechen.
„Ferien!", seufzt sie. Ihre Stimme verfängt sich im Wind. Als gemeinsamer Chor dringen die Melodien an mein Ohr.
„Ferien." Dagegen klinge ich wie ein Auto, das nicht anspringen will.
Ein fast lautloses Seufzen entkommt Feli. Na toll. Ich bin kaum aus dem Bett aufgestanden, da habe ich ihre gute Laune bereits verdorben.
„Och, Sam... Du hast dich so sehr auf den Sommer gefreut", versucht sie es. „Wir können gleich Eis essen fahren! Oder wir gehen mit dem SUP raus!"
Ich brauche eine Weile, ehe ich antworten kann. Es gab eine Zeit, da hätten diese Vorschläge Begeisterung in mir geweckt. Ich versuche so sehr, wieder diese Person zu sein. Manchmal schaffe ich es nicht. Aber heute, am ersten prüfungsfreien Ferientag, Feli zuliebe...
„Oder wir machen beides." Diesmal klinge ich eher wie das Roadtrip-Auto, das mit surrendem Motor über die Straßen Südfrankreichs braust.
„Yassss!" Feli greift nach meinem Arm und zieht mich auf den Flur hinaus. Ihre Finger verheddern sich mit einer meiner Strähnen. Die langen Haare kitzeln mich an den Schultern. Feli muss sie mir dringend wieder schneiden. Es ist noch früh am Morgen und bereits jetzt bildet sich Schweiß in meinem Nacken.
Wir stopfen uns in unserem Lieblingscafé mit Eiscreme voll und dann fährt Feli uns zu dem Teich, den wir als unseren See bezeichnen. Mittlerweile sind wir geübt darin, die SUPs aufzubauen. Seit fünf Jahren nutzen wir jede freie Minute, um auf unseren See hinauszupaddeln. Ich liebe die Geräusche, die mich hier draußen umgeben. Das Plätschern, wenn das Paddel in das Wasser eintaucht, ist Musik in meinen Ohren. Tropfen spritzen gegen meine Knöchel. Der Geruch nach Sommer umgibt mich.
Ich bleibe hinter Feli und versuche, ihre winzige Bugwelle anzusteuern. Meine Füße wandern wie von selbst von dem parallelen SUP-Stand in Schrittstellung. Für einen winzigen Moment beschleunigt mein Board. Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, dass die Tropfen auf meinen Wangen Seewasser sind.
Zurück am Ufer verkündet Feli, sie habe eine Überraschung für mich. Sie befördert mich in ihr Auto und ich verliere schon nach zwei Straßen die Orientierung. Das Gefühl von Dunkelheit, das mich umgibt, lässt mich schaudern. Dann parkt Feli irgendwo ein und lässt mich allein zurück. Meine Atmung beschleunigt sich. Ich streiche über meine nackten Arme unter den T-Shirt-Ärmeln. Unter meinen Fingerkuppen spüre ich meine eigene Gänsehaut. Im nächsten Moment streiche ich über Stoff. Ich muss die Armbänder nicht sehen, um zu wissen, in welcher Reihenfolge sie an meinem Arm liegen. Was sie bedeuten.
Ich beginne am Handgelenk.
Gelb. Freiheit. Der Stoff ist dünn und fransig. Lang wird das Armband nicht mehr halten. Ursprünglich war es darauf ausgelegt, nur für ein paar Wochen getragen zu werden. Ich habe es seit neun Jahren an meinem Arm.
Grün. Freundschaft. Es ist nur wenig stabiler als das Gelbe.
Blau: Friede. Rot: Vertrauen. Schwarz-
Feli reißt die Autotür auf. „Samantha-Schatz, ich habe dir etwas mitgebracht!"
Ich ziehe eine Grimasse. Wir sind uns einig, dass unsere vollen Namen schrecklich sind, und benutzen sie nur in Notfällen. Oder um die andere zu provozieren.
Eine warme Tüte findet ihren Weg in meine Hände. Meine Nase kitzelt von einem süßen Geruch. Zögerlich knabbere ich an einer Art Gebäckstück.
Mein Geschmacksinn ist besser als der der meisten Menschen. Ich erkenne sofort, was ich zwischen den Zähnen habe. Und doch schmecken die Churros nach Staub.
„Köstlich", schwärmt Feli.
„Das Nutella fehlt", murmele ich.
„Das wäre jetzt wirklich die Kirsche auf der Torte."
„Nee. Das Nutella auf dem Churro."
„Boah, Samantha!"
„Felicitas."
Nach drei Churros gebe ich auf. Feli muss sie für mich essen, ein Gedanke, der vor fünf Jahren unmöglich gewesen wäre. Auch die Konversation übernimmt Feli für uns beide. In ihrem fröhlichen Ton ist nicht einmal für mich ein Zittern zu erkennen. Sie hört sich an wie eine Studentin, auf die acht Wochen Semesterferien warten. Doch als wir an diesem Abend im Bett liegen, in dem Zimmer, das wir uns mit dreiundzwanzig Jahren auch noch teilen, höre ich Feli leise weinen.
„Bitte nicht", flehe ich sie an.
Aus der Dunkelheit erkling ein Schniefen. „Ich will doch einfach nur, dass du glücklich bist. Dass es so ist wie früher."
„Das hättest du mir vor fünf Jahren sagen müssen." Ich kann den Sarkasmus nicht unterdrücken. „Dann wäre ich vielleicht nicht so dumm gewesen, mich von dem Riff erwischen zu lassen."
Feli schnappt nach Luft. „Sam... vielleicht können wir-"
Ich weiß, was sie vorschlagen will. Jedes Jahr um diese Zeit kommt sie mit der Idee auf. Zweimal haben wir es sogar versucht.
„Vergiss es, Feli", schnaube ich, „Blinde können nicht surfen."
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„Okay. Das reicht. Wir bringen die alte Gruppe wieder zusammen."
Mit diesen Worten hat Feli mich an diesem Morgen geweckt. Ich habe die ganze Nacht gehört, wie sie sich in ihrem Bett herumgewälzt hat. Irgendetwas ist ihr ständig durch den Kopf gegangen. Der Spruch hat mich dennoch eiskalt erwischt. Nachdem sie ihn geäußert hat, ist Feli sofort verschwunden.
Ich sitze schon seit Stunden allein auf unserem Balkon. Unsere Wohnung liegt im ersten Stock und ich kann jedes Auto hören, das über die Straße braust. Jedes Mal hoffe ich, dass Feli zurückkommt.
Als tatsächlich der Kies in unserer Einfahrt knirscht, weiß ich sofort, dass diese Geräusche nicht von Felis Polo kommen. Das Auto ist größer und der Motor brummt tiefer. Trotzdem ist es ganz klar meine Schwester, die brüllt: „Sam! Bewege deinen Hintern hier runter, aber pronto!"
Mit pronto kann ich nicht dienen, ohne Feli brauche ich eine Weile, bis ich mich die Treppe hinuntergetastet habe. Ich stemme die Haustür auf und heiße Sommerluft schlägt mir entgegen. Gemeinsam mit einer männlichen Stimme: „Ich war echt ewig nicht mehr hier."
„Was ziehst du auch ans andere Ende von Deutschland?", schießt eine junge Frau zurück, „Jule und ich haben die Zwillinge erst letzte Woche besucht."
Ich erstarre. Das kann nicht sein. Sie können nicht alle hier sein. Isa und Jule, ja, aber nicht Louis, und schon gar nicht-
„Mit dem Bodensee können eure Städte einfach nicht mithalten." Matti. Der sechste der Chaos-Camper. Oder der erste, wenn man ihn fragt.
Mir entkommt ein erstickter Laut. Arme umfassen mich, und ich weiß, dass es Isa ist, weil sie mich zur Begrüßung jedes Mal hochhebt. Für einen Moment schlinge ich meine Beine um ihre Taille, dann greifen weitere Hände nach mir – Jules feingliedrige Finger, die kühlen, schmalen Hände, die zu Louis gehören, und mit einem Mal ist da auch Mattis kräftiger Griff.
Mir ist egal, was das bedeutet, was Feli vorhat, und dass meine Gefühle verrücktspielen. Ich lasse mich in ihre Umarmungen fallen und lache und weine mit ihnen.
Jeder der vier bemüht sich, Feli und mich ab und zu zu besuchen. Wir studieren in verschiedenen Unis und in den Semesterferien drohen Prüfungen. Trotzdem schaffen sie es immer wieder, Zeit für uns zu finden. Aber in dieser Konstellation, zu sechst, waren wir das letzte Mal vor fünf Jahren unterwegs.
Und das liegt nicht nur an mir.
Für eine Weile haben sich Jule und Louis gemieden wie die Pest. Nach einer misslungenen Liebeserklärung von Louis an Jule wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dass sie jetzt nebeneinander stehen gleicht einem Wunder. Meine Wangen schmerzen, so sehr grinse ich.
Feli und Isa lassen mich mit den anderen drei Chaoten zurück. Wir nehmen in den Gartenstühlen Platz, und dann startet eine Runde voller „Weißt du noch?" und „Damals, da habe ich..." und „Warst du nicht mal...?"
Matti erzählt mit etwas zu lauter Stimme Anekdoten und Louis flucht auf Französisch und Jule ist bis auf ihre sarkastischen Kommentare recht still. Die Überraschung und Aufregung in mir machen Sehnsucht Platz. Feli lag ein wenig daneben – es ist nicht der Sommer, auf den ich mich so sehr gefreut habe. Sie sind es: die Chaos-Camper. Die Erinnerung an den Sommer mit ihnen.
Eigentlich sind es fünf Sommer, die wir gemeinsam verbracht haben. Feli und ich hatten nach einer Ferienfreizeit für Vierzehnjährige gesucht. Gefunden haben wir ein Surfcamp an der französischen Atlantikküste. Es war ein riesiger Zufall, dass wir mit Isa, Jule, Louis und Matti in eine Gruppe gesteckt wurden. Und ein noch größerer Zufall, dass wir uns im Folgejahr wieder im Camp trafen, ohne uns abzusprechen. Das war das Jahr, in dem sich unsere Gruppe so richtig formte. Als wir sechzehn waren und zum dritten Mal nach Frankreich fuhren, kannte uns inzwischen jeder Betreuer und jeder Surfcoach. Wir bildeten uns ein, etwas wie eine Camp-Legende zu sein. Ganz egal, worüber sich die Betreuer beschwerten – dass Camper in die nächste Stadt getrampt waren, dass Jugendliche heimlich am Strand geschlafen hatten, dass sich die Coaches zu einer Party mit den Teilnehmern hatten überreden lassen –, wir waren garantiert dabei gewesen.
Und dann kam der Sommer vor fünf Jahren. Mit 18 waren wir eigentlich schon zu alt für das Camp, aber für uns wurde ein Auge zugedrückt. Wir verbrachten mehr Zeit mit den Coaches als den anderen Teilnehmern, nahmen eine Welle nach der nächsten und fühlten uns unantastbar. Bis wir es nicht mehr waren. Bis Blut auf dem Neoprenanzug war und das Board in zwei Hälften zerbrochen.
„Wir sind readyyy", zwitschert Feli. Ich brauche eine Weile, ehe ich zurück in der Gegenwart ankomme.
„Bereit wofür?"
„Für unseren Roadtrip natürlich." Isa führt mich zu dem fremden Auto, das, wie er stolz erzählt, Mattis erster eigener Van ist. Die Jungs beanspruchen die vorderen Plätze für sich, Feli und Jule müssen auf die hintere Bank kriechen. Isa legt ihre Beine auf meinen Schoß und ich lehne den Kopf an das Fenster. Matti ist ein katastrophaler Autofahrer. Er nimmt die Kurven zu schnell und ich stoße alle paar Minuten mit diversen Körperteilen gegen die Scheibe. Nachdem wir den Greatest Showman-Soundtrack zweimal durchgehört haben, verschlimmert sich die Fahrt noch einmal merklich.
„Ich bin nicht so gut im Fahren bei Nacht", gibt Matti irgendwann zu, „Hat jemand Bedürfnisse, mich abzuwechseln?"
„Gern, mir macht die Dunkelheit nichts aus." Nach meinen Worten legt sich Schweigen über das Auto. Bis Isa schnaubt. „Da lasse ich noch lieber Jule fahren als dich, da sind unsere Überlebenschancen minimal höher."
„Hey!", tönt es von hinten, „Ich bin mir sicher, dass ich die Fahrprüfung dieses Mal bestehe!"
„Nach sechs Versuchen wäre das mal angebracht, ja", stichelt Feli.
„Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn." Das war Louis. Ich muss lachen: „Meinst du damit Jule oder mich?"
Wie sich herausstellt, hat er Jule gemeint und muss dem Schuh ausweichen, den sie nach ihm wirft. Ich spüre den Luftzug an meiner Wange. Zu unser aller Glück überlebt Louis das Geschoss und übernimmt das Steuer. Feli, Isa und Louis wechseln sich mit dem Fahren ab und bringen uns sicher durch die Nacht. Wir spielen Wer bin ich?, bis ich auf Jules Zettel „Louis" schreibe („Ich weigere mich, der Franzose zu sein!") und wechseln dann zu Stadt-Land-Fluss. Mittlerweile muss der nächste Morgen angebrochen sein, doch Feli macht keine Anstalten, das Auto zum Stoppen zu bringen. Niemand will mir sagen, wohin wir fahren. Bis die Straße plötzlich steil bergab führt und im nächsten Moment wieder ansteigt. Ich setze mich kerzengerade hin.
Die Hui-Strecke. So haben wir den Straßenabschnitt vor dem Campingplatz damals genannt. Feli steuert durch eine Rechtskurve. Dann passiert es erneut – erst runter, dann rauf.
„Huiii", sagt Matti.
Beim dritten Mal fällt der Rest ebenfalls ein. „Huiiii! Und... Kurveeee!"
„Nein", flüstere ich. Meine Finger wandern über meine Armbänder. Jeder Surfcamp-Teilnehmer bekommt sie umgelegt, und jede Farbe markiert eine Altersklasse. Seit fünf Jahren ist meine Sammlung komplett. Ich kann die Armbänder nicht ablegen, brauche die Erinnerung an das, was ich in den Sommern gelernt habe. Gelb – Freiheit. Grün – Freundschaft. Blau – Friede. Rot – Vertrauen. Schwarz... Ich weiß nicht, was Schwarz für mich heißt. Ich will nicht, dass es Dunkelheit ist.
Isa greift nach meiner Hand. „Welcome Home."
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Ich zittere, während wir in Amiens-sur-Mer ankommen. Ich zittere, während Louis uns auf dem Campingplatz anmeldet. Ich zittere, während Feli das Auto parkt. Dann öffnet jemand meine Autotür und Frankreichs Sommerluft schlägt mir entgegen und es ist wärmer als in Deutschland und ich zittere noch mehr.
Isa zieht mich zur Seite. „Sam, wenn es nicht okay für dich ist, hier zu sein, drehen wir um."
Ich höre sie kaum. In meinen Ohren rauschen Wellen. Nicht mein eigenes Blut, das ich immer dann höre, wenn ich Panik bekomme. Sondern der Atlantik, der nur fünfhundert Meter entfernt ist. Ich muss losgelaufen sein, denn meine Schuhe sinken in Sand ein. Nicht für lang – ich schiebe mich an der Schranke vorbei und erreiche die Teerstraße. Autos fahren hier kaum, es werden nur ab und zu die Fressbuden beliefert.
Meine Freunde folgen mir. „Wir müssen nachher unbedingt zu Chicken Joe, ich habe einen Bärenhunger", verkündet Matti.
Aber wir halten nicht bei Chicken Joe Burgers. Auch nicht bei dem Stand mit den Crêpes oder der Bude mit den vegetarischen Wraps. Der Süßigkeitenwagen lockt mit Zuckerduft, doch unser Weg führt uns immer weiter die Düne nach oben.
Mit jedem Schritt wird das Rauschen lauter. Salz benetzt meine Zunge und der Seewind zerzaust meine Haare. Ich strecke meine Hände aus und finde den Palisadenzaun, der den oberen Teil der Düne vom Strand abgrenzt.
„Amiens-sur-Mer", haucht Feli. „Sieh' dich vor. Wir sind wieder da."
Wir rennen los. Sand stiebt um uns auf. Feli verschränkt ihre Finger mit meinen, nicht, um mich zu leiten, sondern weil wir es immer so gemacht haben – Hand in Hand stürmen wir die Düne nach unten. Unser Schwung trägt uns weiter und weiter nach vorn, nach Hause. Ich halte nur lang genug inne, um meine Schuhe abzustreifen, dann erreiche ich das Wasser. Eiseskälte kriecht meine Füße hinauf. Gischt sprüht auf meine Hose. Es ist wundervoll.
Der Ozean atmet mit mir, streckt seine Finger nach mir aus und zieht sie dann wieder zurück. Ich springe über die nächste Welle hinweg. Das hier ist Amiens. In diesen Gewässern bin ich gewissermaßen aufgewachsen. Hier ist die See kein unzähmbares Biest, sondern eine alte Freundin, die mich willkommen heißt.
Matti spielt über seine Musikbox Welcome Home von Radical Face ab und wir finden uns allesamt Arm in Arm wieder. Zu meiner Rechten höre ich ein Schniefen, das Jule sich garantiert nicht eingestehen würde, wenn ich sie danach fragte. Links von mir steht Isa, dann Feli, und Matti am Rand. Das bedeutet, dass Louis auf Jules anderer Seite steht. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Vielleicht liegen Jules überkochende Emotionen doch nicht nur an Amiens.
Irgendwann gewinnt der Hunger und wir kehren zu der Ansammlung an Hütten zurück, die wir großzügig als „Dorf" bezeichnen. Bis zu Chicken Joe schaffen wir es nicht. Zu dumm, dass der Süßigkeitenwagen am dichtesten beim Strand steht.
„Je voudrais douze Churros et un Nutella ", sage ich den einzigen Satz, den ich auf Französisch beherrsche. Louis hustet etwas Unverständliches. Er bekommt keine Gelegenheit, sich über meine französische Aussprache zu beschweren, denn wir bekommen unsere Churros überreicht.
„Tom sieht genauso aus wie immer", flüsterte Isa mir zu. Der Churroverkäufer heißt nicht wirklich Tom, wir haben ihn in unserem dritten Jahr so getauft. Er spricht kein Wort Deutsch oder Englisch und weigert sich, selbst mit Louis auf Französisch zu kommunizieren. Dafür macht er die besten Churros der Welt.
Ich warte nicht, bis wir uns einen Platz gesucht haben. Mit Matti kämpfe ich um die Tüte und er gewinnt, aber ich kann einen Churro an mich reißen. Süße explodiert in meinem Mund. Der Churro ist das Paradies für meine Geschmacksknospen. Zucker und Teig und frittierte Kruste ergeben das perfekte Zusammenspiel. Und als Feli mir den Churro dann noch in Nutella eintaucht, bin ich im Himmel.
Ich könnte heulen. Ich hatte Angst, an diesen Ort zurückzukehren. Es wird nie wieder so werden, wie es einmal war, das ist mir klar. Die Erinnerungen sind alles, was mir geblieben ist – an das Pink des Süßigkeitenwagens und das Grau des Wassers und die regenbogenfarbenen Bänke; das Zeichen mit der Sonne und der Welle, das wir überall verteilt haben; die Sticker mit den Hundepfoten, die jemand in unserem zweiten Jahr angeschleppt hat.
Diese Erinnerungen wollte ich mir nicht zerstören. Jetzt bin ich hier und es ist nichts zerstört, sondern ich fühle mich ganz. Nach fünf Jahren bin ich endlich wieder vollständig.
Keiner von uns hat in der Nacht viel Schlaf abbekommen. Satt und zufrieden kehren wir auf den Campingplatz zurück. Instinktiv will ich nach links laufen, wo die Zelte des Surfcamps stehen. Unser Stehplatz ist weiter rechts. Wir folgen dem vertrauten Pfad, der auch zu den Toiletten führt. Auf halbem Weg halte ich inne. Mit einem breiten Grinsen und einem großen Schritt überwinde ich eine Abflussrinne im Boden.
„Ich habe nie verstanden, warum du diese Rinne so sehr liebst", murmelt Louis.
„Sie ist Teil des Camps. Man muss sie einfach lieben."
Matti stimmt mir zu und springt nach mir über die Rinne. Ich überlasse es den anderen, das Viererzelt aufzubauen. Die Jungs wollen im Van schlafen, können es aber trotzdem nicht lassen, mit ihren mehr oder weniger hilfreichen Hinweisen dazwischenzufunken. Ich lasse mir von Feli mein Handtuch heraussuchen und nutze die Zeit, um duschen zu gehen.
Auch nach fünf Jahren habe ich keine Schwierigkeiten, das Waschhaus zu finden. Ich ignoriere die erste Toilettentür, die sich nicht verschließen lässt. Vermutlich wurde das Schloss mittlerweile ausgetauscht, ich gehe aber kein Risiko ein. Die zweite Duschkabine auf der linken Seite ist die einzige mit zuverlässigem Warmwasser. Ich lächele, als die ersten heißen Tropfen auf meinen Rücken prasseln. Sauber und zufrieden kehre ich zu meinen dreckigen und genauso zufriedenen Freunden zurück. Wir schlafen einige Stunden. Wir spielen Karten mit einem Brailleschrift-Deck, und Louis gewinnt. Wir werden unruhig.
„Gehen wir Boards ausleihen", sagt Matti irgendwann, was wir alle denken. Fast alle. Ich lasse ein Lächeln auf meinem Gesicht erscheinen. „Geht ihr nur vor. Ich setze diese Runde aus, ich brauche noch ein wenig Ruhe."
Die betroffenen Blicke meiner Freunde kann ich mir sehr lebhaft vorstellen. Keiner von ihnen wagt es, mir zu widersprechen.
„Wir können auch noch eine Weile warten", schlägt Isa vor.
„Nein." Wenn ich mir in einem sicher bin, dann darin. „Auch ihr wart fünf Jahre nicht hier. Worauf wartet ihr noch? Ab ins Wasser! Nehmt ein paar Wellen für mich mit."
Zögerlich verabschieden sie sich von mir. Erst, als ich sie nicht mehr hören kann, weine ich.
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Der Geruch von Piniennadeln steigt in meine Nase. Wie kühle Finger streichen die Schatten der Bäume über meine Haut. Die Zikaden wetteifern darum, wer am lautesten rufen kann. Ich wandere durch das Waldstück hinter den Dünen. Sicherheitshalber halte ich mich an den Hauptweg, der schnurgerade durch den Wald führt. Meine Gedanken hängen zweihundert Meter zu meiner Linken fest, wo sich der beste Surfspot von Amiens befindet. Ich kann nicht mehr surfen. Mal abgesehen davon, dass ich vor fünf Jahren das letzte Mal auf einem Surfboard stand, gibt es für mich keine Möglichkeit mehr, das Meer abzuschätzen. An der Ostsee habe ich zweimal versucht, Wellen zu reiten. Beide Male musste Feli mich aus dem Wasser ziehen, weil ich in die Impact Zone geraten und nicht mehr aus den brechenden Wellen herausgekommen war.
Etwas prallt gegen meine Beine. Ich strauchele und gehe zu Boden. Eine feuchte Zunge fährt über meine Wange und ein fedriger Schwanz schlägt gegen meine Rippen. Der Hund bellt begeistert, ich hätte ihn schon viel früher hören sollen.
„Sie ist freundlich", ruft eine Stimme auf Englisch. „Es tut mir leid, sie ist sonst nicht so."
Ich klopfe den Sand von meinen Kleidern und drehe mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. „Alles in Ordnung."
Der Mann zieht hörbar den Atem ein. „Das kann nicht sein. Sam?"
Die Hündin springt an mir hoch. Ich falle auf die Knie, und wieder wirft der Golden Retriever sich gegen mich. Diesmal vergrabe ich meine Hände in ihrem Fell. Sie leckt die Tränen von meinen Wangen.
„Ich kann es nicht glauben", stößt Jordy aus.
„Ich auch nicht", bringe ich hervor. Kräftige Hände packen mich und ziehen mich nach oben, in seine Arme hinein. Jordy ist mittlerweile fast fünfzig, aber seine Umarmung ist fest wie immer. Das letzte Mal, dass mich diese Arme gehalten haben, dachte ich, ich sterbe. Ich wäre vermutlich wirklich ertrunken, wenn Jordy nicht gewesen wäre.
„Wie geht es dir? Und Feli und den anderen? Gott, Sam... ich dachte schon, ich sehe dich nie wieder."
„Wir sind hier", schluchze ich in seine Schulter, „Wir sind alle hier."
„Die anderen sind surfen, nehme ich an?"
Eigentlich will Jordy eine andere Frage stellen. Ich kann es ihm anhören. Ruckartig wische ich die Tränen ab. „Ja. Ich habe mich nicht getraut."
Er schweigt so lang, dass ich mir wünsche, ihn sehen zu können. Dann höre ich das Lächeln in seinen Worten. „Würdest du mit deinem Lieblingssurfcoach rauspaddeln?"
Ich bücke mich, um Lia zu streicheln, die treueste Camp-Hündin der Welt. „Musst du keine Stunden geben?"
„Heute ist Montag."
Natürlich. Selbst vor fünf Jahren war Montag schon der Tag, an dem alle Camper einen Ausflug in die nächste Großstadt machen. Die Coaches haben heute frei.
„Ich habe noch das 6-foot-Softtop", lockt Jordy. Eigentlich surfen die Camper auf sieben und acht Fuß langen Boards. Ich musste zwei Jahre betteln, bis Jordy mir das kürzere Board gegeben hat.
Lia fiept ermutigend. In Jordys Nähe habe ich mich schon immer sicher gefühlt. Er würde niemals zulassen, dass einem seiner Schüler etwas zustößt. Schon gar nicht seiner Lieblingsschülerin.
„Na dann kann ich nicht widerstehen."
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Jordy hat mich auf einem Stuhl vor Chicken Joe geparkt. „Heute Abend kommt ihr ins Camp und wir setzen uns zusammen", waren seine Worte, bevor er zum Zeltplatz geeilt ist, „Jetzt bringen wir dich erstmal zurück aufs Board."
Er ist in Rekordzeit zurück, ohne Lia, aber mit Surfbrett und Neoprenanzug. Der Wet Suit passt mir wie angegossen. Ich kann die Nähte der grünen Streifen an den Ärmeln ertasten. Jordy hat sich meinen Lieblingsanzug gemerkt.
Als Wasser unsere Knöchel umspült, murmelt er: „Ich kann deine Chaoten sehen. Sie haben sich ziemlich weit abtreiben lassen."
Ich horche auf. „Wie weit?"
„Keine Sorge. Vom Riff sind sie weit genug entfernt."
Jordy wartet ein Wellenset ab, dann paddeln wir nach draußen. Es ist einfach, seinen Anweisungen zu folgen. Jordy hat uns schon früh eingetrichtert, dass wir mit ihm scherzen können, so viel wir wollen, aber auf dem Wasser seine Befehle ausnahmslos gelten. Meine Arme brennen vom Paddeln. Mein Rücken protestiert und mein Kinn nähert sich immer wieder gefährlich nah dem Board an. Die Anstrengung gibt mir keine Gelegenheit zum Denken. Ich weiß nur, dass ich vor Freude heulen könnte.
Jordy gibt das Signal zum Innehalten. Ich setze mich auf das Brett und kreise mit den Füßen im Wasser. Meine Finger streichen über die Oberfläche, verflechten sich mit den winzigen Seitenwellen und spielen mit dem Ozean. Ich kann die Strömung fühlen. Jordy greift nach der Nase meines Boards, um mich vom Davontreiben abzuhalten. Für eine Weile genießen wir einfach nur das Auf und Ab des Meeres.
„Da kommt ein schönes Set", sagt Jordy schließlich.
Ich drehe mein Board und gleite wie von selbst in die liegende Position.
„Halten... halten..."
Ich atme im Takt des Meeres.
„Die bricht nach rechts!"
Ein Platschen verrät mir, dass Jordy sich ins Wasser hat fallen lassen. Das ist gut. Wenn er sein Board verlässt, kann die Welle nicht groß sein. Und dann kommt der Befehl, den ich schon hunderte Male gehört habe: „Paddle, paddle, paddle!"
Ich gebe alles. Wieder und wieder teilen meine Hände das Wasser. Mein Board hebt sich – der Ozean macht sich sprungbereit. Für einen Moment schwebe ich. Dann werfe ich mich nach hinten, mit allem, was ich habe. Mein Board wird unter mir fortgerissen. Die Leine um meinen Knöchel spannt sich ruckartig an. Schwimmend kämpfe ich gegen die Kraft der Welle an und kann dann endlich das Surfbrett wieder zu mir ziehen.
„Du hättest sie gehabt." Jordy klingt nicht enttäuscht. Aus seinem Mund ist jeder Satz eine Aufmunterung. Ich übernehme die Enttäuschung für uns beide.
„Ich kann es nicht."
„Dann bin ich ein schlechter Coach, wenn du nach fünf Jahren Unterricht mit mir nichts kannst."
„Du bist ein guter Coach. Ich bin nur eine miese Schülerin."
„Schon vergessen? Lieblingsschülerin?" Vor meinem inneren Auge kann ich sehen, wie er die Brauen hochzieht. „Wirfst du mir etwa einen schlechten Geschmack vor?"
Jetzt muss ich doch lachen.
„Du hast Angst", sagt Jordy, noch immer in diesem verständnisvollen Ton. „Das Riff liegt eine halbe Meile weiter südlich, und das weißt du, und trotzdem hast du Angst. Hör mir zu, Sam. Das ist okay."
Ich spreize die Hände auf der sonnengewärmten Oberfläche des Surfbretts. „Ich war so dumm", flüstere ich dem Wasser zu.
„Nein. Du warst berauscht."
Jordy hat recht. Ich hatte gewusst, dass es mein letzter Surftag im Camp sein würde, wir alle hatten es gewusst. Eigentlich waren wir schon zu alt gewesen. Also hatten wir die letzte Surfstunde in voller Länge ausgekostet, und Jordy hatte uns nach allen anderen noch weitersurfen lassen.
Der Tag war der schönste und schrecklichste meines Lebens. In diesem Moment war ich Teil des Ozeans gewesen. Jede neue Welle hatte mich in einen Rausch versetzt – der Freifall die Wellenfront hinunter war mein Lieblingsmoment. Diese eine Sekunde grenzenloser Freiheit. Und dann Eins sein mit dem Meer, die Welle reiten, dieses bockende, schäumende, liebevolle Monster. Vielleicht hatten wir am Rande gemerkt, dass wir zu weit abgetrieben waren. Es war uns egal gewesen. Für uns galt nur noch die nächste Welle. Und auf meiner nächsten Welle tauchte die Nase meines Boards zu tief ins Wasser ein. Ein simpler Fehler. Nosedive, washing machine. Das war mir schon hundert Mal passiert. Doch dieses Mal war da nicht nur Wasser, auf das mich die Welle niederdrückte, sondern das Riff. Knallhart und scharfkantig. Mein Board brach und mein Körper auch.
Ich hatte Glück gehabt, hatten die Ärzte gesagt. Die Schwellung in meinem Gehirn hatte nur den Sehnerv irreparabel geschädigt.
Diesen letzten Surftag würde ich für nichts in der Welt eintauschen. Nicht einmal für mein Augenlicht. Aber ich würde alles dafür geben, dieses Gefühl noch einmal zu spüren.
„Ich bin bei dir." Jordy legt eine Hand auf meine Schulter. „Amiens ist bei dir."
Meine linke Hand findet die Armbänder an meinem rechten Arm. Gelb – Freiheit. Grün – Freundschaft. Blau – Friede. Rot – Vertrauen. Schwarz... Hoffnung. Das schwarze Armband steht für Hoffnung.
Gemeinsam heben sich Jordys und mein Board. Eine Welle spült unter uns durch. Dieses Set fühlt sich anders an als das letzte. Der Wind hat gedreht und weht nun vom Ufer auf die offene See zu. Die Abstände zwischen den Wellen werden größer. Perfekte Surfbedingungen.
Bei meinen gescheiterten Surfversuchen an der Ostsee habe ich die Orientierung verloren. Schon beim Anpaddeln der Wellen wusste ich nicht mehr, wohin die Strömung ging. Jetzt bin ich mir sicher, dass links von mir die Hütte der Lifeguards steht, die ich anpeilen kann, wenn die Welle nach links bricht. Zu meiner anderen Seite ist der kahle Baumstamm mein Fixpunkt für rechtsbrechende Wellen. Ich muss ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er da ist. Jordy hat recht. Das hier ist Amiens-sur-Mer. Mein Herz schlägt im Takt dieses Ozeans.
Ich paddele los. Jordy sagt nichts, ich spüre nur seinen unterstützenden Griff am hinteren Ende meines Boards. Das Meer hebt mich an, meine Arme tauchen tief in das Wasser ein, und Jordy stößt mich nach vorn. Instinktiv bringe ich die Füße unter meinen Körper und richte mich auf. Ich werfe mein Gewicht nach vorn. Die Welle fängt mich ein, und dann surfe ich.
Der Freifall lässt meinen Bauch kribbeln. Ich drehe nach rechts ab, werde eins mit dem Wasser. Ich lag falsch. Nicht die Welle vor fünf Jahren war die beste meines Lebens. Diese hier ist es. Meine Sinne haben sich verschärft. Ich rieche Salz und Wind und Wasser, fühle die Tropfen und höre das mächtige Donnern des Ozeans. Und ich spüre die Freiheit, die Schnelligkeit, die Freude. Ich schreie mein Glück in die Welt hinaus und eine Möwe antwortet mir. Diese halbe Minute ist alles wert. Fünf Jahre Sehnsucht zahlen sich aus. Hinter mir bricht die Welle und ich drehe auf den Strand zu. Der Schlag des Weißwassers holt mich beinahe von meinem Board. Es gelingt mir, die Balance wiederzufinden, und ich reite die gebrochene Welle bis zum Ufer.
Schreie empfangen mich. Freudenschreie von Feli und Isa und Jule und Louis und Matti. Sie sind alle bei mir, haben meine Welle gesehen, jubeln mir zu und schlingen die Arme um mich. Matti hebt mich auf seine Schultern. Mit einem Mal ist da auch Jordy, der mit derselben Begeisterung in die Rufe meiner Freunde einfällt. Wir sind hier und wir sind am Leben und wir surfen. Schöner könnte ein Sommer nicht sein.
Und er hat gerade erst begonnen.
〰️〰️〰️
4800 Wörter
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