Kapitel 1
Wie jede Nacht stand ich leise aus meinem Bett auf und trat ans Fenster. Heute war der Mond gut zu sehen, es würde also eine klare Nacht sein. Nicht die besten Bedingungen für einen Gestaltswandler wie mich, aber ich konnte meine Instinkte kaum noch zügeln. Nur leise flüsterte meine innere Stimme: "Was wenn dich jemand sieht?", aber ich verdrängte sie schnell wieder und widmete meine Aufmerksamkeit dem Herabklettern aus meinem Zimmer.
Ehrlich gesagt bin ich mir ziemlich sicher, dass ich es nicht schaffen würde, wenn unser Rohr nicht regelmäßig von Handwerkern kontrolliert werden musste und sie daher Griffe angebracht hatten. (Und nein, das Rohr ging nicht ständig kaputt, weil es jede Nacht mein ganzes Gewicht halten musste.)
Mit einem dumpfen Laut landete ich auf dem Boden und sah mich um. Keine Menschenseele in Sicht. Ich huschte geduckt über die Wiese und machte mich auf den Weg in unseren Wald.
Einzig meine Mutter kannte mein Geheimnis und sie schwieg es tot, als wäre unser Leben davon abhängig. Gewissermaßen ist es das ja auch. Wenn mein Vater mich finden würde, wäre ich innerhalb von Sekunden durch seine scharfen Reißzähne in winzige Fitzelchen zerfetzt worden. Ich erreichte die Straße, die den Beginn des Waldes markierte. In der Nähe hörte ich den Fluss plätschern und im Unterholz raschelten bereits die Kreaturen, die sich nur im Schutz der Dunkelheit hinauswagten.
So wie ich. Mit einem Sprung verwandelte ich mich in einen riesigen Wolf. Es fühlte sich befreiend an, als hätte jemand "Los!" geschrien und ich konnte endlich beginnen. Mit Höchstgeschwindigkeit rannte ich zwischen den Bäumen hindurch. Ein Fuchs sprang erschrocken zur Seite und ich hörte wie eine Eule über den Himmel glitt auf der Suche nach einer kleinen Mahlzeit.
Unterwegs passierte ich den Bach und beschloss, meiner trockenen Kehle ein wenig Wasser zu genehmigen. Durstig schleckte ich an einer seichten Stelle und überlegte mir, was ich in der restlichen Nacht noch anfangen sollte. Doch diese Entscheidung wurde mir schneller abgenommen, als mir lieb war.
Ich hörte ihre Stimmen schon von Weitem. Nach genauerem Lauschen konnte ich sogar feststellen, dass ich eine Stimme schon kannte. Es war Noah aus meiner Klasse, ich kannte ihn aber nicht näher. Genau genommen kannte ich niemanden näher. Denn ich wusste schon aus Erfahrung, was das für diese Person bedeutet. Also war ich nur der stille Typ, der einfach immer da ist - wurde mal wahrgenommen, mal einfach übersehen.
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als ich noch ein anderes Geräusch vernahm. Es waren Pfoten, die fast lautlos über den Boden liefen. Doch dem Geräusch nach zu urteilen handelte es sich um ein sehr großes Tier, vielleicht zwei Meter groß. Mein Herz blieb stehen während ich mir einredete, dass es bestimmt nur ein Bär sei. Dabei wusste ich es besser: Sie hatten mich gefunden.
Ich konnte fast nicht denken vor lauter Panik, die meine Adern einfror und meine Pfoten hinderte, mir zu gehorchen. Alles in mir schrie nach Flucht, aber ich konnte nicht rennen. Es war sowieso schon zu spät. Dann blieben die Schritte plötzlich stehen. Etwas schien ihm in den Sinn gekommen zu sein, denn er wechselte die Richtung.
Innerlich atmete ich auf. Das Glück schien heute auf meiner Seite zu sein. Ich wurde aber doch neugierig. Kannte ich ihn? Eigentlich sagte mein Verstand, dass ich nicht nachsehen gehen sollte, aber ich konnte der Neugierde nicht widerstehen. "Und was wenn er wiederkommt? Dann ist es endgültig aus mit dir." Ich wusste zwar, dass meine innere Stimme Recht hat, konnte es aber nicht lassen. Die Duftspur fing tatsächlich nur kurz vor meiner eigenen an. Ein paar Schritte weiter und er hätte mich entdeckt.
Seinen Geruch konnte ich aber wiedererkennen. Er passte zu einem großen braunen Wolf, der eindeutig dem Rudel meines Vaters angehörte. Erneut blitzte Panik in mir auf. Er hatte die Suche also nicht aufgegeben... Unzählige Todesszenarien flogen vor meinem geistigen Auge wild durcheinander, die eine versuchte mir noch stärker als die andere klarzumachen, dass ich so sterben würde.
Ein Schrei durchzog die Luft. Er war eindeutig menschlich und klang äußerst schmerzerfüllt. Ich kannte den braunen Wolf. Er würde die beiden Menschen mit Leichtigkeit töten. Aber davor würde er mit ihnen spielen, wie eine Katze mit einer Maus. Er würde sie erst nach einer Weile töten, da es ihm mehr Spaß machte, sie vorher zu quälen. Erneut blitze der alte Hass in mir auf und ich war kurz davor, einfach drauf los zu rennen.
Es ist schon verrückt. Wenn ich selber in Gefahr bin, reagiert mein Körper nicht, aber sobald andere meine Hilfe brauchen, eilt er ohne zu zögern zu Hilfe. Auch wenn alles in meinem Verstand dagegen schrie, rannten meine Beine los und ich folgte dem mittlerweile lauter gewordenen Schmerzensschreien.
Von hinten schlich ich mich an das Szenario heran. Ich brauchte nicht einmal meine Augen anzustrengen um zu erkennen was los war. Der Mond spiegelte sich hell in schwarzroten Pfützen voller Blut wieder, die langsam über den Boden krochen. Der riesige Wolf stand mit beiden Pfoten auf dem Brustkorb von einem Mann, welcher schwer atmend auf dem Boden lag. Nicht weit von ihm lag Noah auf dem Boden. Er hatte eine schwer blutende Wunde an seinem Arm, welche nicht gerade harmlos aussah. Ich wusste, dass ich den Überraschungsmoment nutzen musste. Also zögerte ich nicht lange und sprang mit gefletschten Zähnen und ausgefahrenen Krallen auf den Rücken von der Bestie und warf ihn und mich zu Boden. Von der Wucht wurde er ein paar Meter weit geschleudert, wo er gegen einen Baum knallte und sich erst mal wieder sammeln musste, um auf die Füße zu kommen. In der Zwischenzeit stellte ich mich beschützend zwischen Noah und den Wolf. Dabei knurrte ich bedrohlich und wartete, bis er aufstand.
Ich sah den Triumph in seinen Augen, als er mich spöttisch ansah. Jetzt verstand ich es. Er kannte meine Schwäche, andere beschützen zu wollen, nur zu gut und wollte mich nur herlocken. Ein wenig ärgerte ich mich über mich selbst, aber ich hatte keine andere Wahl gehabt. Angriffslustig rannte er auf mich zu. Oder auf Noah, das konnte ich nicht sagen. Ich hörte hinter mir nur ein Stöhnen und sah, wie der Mann den mittlerweile wieder wachen Noah gegen einen Baum setzte. Anscheinend hatte der Typ verstanden, dass ich nur helfen wollte.
Ich wappnete mich gegen die Wucht des anderen Wolfes und musste mit aller Kraft dagegen halten, als sie mich erreichte. Er versuchte mich zu Boden zu drücken, aber so leicht wie damals würde ich es ihm nicht machen. Stattdessen nutzte ich seine Kraft und wand mich so, dass er plötzlich nur gegen Luft drückte und auf den Boden fiel. Diese Chance nutze ich und machte einen Warnbiss in seinen Nacken. Hätte ich kräftiger gebissen, wäre sein Genick jetzt gebrochen.
Ich schubste ihn also nur von mir weg und stellte mich wieder schützend vor Noah und den anderen Mann. Dass die beiden auch noch nicht geflohen waren ist mir ein Rätsel, aber wahrscheinlich fanden sie die Geschehnisse zu spannend oder waren zu verwundet, um zu fliehen.
Ich sah den Unglauben in den Augen des braunen Wolfes, als er mich ansah. Er schien doch etwas mit sich zu ringen, ob er es noch einmal riskieren würde, mich anzugreifen. Drohend machte ich noch einen Schritt auf ihn zu und knurrte. Er hatte wohl begriffen, dass ich nicht mehr der unfähige kleine Junge von damals war und verschwand zwischen den Bäumen.
Das war nicht gut. Er würde meinem Vater Bericht erstatten und dieser würde her kommen und mich finden. Das wäre dann mein Todesurteil. Verzweifelt überlegte ich, ob ich ihm nicht nachrennen sollte, wurde aber von einer Bewegung hinter mir aus den Gedanken gerissen.
Ich wirbelte herum und erwartete noch mehr Angreifer, aber dort saßen nur Noah und der Mann, welche mich beide angsterfüllt ansahen. Nachdem ich kurz noch die Lage analysiert hatte, ob wir auch wirklich in Sicherheit waren, senkte ich den Kopf leicht und machte einen Schritt auf die beiden zu. Ich wollte ihnen so symbolisieren, dass ich keine Gefahr darstellte. Noah kämpfte sich mühselig auf die Beine und machte einen zögerlichen Schritt auf mich zu. Der Mann schien wohl sein Vater oder so zu sein, denn er versuchte ihn davon abzuhalten. "Nicht Noah, der könnte dich auch beißen..." Ich sah deutlich die Angst in seinen Augen. Doch Noah antwortete nur ruhig: "Nein Dad... Frag mich nicht wieso, aber ich weiß, dass er das nicht tun würde..."
Ich sah in Noahs Augen und fragte mich, warum sie mir so intensiv auffielen. Konnte wohl an den viel besseren Wolfsaugen liegen, durch die ich die Dinge deutlicher wahrnehmen konnte. Noahs Augen waren von einem durchdringenden Charakter, was aber nicht nur ihrer braunen Farbe zu verdanken war. In ihnen war ein Leuchten gefangen, überdeckt von Trauer und tief begraben unter der Mühe, keinen an sich ran zu lassen. Ich erkannte sofort, dass er jemanden verloren hatte, der ihm sehr wichtig gewesen sein musste. Ich kannte diesen Schmerz ebenfalls.
Noah hob vorsichtig die Hand und hielt sie mir vor die Nase. Perplex, dass er mich wie einen Hund behandelte ging ich nur zögernd darauf ein und stupste die Hand leicht mit der Nase an. Er lächelte und ich sah, wie das Leuchten in seinen Augen stärker wurde. Für einen Moment übertrumpfte es die Trauer und Noah war glücklich. Ich spürte, wie es mich ebenfalls glücklich machte. Doch dann trat sein Vater hinter ihn und zog ihn zurück. Auch ich wich einen Schritt nach hinten und ließ den beiden ihren Raum. Einfach abhauen konnte ich aber auch nicht, es könnte immer noch sein, dass der braune Wolf zurück kommt. Einen erneuten Angriff würden die beiden alleine nicht überstehen.
Noah und sein Vater diskutierten nur kurz, dann machten sie sich auf dem Heimweg. Noah warf jedoch noch einen intensiven Blick über die Schulter zurück, den ich mutig erwiderte. Er sollte so viel bedeuten wie "es wird alles gut". Als ich außerhalb ihrer Sichtweite war, folgte ich ihnen mit einiger Entfernung. Ich ließ die Geräusche um mich herum nie aus den Augen und achtete darauf, dass sie mich zwar nicht bemerkten, ich aber bei Gefahr sofort zur Stelle sein konnte.
Noah und sein Vater traten aus dem Wald und ich blieb im Schatten einer großen Buche stehen. Sie würden mich nicht sehen können, aber ich hatte den perfekten Überblick über die leere Straße, die wie von einer unsichtbaren Wand vom Wald getrennt wurde. Es stand nur ein einzelnes Auto dort, welches aufblinkte, als sie näher traten. Ich hörte wie die Stimmen lauter wurden und sah Noah wild diskutieren und seinen Vater zum Kofferraum marschieren. Er öffnete die Klappe und zog ein großes Gewehr daraus hervor. Ich schnappte Wortfetzen auf wie: "solche Bestien dürften gar nicht existieren..." und "ich werde sie alle kalt machen, jeden einzelnen..."
Ich empfand Mitleid für den Vater. Er hatte gerade fast seinen Sohn verloren und wollte nun Rache an den Bestien ausüben. Das konnte ich nur zu gut verstehen. Jedoch konnte Noah ihn beruhigen und es endete damit, dass die beiden ins Auto stiegen und los fuhren. Ich sah, wie Noah einen Blick aus dem Fenster warf und seine Augen meine trafen. Er zog überrascht die Augenbrauen zusammen und ich wusste nicht, ob es meinetwegen war oder aus einem anderen Grund. Dabei beließ ich es und wandte mich zum gehen. Für diese Nacht war definitiv genug passiert, was ich erst einmal verarbeiten musste.
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