Kapitel 2
Ich schleppte mich nach Hause und merkte erst als ich das Rohr hochklettern musste, dass ich eigentlich todmüde war und nur noch so schnell wie möglich ins Bett wollte. Unter verdächtigem Ächzem kündete sich der nächste Handwerkerbesuch für das Rohr an und ich schaffte es noch gerade so, mich in mein Zimmer zu ziehen. Unzufrieden sah ich auf die Stelle, welche nun ein wenig eingeknickt war. "Verdammt...", murmelte ich. Aber dafür hatte ich jetzt keine Nerven mehr übrig. Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen und sah auf den Wecker. Die Anzeige war zu dunkel um die Uhrzeit abzulesen, aber meine Hand wollte sich auch nicht heben um sie zu beleuchten. Ich schätzte einfach, dass es so gegen vier Uhr morgens sein müsste.
Durch den unerwarteten Konflikt ist mein Ausflug länger als sonst gewesen. Dabei musste ich morgen zur Schule. Schlecht gelaunt blieb ich einfach in Anziehsachen liegen und schlief ein.
Am nächsten Morgen wurde ich mit leichten Kopfschmerzen und immer noch miesen Laune wach. Ich stand auf und sah mich kurz im Spiegel an. Meine braunen Haare hingen müde herunter. Ich seufzte und trottete im Bad. Dort rubbelte ich sie einmal kräftig durch und versuchte sie ein wenig lebendiger zu gestalten. Müde Augen folgten mir aus dem Spiegel. "Ich sehe ja echt scheiße aus...", dachte ich mir. Nicht gerade motivierend für den Tag...
Nachdem ich wieder einigermaßen lebenstauglich aussah und mich umgezogen hatte trampelte ich die Treppe runter und aß Frühstück. Meine Mutter war schon wach und aus dem Haus, sie stand immer so gegen fünf Uhr morgens aus und ging sofort zur Arbeit. Dann kam sie erst um sechs Uhr nach Hause und geht dann immer völlig fertig schlafen. Nur ab und zu können wir uns sehen.
Zugegeben, ich kann ihr auch nicht böse deswegen sein. Sie versorgte uns so gut es ging und da uns das Geld vorne und hinten fehlte, musste sie zwei Jobs haben. Man sah ihr den Stress deutlich an, aber ich wusste, dass man sie nicht davon abbringen konnte. Einmal wollte ich einen Job annehmen und auch arbeiten gehen, aber da hat sie so stark protestiert, dass ich Angst hatte, sie würde gleich eine Herzattacke bekommen. Also ließ ich das Thema lieber bleiben und versuchte ihr so wenig wie möglich zur Last zu fallen.
Wie jeden anderen Tag auch lief ich zur Schule. Sie war zwar etwas weiter von zu Hause entfernt, aber wenn ich die Abkürzung durch den Wald nahm, war ich in 20 Minuten dort.
Heute wirkte der Wald anders. Er kam mir bedrohlich vor, so als könnte jede Sekunde etwas aus dem Schatten springen und mich angreifen. Den ganzen Weg zur Schule über blieb es aber still und ich erreichte das Gebäude ohne Zwischenfälle.
Ich seufzte. Das Lernen an sich machte mir Spaß und ich hatte keine Probleme in der Schule, aber ein wenig eifersüchtig war ich schon auf die anderen Schüler. Die Umstände erlaubten es mir nicht, richtige Freundschaften einzugehen. Der letzte Freund den ich hatte wurde brutal von meinem Vater getötet. Ein Schauder überlief meinen Rücken. Ich wollte diese grausame Person niemals wieder sehen.
Ich passierte das Schultor und machte mich auf den Weg zu meinem Klassenzimmer. 10 - B stand neben der Tür. So unsichtbar wie nur möglich schlüpfte ich in den Raum und steuerte meinen Platz hinten an. Mein Weg war aber nicht ganz ungefährlich - er führte mich vorbei an Noah, der heute stolz seine Bandage zeigte.
"Das ist gar nicht so schlimm, nur ein kleiner Unfall." Ich fand es erstaunlich, dass er so ruhig damit umgehen konnte. Neugierig warf ich ihm einen flüchtigen Blick zu. Er saß zwischen seinen Freunden auf dem Tisch und auf seinem Schoß trohnte der bandagierte Arm. Er begegnete meinem Blick und erstarrte mitten in seiner Bewegung.
Blitzschnell sah ich wieder in die andere Richtung und floh beinahe zu meinem Platz. Hektisch kramte ich mein Buch aus dem Rucksack und versuchte, mich dahinter zu verstecken. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich aber seinen Blick. Was war denn jetzt in den gefahren? Er hat mich doch nicht etwa... erkannt? Sofort verwarf ich diesen Gedanken wieder. Das war lächerlich. Er KANN mich gar nicht erkannt haben.
Doch trotzdem ließ es mir die ganze Stunde über keine Ruhe. Was auch nicht gerade dadurch begünstigt wurde, dass Noah mich, MICH, während er vorne an der Tafel stand und erklärte, anstarrte. So hübsch bin ich nun auch wieder nicht. Unruhig rutschte ich auf meinem Platz herum und wartete verzweifelt auf das Klingeln der Schulglocke.
Der erlösende Gong ertönte und ich stürmte in die Mensa. Dort angekommen war ich einer der ersten, die sich eine Portion von dem (nicht) köstlich aussehendem Essen nahmen (es gab soetwas ähnliches wie Spaghetti, nur dass die Nudeln teilweise braun waren und das Hackfleisch nicht jünger als eine Woche sein konnte). Damit suchte ich mir einen abgelegenen Platz draußen unter meinem Lieblingsbaum. Erst als der Schatten der Blätter mein Gesicht bedeckte, entspannte ich mich.
Er kann dich nicht erkannt haben, beruhigte ich mich selbst. Die Spaghetti sahen wirklich unappettitlich aus, aber zu Hause wollte ich nichts essen. Ich würgte die Nudeln hinunter und ließ das teilweise harte Fleisch am Tellerrand liegen. Dann zog ich wieder mein Buch hervor und verließ diese Welt.
Ich musste wohl eingenickt sein, denn ich schreckte hoch, als ein Schatten auf mich fiel. Ich musste wohl sehr lustig aussehen, denn Noah fing an zu lachen. Und es war kein gehässiges Lachen, sondern ein freundliches. Er kratzte sich nervös am Hinterkopf und grinste schief. "Hey Lonan, ich wollte dich was fragen..." Er zögerte und sah sich um. Mein Herz rutschte mir in die Hose. Er wusste es. Ich bin am Arsch. Er wusste es. Meine Gedanken fuhren nur in dieser Schleife und ließen keinen klaren Gedanken mehr zu.
"Also, das hört sich echt komisch an, aber... Diese Narbe über deinem linken Auge..." Er wusste nicht wie er es formulieren sollte, also griff ich ihm unter die Arme. "Ich habe sie schon immer. Ich weiß, sie ist etwas auffällig, aber sie ist alt und spielt somit keine Rolle mehr." Ich merkte, wie die Anspannung von mir abfiel - er wusste es nicht. Ihm muss wohl heute zum ersten Mal die Narbe präsent geworden sein - so wie mir gestern seine Augen.
Noah sah mich nur kurz komisch an. Ich wusste diesen Blick nicht zu deuten, also ignorierte ich es einfach. "Noah, was redest du da mit dem?" Einer seiner Freunde kam ihn gerade abholen, als er zu einer weiteren Frage ansetzen wollte. Ich blickte ihm nicht nach, als er von seinem Kumpel weggezogen wurde.
Nach der Pause ging ich wieder ins Klassenzimmer und setzte mich. Ein kurzer Blick zu Noah versicherte mir, dass er schon wieder das Interesse verloren haben musste. "Soll mir Recht sein." Trotzdem wünschte sich ein Teil von mir, dass er wenigstens noch einmal her gucken würde.
Nach der Schule ging ich wie immer zu meinem Spind und tat die schweren Bücher rein. Ich ließ meine Schulsachen immer in der Schule, damit ich auf dem Weg nach Hause noch ein wenig im Wald laufen konnte. Manchmal auch in meiner Wolfsgestalt, wenn niemand dort war.
Heute war das ebenfalls mein Plan. Ich wollte den ganzen Stress von der Schule einfach durch Rennen los werden und eilte hinaus auf den Hof. Nachdem ich das Tor passiert hatte wurde ich deutlich ruhiger und machte mich auf den Weg zum Wald. Sobald ich die Straße überquert hatte tauchte ich schnell in das satte Grün ein.
Die Bäume standen hier sehr eng und ich verwandelte mich. Ich wollte gerade los rennen, da knackte ein Stock neben mir. Ich fuhr entsetzt herum und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Vielleicht war ja der braune Wolf mit Verstärkung wiedergekommen? Vielleicht war mein Vater bereits hier und es war mein letzter Atemzug...? Doch stattdessen blickte ich in das erschrockene Gesicht von Noah.
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