2. Kapitel: Pennsylvania
„Bist du taub? Was machst du in meinem Van?", fragte er wieder, dieses Mal deutlich lauter.
Sein Gesicht verdunkelte sich zusehends. Ein penetranter unverkennbarer Geruch stieg mir in die Nase – Alkohol. O Gott, der Kerl war betrunken! Vielleicht war er gewalttätig? Mein Herz sprang mir beinahe aus der Brust. Ich erinnerte mich an das Pfefferspray, das ich am Abend zuvor bereitgelegt hatte. Schnell! Zielen. Abdrücken.
„Fuck, spinnst du?" Der Kerl rieb sich umgehend mit den Händen über die Augen. „Verflucht, das brennt. Was sollte das?!", fuhr er mich aufgebracht an, wandte sich jedoch von mir ab und torkelte blind durch den Bus.
Meine Chance war gekommen. Ich zerrte meine Handtasche hervor und wollte schnell abhauen, als ich bemerkte, wie der Fremde durch die Tür im hinteren Teil des Raumes verschwand, die sich tatsächlich zu einem kleinen Badezimmer öffnete.
Er drehte den Wasserhahn auf und versuchte, sich das brennende Spray aus den Augen zu reiben. Ich hörte ihn immer wieder fluchen.
Ich zögerte. Mein Blick huschte nach draußen. Es war immer noch stockfinster, es musste also nach wie vor mitten in der Nacht sein. Sollte ich mich aus dem Staub machen? War dieser Mann tatsächlich gefährlich?
„Scheiße, bringst du mir wenigstens ein Handtuch, wenn du mich schon so angreifst? Ich sehe rein gar nichts."
Hätte er mir wirklich wehtun wollen oder sogar andere Gedanken gehabt, wäre er direkt auf mich losgegangen.
Ich suchte in der kleinen Küchenzeile nach einem Handtuch. Unter der Spüle wurde ich fündig. Ich warf es ihm aus sicherer Entfernung zu. Es landete auf seinem Hinterkopf, und er erschreckte sich ein wenig, schließlich hatte er meinen Wurf nicht kommen sehen.
Ich blieb stehen und beobachtete, wie der Mann immer mehr Wasser in sein Gesicht beförderte. Als er fertig war, trat er zu mir und lehnte sich an die Küchenzeile. Mein Herz machte einen noch kräftigeren Satz.
„Du bist ja immer noch hier", stellte er nüchtern fest und rieb sich weiter über seine knallroten Augen.
„Ich ... tut mir leid", murmelte ich verunsichert, und das schlechte Gewissen kämpfte sich immer weiter an die Oberfläche.
„Jetzt weiß ich zumindest, wieso Frauen dieses Zeug immer mit sich herumtragen." Er ließ sich auf der Matratze nieder, auf der ich bis vor wenigen Augenblicken noch geschlafen hatte. Mit seinem Fuß stieß er an den Karton, den ich dort ebenfalls gelagert hatte. „Du hast etwas vergessen", bemerkte er und schob die Kiste, ohne hinzusehen, mit einem seiner Füße in meine Richtung. „Warum stehst du denn immer noch hier wie angewurzelt? Was willst du? Hau endlich ab!"
Doch ich blieb, wo ich war, und sah ihn ziemlich schuldbewusst an. So zugerichtet, wie er dort unten saß, sah er für mich plötzlich gar nicht mehr bedrohlich aus. Sein Haar war völlig durcheinander. Der lange drahtige Bart bedeckte einen Großteil seines Gesichtes und hatte schon seit langem keinen Rasierer mehr gesehen.
Er konnte nicht viel älter als ich sein, auch wenn er durch seinen Bart um ein Vielfaches gesetzter wirkte. Ich erkannte, dass sein kariertes Hemd mit schwarzen öligen Flecken übersäht war.
„Ich wollte das nicht, du hast mich nur ziemlich erschreckt. Ich habe nicht damit gerechnet, hier jemandem zu begegnen", antwortete ich, nachdem ich mich geräuspert und meine Adrenalin-Achterbahnfahrt wieder etwas in den Griff bekommen hatte.
„Sagt die Person, die hier in meinem Bus steht." Zum ersten Mal, seit er mich so erschreckt hatte, sah er mich direkt an. Sein Blick bohrte sich förmlich in meinen.
„Ich wusste nicht, dass das hier noch jemandem gehört", verteidigte ich mich und gestikulierte vielsagend um mich herum. „Ich bin nicht eingebrochen. Die Tür war nicht abgeschlossen."
Der breitschultrige Mann fluchte leise. „Diese beschissene Tür. Es wird Zeit, dass ich sie endlich repariere. Aber noch mal ... Was tust du hier?" Er betrachtete mich mit einem skeptischen Blick, den ich nur schwer ernst nehmen konnte, weil der Mann immer noch Schwierigkeiten hatte, seine Augen vernünftig zu öffnen.
Ich seufzte. „Ich weiß nicht, wo ich diese Nacht schlafen soll."
„Wieso gehst du nicht nach Hause?"
„Ich habe kein Zuhause mehr, bin sozusagen obdachlos", gab ich zähneknirschend zu und sah dabei peinlich berührt und mit glühenden Wangen auf den Karton, der nun zwischen mir und dem Fremden stand.
Diese Erklärung war genug. Ich griff nach der Kiste und wollte mich schnell davonmachen, doch plötzlich brannten meine Augen, und Tränen drohten sich an die Oberfläche zu kämpfen. Ich hielt sie mit aller Macht zurück.
„Hm, na gut", brummte er rau.
Ich drehte mich nochmals zu ihm um, ehe er weitersprach. Er hatte sich mit seiner vollen Körpergröße vor mir aufgebaut, was durchaus etwas einschüchternd auf mich wirkte. Dennoch legte ich den Kopf leicht in den Nacken, um ihn besser ansehen zu können.
„Es ist sehr kalt heute Nacht", meinte er und ließ die Schultern hängen. „Du kannst hierbleiben, aber morgen früh bist du weg, okay?"
Ich war unschlüssig, was ich auf sein Angebot antworten sollte, kam aber zügig zu dem Schluss, dass mir keine andere Möglichkeit blieb. Ich war erschöpft und hätte auf der Stelle wieder einschlafen können.
„Das weiß ich wirklich zu schätzen, ehrlich." Ich stellte meinen Karton hinter den Fahrersitz und legte meine Handtasche darauf ab. Höflich streckte ich meinem Retter in der Not die Hand entgegen, die dieser zurückhaltend beäugte, schlussendlich aber dennoch ergriff. Seine Hand strahlte eine unglaubliche Wärme aus. „Ich bin Amber. Ich dachte, ich sollte mich wenigstens vorstellen."
„Deacon", erwiderte der Mann vor mir knapp, und unsere Hände lösten sich voneinander. Er kramte aus einem schmalen Schrank eine Decke hervor und warf sie mir zu. „Hier. Du kannst da vorne schlafen." Er deutete auf die Matratze. „Ich werde mich heute auf der Sitzbank ausruhen."
„Danke", murmelte ich und zog stumm meine Schuhe aus.
Als ich mich in der Decke eingerollt und erleichtert festgestellt hatte, dass diese nicht muffig roch, kam Deacon gerade aus dem kleinen Badezimmer – halb nackt.
Umgehend zog ich mir die Decke noch weiter über die Schultern und starrte verlegen auf den Boden. Kurz darauf hörte ich es rascheln, und es wurde dunkel im Mini-Bus.
Als ich mich in den Van geschlichen hatte, war mir weder Licht noch ein entsprechender Schalter aufgefallen, aber ganz offensichtlich gab es beides hier drinnen – ebenso wie eine Heizung, denn seit Deacon hier war, war es wohlig warm im Innern geworden.
„Gute Nacht", sagte ich leise und zog mir die Decke noch ein Stückchen weiter über die Schultern.
„Nacht", brummte Deacon, und schließlich herrschte im Mini-Bus erneut Stille.
Ich musste irgendwann tatsächlich noch einmal eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal träge meine Augen aufschlug, war es bereits hell. Durch die geöffneten Vorhänge schien für Oktober die Sonne ungewöhnlich hell ins Innere des Vans.
Schläfrig strich ich mir meine Haare aus dem Gesicht und richtete mich auf, zuckte jedoch umgehend zusammen, als sich ein stechender Schmerz in meinem Rücken ausbreitete. Stöhnend rieb ich mir über die Wirbelsäule und den Nacken. Die Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen.
Ich spürte die feuchte Luft, die aus der offenen Tür des Badezimmers kam. Als wäre der gesamte Bus in leichten Nebel gehüllt.
Da ertönte die Stimme von Deacon: „Kaffee?" Er trug wieder das rot-schwarz karierte Holzfällerhemd und eine eng anliegende verwaschene Jeans.
Und schon strömte der sanfte Geruch der gemahlenen Bohnen in meine Nase. Ehe ich es mich versah, standen zwei heiße Tassen auf der Küchenzeile.
„Danke." Ich nahm eine der Tassen, und Wärme durchströmte meine kalten Hände.
„Du kannst das Bad benutzen, bevor du gehst. Ich fahre in einer halben Stunde los, bis dahin bist du weg", sagte Deacon, während er mit dem Kaffeebecher in seiner Hand nach vorn zum Fahrerplatz ging und eine zusammengefaltete Karte aus dem Handschuhfach zum Vorschein brachte.
„Klar, danke", sagte ich kleinlaut, nippte an meinem Kaffee und beobachtete Deacon dabei, wie er verschiedene Punkte auf der ausgebreiteten Karte markierte. „Als ich deinen Van letzte Nacht gesehen habe, hätte ich ehrlich gesagt nicht gedacht, dass das Teil überhaupt noch fahren kann."
Nach drei großen Schlucken und mit einer verbrannten Zunge betrat ich das kleine Bad. „Ich bin dann mal eben ...", begann ich, doch Deacon schenkte mir bereits keinerlei Beachtung mehr.
In dem winzigen Raum gab es nichts außer einer Toilette und einem kleinen Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Spartanisch, doch an diesem Morgen einfach wundervoll.
Als ich in den Spiegel sah, verzog ich entsetzt mein Gesicht. Ich blickte in ein Meer aus zerzausten Haaren, und in meinem Gesicht befanden sich Reste eines Make-ups, an denen jeder Clown seine helle Freude gehabt hätte.
Hastig wusch ich mir das Gesicht und versuchte, das Meer, so gut es ging, zu bezwingen. Ich sah eine einsame Bürste in dem ansonsten leeren Raum liegen, doch wagte ich es nicht, sie zu benutzen. Grenzen sollten gewahrt werden, und ich wollte vermeiden, dass er meinen Besuch doch noch bereuen würde. Als ich mich bereit für den Weg fühlte, trat ich heraus und zog meine Schuhe an.
„Danke noch mal, dass ich hier schlafen durfte. Das war wirklich ... nicht selbstverständlich." Ich schulterte meine Handtasche und schnappte mir meinen Karton. „Ich hoffe du hast eine gute Fahrt, wohin auch immer die führen mag."
„Danke. Und du? Was hast du jetzt vor?"
Da war es wieder. Dieses stechende Gefühl in meiner Magengrube. Der Vortag, der weiter wie ein böser Schatten über mir lag.
„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht." Ich hatte größte Mühe, meine Verzweiflung zu verbergen.
„Gibt es niemanden, bei dem du eine Weile unterkommen kannst?"
„Nein, nicht hier. Und wenn ich recht darüber nachdenke ... eigentlich nirgendwo."
Deacon nickte beinahe unmerklich, wandte sich von mir ab und faltete seine bis gerade eben noch großflächig ausgebreitete Karte wieder zusammen.
Mein Zeichen. Bei dem Gedanken, nun wieder in die eisige Welt entlassen zu werden, völlig allein und schutzlos, wurde mir schlagartig schlecht. Wir waren zwar Fremde, aber dennoch war ich ihm so dankbar. Ich räusperte mich und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
„Also dann", sagte ich. „Mach's gut, Deacon."
Mit diesen Worten öffnete ich die Beifahrertür und trat hinaus. Deacon setzte sich ans Steuer des Busses und startete den Motor.
Der beißende Wind schmerzte auf meiner Haut. Obwohl ich mir einbildete, seinen Blick noch immer spüren zu können, drehte ich mich nicht noch einmal um.
Zurück in die Stadt, zurück in die Ungewissheit. Als ich schon von weitem die Fenster meines Apartments sehen konnte, stiegen mir erneut die Tränen in die Augen, doch ich zwang mich dazu, nicht stehen zu bleiben. Den Gedanken daran, womöglich doch die Brücke zu meinem Schlafplatz zu machen, konnte ich nicht ertragen.
Wo sollte ich aber ansonsten auch hin? Die Obdachlosenheime waren zu dieser Jahreszeit bereits heillos überfüllt. Und dazu ... ich, als Frau, in den gemischten Heimen der Stadt?
Der Wind brachte ein Bombardement aus eisigen Regentropfen mit sich, die nun beinahe waagrecht fielen und mich bis auf die Knochen durchnässten.
Ich könnte versuchen, mir irgendwo ein billiges Zimmer in einer Absteige am Rand der Stadt zu besorgen. Aber mit welchem Geld? Vielleicht brauchte jemand eine Aushilfe für den Tag. Schnellen Verdienst, den brauchte ich jetzt.
Ich hatte zwar nicht mehr viel Bargeld, aber für ein U-Bahnticket, um in die Stadt zu kommen, würde es noch reichen. Vielleicht konnte ich mich auch einfach durch das Drehkreuz drücken, wenn niemand hinsah. So war vielleicht auch noch etwas Essbares drin.
Langsam wurde der Verkehr dichter. Ich hatte die U-Bahn-Haltestelle am äußersten Rand der Stadt fast erreicht und wollte gerade über die viel befahrene Straße gehen, als auf einmal ein langes, laut ratterndes Gefährt neben mir fuhr und das Tempo deutlich drosselte. Irritiert sah ich nach rechts und erkannte sofort, dass es Deacons rostige Kiste war. Er beugte sich durch das geöffnete Fenster nach draußen.
„Du stellst keine Fragen oder gehst mir anderweitig auf die Nerven. Du kommst mir nicht in die Quere oder redest mir rein, kapiert?", rief er in meine Richtung, um gegen den Straßenlärm und den immer stärker werdenden Regen anzukommen. „Wenn du damit einverstanden bist, kannst du einsteigen."
Meinte er das ernst? Meine Anwesenheit schien ihn letzte Nacht zwar auch nicht sonderlich gestört zu haben, aber er war sehr deutlich in seiner Ansage gewesen, dass dies die einzige Nacht wäre, die ich in seinem Bus verbringen würde. Warum hatte er seine Meinung geändert?
Und außerdem: Ich kannte ihn doch überhaupt nicht. Es gab jedoch nichts mehr, was mich noch mit diesem Ort verband. Ich könnte einfach einsteigen. Egal, wohin er mich brachte ... Ich könnte einen Neuanfang wagen.
„Also?", fragte Deacon ungeduldig, während bereits die ersten Fahrer hinter ihm wütend auf ihre Hupen drückten. „Wie sieht's aus?"
„Okay", murmelte ich. „Ich komme mit, auch wenn wir uns genau genommen eigentlich noch gar nicht kennen", rief ich dann etwas lauter, lächelte dabei aber zurückhaltend. „Du könntest sonst wer sein. Woher weiß ich, dass du kein Serienmörder bist?"
„Würde ich dir das denn sagen, wenn es so wäre?", antwortete er trocken mit perfekt aufgesetztem Pokerface.
Ich musste lachen. „Alleine diese Antwort zeigt schon, dass du es nicht bist."
Ich hatte meine Entscheidung längst getroffen. Entschlossen löste ich mich aus meiner Starre und ging zu dem brummenden Wagen. Als ich die Beifahrertür öffnete, zog mir eine wohlig warme Wolke entgegen, die mir jetzt noch viel wertvoller vorkam als heute Morgen. Deacon reichte mir ein Handtuch und bedeutete mir, mich abzutrocknen, weil ich seinen Van volltropfte.
„Danke."
Er nickte stumm, wandte sich dann wieder der Straße zu und fuhr los.
Ich wusste nicht, wohin er wollte. Ich wusste nicht, was seineGeschichte war, aber es war mir egal. Ich hatte ein Dach über dem Kopf undkonnte hoffentlich in den nächsten Tagen meinen Kopf frei bekommen. Dafür warich ihm unendlich dankbar.
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