Kapitel 3
"Wie lange steht er schon da?" war die erste Frage, die mir in den Sinn kam. Ich wollte fliehen, wusste aber, dass es schon zu spät war. Also blieb ich wie angewurzelt stehen und sah ihn an wie einen rosa Elefanten. Noah räusperte sich.
"Ich werde es niemandem sagen." Er sah mich mit seinen braunen Augen intensiv an. Ich starrte einfach nur zurück und wusste nicht, was ich machen sollte. Aber ich konnte in seinen Augen lesen, dass er es ernst meinte. Außerdem roch er nicht so, als hätte er Angst. Wo wir auch schon beim zweiten Punkt der "Ich-bin-gerade-einfach-nur-verwirrt"-Liste wären.
Normale Menschen würden sich beim Anblick eines normalen Mitschülers, der sich in ein zwei Meter großes Ungetüm verwandelt, in die Hose machen, aber er nicht. Seine nächste Frage wurde zum neuen Anführer der Liste ernannt. "Kannst du dich zurück verwandeln?" Einfach so. Er fragte das einfach so, als sei es völlig normal. Ohne dass die Worte in mein Gehirn drangen stand ich reglos vor ihm und hatte teilweise Angst, dass mein Herz einfach aufhören würde zu schlagen.
Er verstand wohl, dass ich das gerade nicht verarbeiten konnte und machte einen Schritt auf mich zu. Automatisch machte ich einen Schritt nach hinten. Ich hatte nur vergessen, dass hinter mir ein Abhang war. Für einen kurzen Moment sah ich Noah aus aufgerissenen Augen an und dann flog auch schon der Himmel abwechselnd mit der Erde an meinen Augen vorbei.
Ich schmeckte Blätter in meinem Mund, als ich dumpf auf dem Boden aufschlug. Außerdem einen brennen Schmerz in meiner Seite. Mir war schwindelig, weil sich die Welt mehrmals überschlagen hatte. Oder war das nur ich gewesen? Mein Verstand war wie benebelt.
Äußerst vorsichtig hob ich den Kopf. Meine Augen suchten die brennende Stelle an meiner Seite. Sie war mit Blättern bedeckt, daher konnte ich noch nicht sagen, wie schlimm es war. Erschöpft ließ ich den Kopf wieder sinken. Er war so schwer... Ich musste mir wohl eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen haben.
Ja, das wird der Grund sein. Warum da plötzlich Noah aufgetaucht ist. Oder ist er das gar nicht? Noah verwandelte sich vor meinen Augen in meinen Vater und ich wollte schreien, aber da waren ja noch die Blätter...
Verdammt war das nervig, mit Pfoten konnte ich sie gar nicht aus meinem Mund holen... Aber wie bekomme ich sie sonst da raus? Vielleicht... Wenn ich mich zurück verwandel... Die Blätter... Sie schmeckten wie die Spaghetti... Nein, wie Erde? Haben die Spaghettis nach Erde geschmeckt? Die Welt um mich herum schien sich zu drehen. Überall um mich herum standen... Spaghettis? Ja, sehr lange große Spaghetti...
Ich verlor zwischenzeitlich das Bewusstsein und bekam nicht mit, wie Noah mich mühevoll zu dem Bach schleppte. Bis heute ist es mir ein Wunder, wie er das geschafft hatte.
Mein Verstand kam wieder zu Bewusstsein, als er mir eine Ladung Wasser ins Gesicht kippte. Vor Schreck schnappte ich nach Luft und keuchte. Dann nahm ich den blauen Himmel über mir, an manchen Stellen geschmückt mit den grünen Federn der Bäume, wahr. Es bereitete mir Kopfschmerzen, meinen Kopf zu drehen.
Ein besorgtes Noah-Gesicht beugte sich über mich und versperrte die Sicht auf den Himmel. Er wedelte mit der Hand vor meinen Augen. Ich blinzelte und blickte in seine braunen Augen. Mit gerunzelter Stirn fragte er mich: "Lonan, ist alles in Ordnung bei dir?"
Mühsam erinnerte ich mich. Schnaubend wollte ich mich aufsetzen, aber er ließ das nicht zu. "Ich weiß nicht, ob du dich hinsetzen solltest. Du bist hart mit dem Kopf aufgeschlagen und ein abstehendes Metallstück hat dir deine Seite zerkratzt..."
Ich hob leicht den Kopf und betrachtete meine Wunde. Noah hatte wohl das T-Shirt hoch gezogen und sie angefangen zu säubern, denn man sah deutlich eine lange Linie, die sich von meinen Rippen runter bis zum Bauch zog. Ich keuchte entsetzt auf. Jetzt begann die Wunde wieder zu brennen und ich spürte deutlich, wie alle meine Schmerzen wieder zum Leben erwachten.
Seufzend ließ ich den Kopf wieder auf den Boden zurück sinken. Dann drehte ich ihn zu Noah, sodass ich ihn angucken konnte. "Danke." Das war das einzige, was ich zustande brachte. Es war aufrichtig gemeint und er verstand es wohl, denn er nickte und widmetete sich wieder der blutenden Wunde zu.
"Weißt du, im Grunde wusste ich es schon gestern.", fing er plötzlich einfach an zu reden. Da ich nichts sagte, redete er einfach weiter. "Ich habe diese Narbe an deinem Auge gesehen und gewusst, dass ich sie von irgendwoher kenne... Und als du dann heute in die Schule kamst..."
Ich wusste nicht, dass die Narbe auch in meiner Wolfsgestalt sichtbar war. Aber zu meiner Verteidigung: Wer hätte mir das sagen sollen? Richtig, niemand.
"Naja, und dann habe ich auch noch deine Reaktion gesehen. Diese Panik in deinen Augen und ich wusste, dass du es warst. Du hast mir und meinem Vater gestern das Leben gerettet. Und ich Arschloch wusste zu dem Zeitpunkt nicht mal deinen Namen, ich habe ihn heute erst von der Lehrerin erfahren..."
Er schien sich wirklich dafür zu schämen, denn er senkte den Kopf und sah zu Boden. Unter (großen) Schmerzen hob ich die Hand und berührte ihn leicht am Arm. Diese kleine Berührung reichte aus, um eine Gänsehaut bei ihm auszulösen. Er sah mich aus seinen Augen an und ich konnte sie für einen Moment nicht von den Tiefen des Waldes unterscheiden, die ich so sehr liebte.
"Ich habe... das mit Absicht gemacht..." Meine Zunge war schwer wie Blei, aber ich musste ihm mitteilen, dass es keineswegs seine Schuld war. Ich habe sie alle mit Absicht auf Distanz gehalten. Je weniger sie mich wahrnahmen und von mir wussten, desto besser.
Er schien das nicht zu verstehen, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Er fragte stattdessen: "Wie geht es dir gerade?" Ich versuchte, eine Bestandaufnahme meiner Verletzungen zu machen. Die meisten waren harmlos, kleine Prellungen und blaue Flecke, aber die klaffende Wunde in meiner Seite machte mir Sorgen ebenso wie mein Kopf, der nur schwer wach zu halten war. "Mh, geht so...", antwortete ich unschlüssig.
Noah nickte. Er stand auf und ging. Das war die kürzeste (und enttäuschendste) Verabschiedung, die ich je in meinem Leben erhalten hatte. Ich schloss die Augen und spürte, wie ich mich am Rande der Ohnmacht bewegte.
Ein Finger pikste in meine Wange und zögerlich öffnete ich die Augen. Noah hatte sich einen bequem aussehenden Sitzplatz aus Blättern gewerkelt. Auf meine Nachfrage antwortete er nur: "Ich kann ja wohl schlecht die ganze Zeit auf dem Boden sitzen oder?" Verblüfft sah ich ihn an. Hatte er etwa vor, hier bei mir zu bleiben? Damit hatte ich nicht gerechnet und genauso sah ich wohl auch aus, denn Noah fing an zu lachen.
"Ich bin dir schließlich mein Leben schuldig, also werde ich doch wohl hier sitzen können oder?" Wenn er lachte, dann bekamen seine Augen das Strahlen wieder. Verdammt, was denke ich da nur schon wieder? Liegt bestimmt an der Gehirnerschütterung.
"Noah..." Er blickte mich aus tiefbraunen Augen an und ich wusste, dass ich seine Aufmerksamkeit bekommen hatte. "Ich muss mich wieder zurück verwandeln. Dann heilt das schneller. Bitte erschrick nicht..." Der letzte Satz war zwar etwas unnötig, da er sowieso keine Angst vor mir zu haben schien, aber ich musste ihn trotzdem sagen. Für mein späteres Gewissen.
Die Verwandlung war ähnlich vergleichbar mit einem Stoß Energie, welcher meinen Körper durchlief. Es hielt auch nur wenige Sekunden an und danach sieht man die Welt eben anders.
Ich lag nun also als Wolf vor ihm. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht genau intepretieren, aber Angst war nicht vorhanden. Eher - Bewunderung.
Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er leicht die Hand hob, sie aber wieder zurück zog. Wollte er mich etwa streicheln? Da ich sowieso nichts dagegen hatte legte ich meinen Kopf neben ihn auf den Boden und stupste ihn mit der Nase an. Er verstand sofort und legte sie vorsichtig auf meinen Kopf.
Ich spürte wie er zaghaft durch mein Fell streichelte, um mir nicht weh zu tun. Seine Hand glitt über meine Flanke und über meinen Bauch bis hin zu meiner Schulter. Es fühlte sich unglaublich schön an und ich schloss die Augen. Ich wollte, dass diese Berührung niemals aufhörte.
Das tat sie aber nach viel zu kurzer Zeit. Enttäuscht öffnete ich die Augen. Das Bild was sich mir bot, war entsetzlich: Noah hatte Tränen in den Augen und schien mit sich zu kämpfen, sie zurückzuhalten. Entsetzt wollte ich fragen was los war, es kam aber nur ein Fiepen heraus.
Ich schmiegte meinen Kopf an seine Hand, in dem Versuch, ihn zu trösten. Er lächelte traurig und seine Augen blickten in weite Ferne. Wahrscheinlich schwelgte er gerade in Erinnerungen.
"Weißt du... Es ist nur so, dass... Das letzte Mal, als ich einen Hund gestreichelt habe... War der Tag von Mums Beerdigung." Ich spürte, dass es ihm echt nicht leicht fiel, darüber zu reden. Er rang so stark mit sich selber, dass ich den Kampf in seinen Augen sehen konnte. "Und ich dachte damals, ich könnte nie glücklicher sein... Aber das bin ich gerade."
Geschockt von diesem Geständnis sah ich ihn einfach nur an und wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte. Stattdessen rückte ich ein Stück näher zu ihm heran und stupste ihn mit meiner feuchten Nase ins Gesicht.
Er lachte leicht auf und ich wusste, dass ich das richtige getan hatte. Als seine Tränen versiegt waren, stand er auf und fragte, ob ich laufen könnte. Vorsichtig und noch etwas wackelig auf den Beinen stand ich auf und machte einen Schritt. Es funktionierte wieder gut, der Wolfskörper heilt wirklich schnell.
Ich verwandelte mich wieder zurück und Noah trat zu mir. Er zog mein T-Shirt nach oben und warf einen kritischen Blick auf meine Wunde. Ich drehte schnell den Kopf weg. Denn da war etwas, was mir Sorgen bereitete: Diese Berührung ließ mich rot werden.
"Wow, das ist ja fast wieder heil!", rief Noah überrascht und auch ich wagte einen Blick auf meine Seite. Im Gegensatz zu vorhin war die Wunde nur noch als kleine Schnittwunde zu sehen. Die würde innerhalb von Tagen gänzlichst verschwunden sein.
Bewundernd sah Noah auf meinen Bauch. Für meinen Geschmack auch etwas zu lange, als dass es wirklich nur Wunde angucken war. Irritiert schüttelte ich den Kopf und Noah schien aus einer Art Trance zu erwachen.
"Na, fertig mit Starren?", fragte ich belustigt. Er wurde augenblicklich rot und meinte: "Ich habe nur deine Wunde überprüft, sei froh, dass sich überhaupt jemand um dich sorgt!" Also hatte ich Recht gehabt.
Amüsiert lachte ich. "Hat dir wohl gefallen.", scherzte ich. Noah wurde noch röter, sofern das überhaupt noch möglich war. Verlegen sah er auf den Boden.
"Ich würde dir dann jetzt empfehlen, nach Hause zu gehen. Man vermisst dich sicher schon..." Er nickte nur leicht. "Darf ich dich davor noch nach Hause bringen?" Ich zögerte... Dann würde er ja wissen wo ich wohne... Was ist mit der Regel - Je weniger sie wissen, desto besser - passiert?
Er bemerkte mein Zögern und fügte schnell hinzu: "Nein, alles gut. War sowieso eine blöde Idee..." Er wollte sich gerade abwenden, da meinte ich schnell: "Ähm nein, es ist ok. Wenn du möchtest." Er sah mir in die Augen und nickte. "Ok, dann komm mit."
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