Kapitel 7
Ich verlangsamte das Tempo wieder, als ich den Bach plätschern hörte. Ich beschloss, eine Pause einzulegen und trabbte zum rauschenden Gewässer. Noah hatte seine anfängliche Angst verloren und hatte seine Hände nun sanft auf meinen Schulterblättern abgelegt.
Der Wald um uns herum war mit nächtlichem Geraschel gefüllt und der Mond blitzte nur vereinzelt durch die Baumkronen. Ich trat vorsichtig an das Ufer und trank gierig. Das Wasser war kalt und kühlte meine Kehle angenehm.
Noah rutschte vorsichtig von mir herunter und sah sich um. "Wow, das ist so wunderschön hier... Ganz anders als ich es in Erinnerung habe." Er sah mich an und lächelte. "Lonan, du bist der erste, mit dem ich so viel Spaß hatte..." Er lehnte sich an meine Schulter und schloss die Augen.
Ich hob den Kopf und erwiderte die Geste. Eng umschlungen standen wir eine sehr lange Zeit einfach nur da und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Noah spielte verträumt mit meinem Fell.
Dann musste er gähnen. Klar dass er müde war. Wir hatten schließlich auch einen langen und anstrengenden Tag hinter uns. Ich ging wieder leicht in die Hocke und Noah kletterte auf meinen Rücken. Ich lief langsam los. Durch das beruhigende Schaukeln musste Noah müde geworden sein, da er sich auf meinem Rücken hinlegte und so versuchte, die Balance zu halten.
Unterwegs stellte ich mir die Frage, warum ich ihm überhaupt vertraute. Mir fiel auf, dass es dazu absolut keinen Grund gab... Irgendwas in meinem Inneren protestierte, aber ich konnte nicht sagen warum.
Noahs Atem ging sehr ruhig, er musste unterwegs wohl eingeschlafen sein.
~
Noahs POV
Das konstante Wackeln machte mich so müde, dass ich mich hinlegte und sofort einschlief. So entspannt wie bei Lonan konnte ich nirgenswo sonst sein, weshalb bei ihm auch meine Schlafprobleme nachließen.
Es war wieder derselbe Traum, gefüllt mit meinen Erinnerungen.
Ich war zu dem Zeitpunkt drei Jahre alt und wir waren mit unseren Eltern zu einem See in den Bergen gefahren. In der Nähe war unsere Jagdhütte im Wald, wo unser Vater auch gerne jagen ging. Ich stieg aufgeregt aus dem Wagen, als wir ankamen. Mein Vater hatte mir schon oft alte Geschichten von seiner Zeit als aktiver Jäger erzählt. Aber seitdem er Kinder hatte, konnte er nur noch selten jagen gehen.
Ich fand vor allem eine Geschichte schon immer sehr interessant. Sie handelte von riesigen Wölfen, die nachts durch den Wald streifen und die bei Vollmond den Mond anheulten. Mein Vater hatte einmal einen gesehen. Er erzählte uns immer wieder von dem schwarzen Wolf mit den roten Augen. Er meinte, dass der Wolf noch größer war als er selbst. Als Kinder hatten wir begeistert der Geschichte gelauscht und stellten uns vor, wie groß der schwarze Wolf wohl sein würde.
"Er ist bestimmt so groß wie der Schrank!", rief ich aufgeregt und zeigte auf meinen Kleiderschrank. "Nein, noch viel größer!", lachte mein Vater. "Dann ist er so groß wie die Tür!", rief Jona. Ich lachte. "Jona, aber das ist doch viel zu groß. Wölfe werden nicht so groß!" Mein Vater lachte zwar mit, sah aber nachdenklich zur Tür. "Ja, so in etwa könnte er aber gewesen sein...", dachte er still für sich.
Jonas Autotür schlug auch zu und ich rannte zu ihm. Unsere Eltern stiegen auch aus und wir liefen zusammen zu der Hütte. An Details konnte ich mich nicht wirklich erinnern, nur dass über der Tür ein Geweih trohnte, was mein Vater eigens erjagt hatte.
"Komm Noah, wir gehen im Wald spielen!", rief Jona aufgeregt und zog mich mit sich. Wir rannten durch die Bäume und sprangen und lachten. Dann erreichten wir den See und sprangen ins Wasser. Wir spritzten uns gegenseitig nass und Jonas Augen funkelten. An dieses Detail konnte ich mich besonders gut erinnern.
Und dann gab es eine Art Riss und ich sah, wie Jona ängstlich schrie. Wir waren nicht mehr am See, sondern wieder im Wald und seine Augen blickten panisch auf die Gestalt vor ihm. Es war wirklich der schwarze Wolf und er war noch größer als die Tür. Der schwarze Wolf bleckte seine Zähne und es sah so aus, als würde er grinsen. Aber Jona war gar nicht in Gefahr. Sondern unter den Pfoten des Wolfes lag ein kleiner Welpe, der laut winselte.
Durch den Schrei von Jona aufgeschreckt erinnere ich mich an meinen Vater, der angestürmt kam und einen Warnschuss in Richtung des Wolfes abfeuerte. Dieser erschrack und drehte sich nun zu uns um. Er fixierte Jona mit seinen roten Augen. Es schien mir, als würde Blut in ihnen strömen, das Blut von unzähligen Leben, die er schon genommen hatte. Der Wolf hütete sich aber vor dem Gewehr und machte einen Satz zurück. Dabei wollte er den Welpen packen und mitnehmen, aber ich warf einen Stein und verhinderte so, dass er ihn greifen konnte.
Ich wusste nicht, warum, aber mein Gefühl sagte mir, dass ich den Welpen retten musste. Der schwarze Wolf knurrte bedrohlich und fletschte die Zähne, aber mein Vater schoss nur knapp daneben und der Wolf ließ von mir ab. Dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen. "Papa!" Jona rannte zu meinem Vater und umarmte ihn.
Dann war wieder ein Riss und ich wusste nur, dass ich den Welpen nach Hause getragen habe. Er war sehr schwer, aber ich wollte ihn selber tragen. Er war leicht an der Pfote verletzt und da meine Mutter Tierärztin war, würde sie ihm bestimmt helfen können. Sie sah sich die Verletzung an und dann sollte ich ihr Kräuter holen. Der Welpe sah uns dankbar an und ich streichelte ihn beruhigend, während meine Mutter ihn behandelte.
Ich erinnerte mich daran, wie wir draußen auf der Wiese fangen spielten. Er lernte super schnell und meinte Mutter gab ihm den Namen "Skilja", was so viel wie "verstehen" auf isländisch, ihrer Muttersprache, bedeutete. Jona und ich liebten Skilja. Er durfte nachts sogar mit uns im Bett schlafen.
Eines Tages gingen wir wieder mit Skilja an den See. Wir planschten im Wasser und hatten einfach nur Spaß. Doch plötzlich veränderte sich Skiljas Verhalten. Er wurde sehr unruhig und rannte immer wieder aus dem See. "Was ist los Skilja?" Er fing an zu winseln und zerrte an meinem Ärmel. "Willst du mir etwas zeigen?", fragte ich. Skilja schüttelte den Kopf und zog weiter an meiner Jacke. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich und ich rief nach Jona, der auch aus dem Wasser kam.
"Wir sollten gehen.", meinte ich und ließ mich von Skilja durch den Wald ziehen. Ich griff nach Jonas Hand und zog ihn auch mit. Skilja zog uns in einen hohlen Baumstamm und machte sich klein. Er hatte aufgehört zu winseln und saß reglos auf dem Boden. "Skilja, was hast du denn?" Ich bekam langsam Angst, aber Skilja legte seinen Kopf auf meinen Schoß und beruhigte mich so. Ich wollte etwas sagen, aber Skilja sah mich so durchdringend an, dass ich lieber den Mund hielt. Auch Jona wagte kaum zu atmen.
Dann hörten wir sie. Es waren die schweren Pfoten des schwarzen Wolfes, der immer näher kamen. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und Jonas Hand in meiner wurde schwitzig. Skilja legte seinen Kopf darauf ab, um uns zu beruhigen. Es funktionierte tatsächlich. Jona und ich wurden augenblicklich ruhiger. Der schwarze Wolf war mittlerweile an unserem Baumstamm angekommen. Er knurrte und man hörte das dumpfe Geräusch seiner Pfoten auf dem Waldboden.
Plötzlich riss der Baumstamm ein und wir sahen panisch in die roten Augen der schwarzen Bestie. Sein Maul öffnete sich und man sah viele weiße Zähne aufblitzen. Er schnappte nach Jona, aber Skilja ging mutig dazwischen und kratzte über seine Nase. Er heulte erschrocken auf und mit einem Pfotenhieb fegte er Skilja zur Seite.
Was dann passierte weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur an ein Bild. Jona lag vor mir, blutverschmiert. Seine Kehle war rausgerissen und seine Augen verdreht. Trotzdem sah man noch grimassenhaft die Schmerzen und Angst auf seinem Gesicht, die er vor seinem Tod hatte. Ich wusste nur noch, dass ich auf die Knie gefallen war, weil meine Beine nachgaben. Und ich blickte in die blutroten Augen des Wolfes und bildete mir ein, dass Jona mich aus ihnen um Hilfe anflehte. Es war mir in dem Moment egal, was als nächstes passierte.
Ich spürte Skilja an meiner Seite. Er blutete ebenfalls und knurrte. Dann schubste er mich. Ich weiß nur noch, wie ich gefallen bin und es leicht um mich herum wurde. Dann sah ich, wie Skilja dem schwarzen Wolf entgegensprang. Er konnte der Pfoten nicht mehr rechtzeitig ausweichen und man sah Blut fliegen. Die Krallen schnitten über sein Auge und er wurde wieder auf den Boden gedrückt. Dann schnappte der Wolf zu und es wurde schwarz vor meinen Augen.
"Skilja! Jona! Nein!", schrie ich.
Ich schreckte hoch und rang nach Luft. Es machte mich jedes Mal wieder fertig, von dem Tod meines Bruders zu träumen. Lonan war stehen geblieben und sah mich an. Ich sah etwas in seinen Augen, was ich nicht lesen konnte. Dann rieb ich mir die Augen, um wieder wach zu werden.
Langsam schaltete sich auch mein Verstand wieder ein. Ich dachte wieder an Jona und erschauderte. Aber dann fiel mir etwas anderes wieder ein. Skilja. Er hatte sein Leben geopfert, damit ich überlebte. Zumindest war ich bis jetzt davon ausgegangen. Ich hatte dank des Traumes wieder ein klares Bild von dem Welpen vor Augen. Vor allem seine Augen, die mich immer anzulächeln schienen. Sie waren von einem hellen grau, welches aber weder trocken noch leblos war. Es ging leicht in ein blau über und wenn das Licht in einem bestimmten Winkel fiel, konnte man denken, dass sie weiß waren.
Lonan hatte dieselben Augen - sowohl als Mensch, als auch als Wolf.
Mein Verstand brauchte eine Sekunde, um das zu begreifen. Lonan hatte dieselben Augen, wiederholte ich immer und immer wieder. Vor Schreck rutschte ich von ihm herunter und landete auf dem Boden. Lonan drehte seinen Kopf zu mir und jetzt wurde es mir klar. "Skilja...", flüsterte ich. Lonan blinzelte und ich merkte, wie er es auch verstand.
"Das ist unmöglich... Ich dachte du bist tot?", flüsterte ich, immer noch geschockt. Lonan verwandelte sich zurück und schüttelte den Kopf. "Nein, ich war aber kurz davor. Meine Mutter hat mich gerade mal so gerettet und seit dem sind wir auf der Flucht vor meinem Vater. Wenn er mich findet, wird er mich töten."
"Der schwarze Wolf ist dein Vater?", fragte ich entsetzt. "Ja, leider.", meinte Lonan. "Er ist einer der riesigen Wolfsmutanten, die oben in den Bergen leben. Meine Mutter ist ein ganz normaler Mensch und ja... Ich bin ein Hybrid, der niemals hätte geboren werden dürfen."
Mir wurde gleichzeitig noch etwas klar. "Die Narbe... Sie ist von damals, oder?" Lonan nickte und sein Gesichtsausdruck wurde grimmig. "Ja, er hat mein Auge nur knapp verfehlt, ich hatte damals echt Glück." Ich sah, wie er sich auf die Lippe biss und verzweifelt die Augen schloss. "Nicht so wie Jona..." Er drehte den Kopf weg und ich konnte nur gerade mal so sehen, wie eine Träne über seine Wange lief.
Schnell stand ich auf und lief zu ihm. "Lonan, das war nicht deine Schuld." Beruhigend strich ich ihm über seinen Rücken. "Doch, war es. Ich war nicht stark genug und konnte ihn nicht beschützen..." Er schluchzte. "Ich wollte das nicht, Noah..." Dann brach er vollkommen zusammen und ließ alles, was sich über Jahre hinweg angestaut hatte hinaus.
Ich umarmte Lonan stumm und wusste, dass ich nichts an seiner Trauer ändern konnte. Es war hart - für uns beide - aber ich würde niemals aufgeben, das Schöne im Leben zu sehen. Und das sollte Lonan auch.
"Ich bin so froh, dass du überlebt hast, Lonan..." Er nickte nur, sagte aber nichts. Daher redete ich einfach weiter, um ihn zu beruhigen. "Weißt du, ich wusste es eigentlich schon gestern. Irgendwo tief in meinem Inneren. Schon als ich dich gesehen habe und du uns vor dem braunen Wolf gerettet hast. Aber wirklich realisiert habe ich es erst jetzt. Das ist der Grund, warum ich dir vertraue..." Lonan nickte. "Ich weiß was du meinst. Eigentlich lasse ich niemanden in meine Nähe, aber bei dir... Da war es schon von Anfang an anders. Ich könnte nie wieder ohne dich, Noah."
Lonan löste sich leicht von mir, nur um eine Hand auf meine Wange zu legen. "Ich gehöre dir - schon immer und für immer." Ich schloss die Augen und schmiegte mich an seine Hand. Wir passten perfekt zusammen. Lonan legte seine Lippen auf meine und versiegelte unser Band mit einem Kuss.
Als er sich wieder von mir löste, entfuhr mir ein Seufzer. Mein Leben war gerade perfekt.
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