45 • An old friend
Suzuka, 10. Oktober 2019
Mit meinem Handy in der Hand lief ich am Morgen des Medientages durch den Paddock und scrollte durch meine Social Media Seiten. Da Carlos zur Pressekonferenz eingeteilt wurde, hatte Patrick mir geschrieben, dass wir uns eine halbe Stunde später als sonst vor unserem Motorhome treffen würden als üblich. Dementsprechend viel Zeit ließ ich mir.
Meine Unaufmerksamkeit sollte sich gleich rächen, als ich mit einer Person zusammenstieß und erschrocken mein Handy fallenließ. Rasch hockte ich mich hin, um es aufzuheben: alles heile geblieben. Erleichtert richtete ich mich wieder auf und blickte dann die Augen des jungen Mannes, gegen den ich gelaufen war. Mein Herz setzte für einen Moment aus und überrascht entwich mir ein hauchdünnes:,,Sacha?"
,,Hey Lando", begrüßte mich mein ehemaliger Mitbewohner, den ich seit seinem Wechsel in die japanische Formel 4 und seinem folgenden Auszug nicht mehr gesehen hatte, nicht einmal geschrieben hatten wir länger als drei Tage miteinander, obwohl wir uns etwas anderes geschworen hatten.
,,Ich... uhm", murmelte ich perplex und brauchte erst einmal einen Moment, bis ich realisiert hatte, dass es wirklich er war, der nach knapp zwei Jahren wieder vor mir stand. Leicht schüttelte ich den Kopf und damit auch meine Gedanken zurecht, um mehr als ein Wort herauszubringen. Konzentriert setzte ich noch einmal an:,,Ich hätte nicht erwartet dich hier zu sehen. Wurdest du von jemanden eingeladen?"
,,Ja, von Honda. Ich darf das Wochenende bei Toro Rosso in der Box verbringen", erzählte er erfreut und musterte mich mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Mittlerweile hatte ich mich soweit gefangen, dass ich sein Lächeln erwidern und ihn beglückwünschen konnte:,,Wow, das ist großartig! Du wirst sicherlich gute Erfahrungen sammeln können."
,,Danke", erwiderte Sacha, legte seinen Kopf leicht schief und biss sich auf die Unterlippe, bevor er fort fuhr:,,Du siehst gut aus, immer noch das unverwechselbare Lächeln und die funkelnden blauen Augen."
,,Charmant wie eh und je, aber das kann ich nur zurückgeben", schmunzelte ich. Obwohl wir in den letzten Jahren nicht einmal mehr Kontakt hatten, versuchte er mich weiterhin in Verlegenheit zu bringen. Er hatte sich wirklich nicht verändert.
Ertappt schüttelte mein ehemaliger Mitbewohner den Kopf und seufzte herzlich:,,Ich muss jetzt wieder zurück in die Toro Rosso Box, aber... lass uns Essen gehen. Morgen Abend nach dem Freien Training, nur du und ich wie früher. Ich bin gespannt, was sich alles bei dir verändert hat."
Seine Worte lösten bei mir ein mulmiges Gefühl aus. Damals hatte es mein Herz höherschlagen lassen, wenn er von ihm und mir gesprochen hatte. Die Vorstellung von uns hatte mir gefallen. Allerdings hatte er sich dazu entschieden, nach Japan zu ziehen, bevor ich herausfinden konnte, was diese Gefühle wirklich zu bedeuten hatten. Und nun? Nun waren zwei Jahre vergangen und es gab immer noch einen Menschen, bei dem mir die Vorstellung von ihm und mir, von uns gefiel. Jedoch war dieser Mensch mittlerweile Carlos, dem gegenüber ich Sacha nie erwähnt hatte. Das lag nicht daran, dass ich nicht wollte, dass er etwas von ihm erfuhr, sondern viel mehr daran, dass ich mit Sach und meinen Gefühlen für ihn schnell abgeschlossen hatte. Als er gegangen war, hatte ich genug mit meiner Formel 2 Saison und meinem Job als Nachwuchsfahrer bei McLaren zu tun gehabt.
,,Ich... ich weiß nicht recht, ob ich Zeit habe", gestand ich stammelnd, da es sich nicht richtig anfühlte mit irgendjemand anderen auszugehen als mit Carlos, vor allem nicht mit meinem ehemaligen Mitbewohner, der die erste gleichgeschlechtliche Person gewesen war, zu der ich mich hingezogen gefühlt hatte.
,,Du hast mal gesagt, dass du immer Zeit für mich hast", erinnerte er mich grinsend. Schneller als ich reagieren konnte, strich er mir über die Wange und zwinkerte:,,Morgen Abend in der Hotellobby, 19 Uhr. Versetz mich bloß nicht, Valentine."
Damit senkte er seine Hand wieder und ging an mir vorbei. Verdattert glitt meine Hand zu meiner Wange, an der sich bei seiner Berührung weder ein angenehmes Kribbeln, noch eine vertraute Wärme wie früher ausgebreitet hatte. Ich fühlte gar nichts, nicht einmal als er den Kosenamen betonte, den er mir zum Valentinstag 2017 verpasst hatte. Wir beide hatten damals keine Verabredung gehabt, weshalb wir uns am Abend einen klischeehaften Liebesfilm rausgesucht und uns während des Films über die Handlung lustig gemacht hatten. Bevor wir mit einem zweiten Film genau dasselbe gemacht hatten, hatte er mir gefragt, ob ich sein Valentine sein wollte. Lachend hatte ich zugestimmt. Seitdem war es ein Insider zwischen uns gewesen, den er ab und zu hervorgeholt hatte. Auch wenn es seither ein Scherz gewesen war, hatte es mir immer etwas bedeutet, wenn er den Kosenamen verwendet hatte.
,,Wäre es wirklich zu viel verlangt gewesen, wenn du ein Motorhome weiter gelaufen wärst?", holte mich Patricks Stimme zurück in die Realität, der auf einmal neben mir stand. Was er mit seinen Worten meinte, erschloss sich mir zunächst nicht. Ohnehin hatte ich gerade nur einen Gedanken, der mir durch den Kopf ging und aufgewühlt über die Lippen kam:,,Ich muss zu George."
,,Nein, du musst jetzt mit mir Carlos abholen und anschließend für ein Interview mit Sky Sports in die Kamera lächeln. Also, komm mit", forderte er streng und machte mir mit einer Handbewegung deutlich, dass ich ihm folgen sollte. Murrend kam ich seinen Wunsch nach und bemerkte dabei, dass ich vor dem Motorhome von Haas mit Sacha zusammengestoßen war, welcher direkt neben unserem lag. Dadurch gaben Patricks Worte gleich viel mehr Sinn.
Ein weiterer Medientag musste vergehen, bis ich mir den Ratschlag meines besten Freundes einholen konnte, mit meinem ehemaligen Mitbewohner essen zu gehen oder nicht. Nach dem letzten und unheimlich amüsanten Interview mit Carlos packte ich in meinem Fahrerzimmer direkt meinen Rucksack und verließ unser Motorhome. Der Tag mit dem Spanier hatte das mulmige Gefühl bei dem Gedanken an einem Abend mit Sach nicht gerade verringert. Wir verstanden endlich wieder blendend, konnten unbeschwert Witze machen und Lachen. Seine Nähe tat so gut wie lange nicht mehr und das wollte ich um nichts auf der Welt hergeben.
Da George mir noch nicht geschrieben hatte, wo er war, geschweige denn wann er Zeit hatte, beschloss ich selbst im Motorhome von Williams nachzuschauen. Die Wahrscheinlichkeit ihn im Paddock zu finden, war dort wohl am höchsten. Als ich das Motorhome betrat, war es überraschend leer, allerdings war ich auch nie zuvor hier gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wo sich die meisten Mitarbeiter des Teams aufhielten oder George zu finden war. Etwas hilflos blickte ich mich um und entschied mich die Frau anzusprechen, die an der Bar zu arbeiten schien:,,Entschuldigung, ich bin Lando, ein guter Freund von George. Wissen Sie, wo ich ihn finde?"
,,Er ist derzeit bei einem Interview, aber du kannst gerne hier auf ihn warten", erwiderte sie freundlich und deutete auf einen der freien Tische im Raum.
,,Danke", gab ich lächelnd zurück und ließ mich auf einen der Stühle nieder. So lieb wie die Frau war, brachte sie mir ungefragt ein Glas Wasser und ein paar kleine Wraps, die ich dankend entgegennahm. Während ich auf George wartete, vertrieb ich mir die Zeit am Handy und aß ein paar der Wraps.
,,Hey Lando", ertönte nach einiger Zeit die Stimme meines besten Freundes. Suchend sah von meinem Handy auf und blickte zu George, der sich gegenüber von mir gesetzt hatte:,,Du bist auf der Suche nach mir?"
,,Ja, ich habe ein Problem", erklärte ich voreilig und schob mein Handy gesperrt in die Hosentasche. Der Blick meines Gegenübers wurde finsterer:,,Was hat Carlos gemacht?"
,,Er hat gar nichts gemacht", stellte ich seufzend klar und sparte mir ein Augenverdrehen. Stattdessen versuchte ich das Gespräch umzulenken:,,Erinnerst du dich noch an Sacha?"
,,Sollte ich das?", hakte er verblüfft nach und griff nach einem der letzten Wraps auf dem Teller.
,,Sacha Fenestraz, er war mein Mitbewohner", fuhr ich meine Worte weiter aus. Zögerlich nickte der Williams-Fahrer:,,Der, der vor Jahren nach Japan gezogen ist?"
,,Genau der, ich habe ihn heute im Paddock getroffen. Er wurde von Honda eingeladen", erzählte ich, was er mit einem verwirrten Blick quittierte:,,Und das ist ein Problem?"
,,Ja, es ist ein Problem, weil...", setzte ich an, wandte dann meinen Blick beschämt zu Boden, da ich auf das vielsagende Gesicht meines besten Freundes verzichten konnte, ,,weil ich sofort an Carlos denken musste, als er mich gefragt hat, ob ich morgen Abend mit ihm essen gehe."
,,Was genau hat Carlos mit dir und deinem alten Mitbewohner zu tun?", fragte George perplex nach.
,,Sacha war... ich weiß nicht, was er war. Wir standen uns in der Zeit, in der wir zusammengewohnt haben, sehr nah. Es gab einen Abend, an dem wir uns geküsst haben. Ich hatte endgültig realisiert, dass ich Gefühle für ihn hatte, doch am nächsten hatte er mir gestanden, dass er Japan ziehen würde", murmelte ich, sprach damit zum ersten Mal das aus, was ich bis zu dem Zusammenstoß mit Sach selbst vergessen und niemals jemanden erzählt hatte. Es war ein kurzer, für mich damals überraschender, aber gleichzeitig wunderschöner Kuss gewesen, der für uns der Anfang vom Ende war.
,,Wieso hast du das nie erzählt?", wollte mein bester Freund einfühlsam wissen. Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern und hob zögerlich wieder meinen Kopf:,,Ich habe es niemanden erzählt. Das zwischen uns war schon vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat. Es war ein einfacher Kuss."
,,Es schien für dich mehr als ein Kuss zu sein, wenn du Gefühle für ihn hattest", vermerkte mein Gegenüber skeptisch und lehnte sich zurück, ,,kommen die Gefühle wieder hoch?"
,,Gott, nein! Ich liebe Carlos und egal wie viel Zeit ich mit Sacha verbringen würde. An meinen Gefühlen würde sich nichts ändern", antwortete ich mit fester Stimme. Verstehend nickte George und lächelte aufmunternd:,,Dann geh mit Sacha essen. Keiner sagt, dass ihr dort weitermachen müsst, wo ihr vor seinem Umzug aufgehört habt. Ihr könnt euch auch als alte Freunde treffen und reden."
,,Und Carlos?", gab ich unsicher zu bedenken. Fragend betrachtete mich mein bester Freund:,,Was soll mit Carlos sein?"
,,Wir verstehen uns endlich wieder so gut. Ich will nicht, dass das kaputtgeht, weil er denkt, dass ich ihm Sacha verheimlicht habe", entgegnete ich kleinlaut. Entsetzt verzog George sein Gesicht und sah mich misstrauisch an, schien abzuwarten, ob ich meine Worte wirklich ernst meinte oder noch etwas sagen wollte. Als ich still blieb, fuhr er sich murrend übers Gesicht und schüttelte den Kopf:,,Verflucht Lando, du bist zu gut für diese Welt. Carlos ist wohl der letzte, der dir vorwerfen darf, dass du ihm irgendwas verheimlicht hast. Zumal du selbst gesagt hast, dass zwischen Sacha und dir schon alles vorbei war, bevor sich überhaupt etwas entwickeln konnte. Er war dein Mitbewohner, nicht dein Verlobter. Dazu hattet ihr jahrelang keinen Kontakt... du hast nichts falsch gemacht und machst auch keinen Fehler, wenn du dich mit ihm triffst. Du bist ein freier Mensch und darfst machen, was immer du willst."
,,Aber es fühlt sich so an, als würde ich... als würde ich Carlos betrügen, wenn ich mit Sacha ausgehe", vermerkte ich mit zitternder Stimme. Zu gut konnte ich mir vorstellen, wie lächerlich und unverständlich sich das nach dem anhörte, was zwischen dem Spanier und mir vorgefallen, allerdings konnte ich daran nichts ändern. Mein Herz gehörte trotz allem Carlos und mit jemanden anderen auszugehen, erschien mir falsch.
,,Das tust du aber nicht. Ihr seid nicht mehr zusammen, Lando", führte mein bester Freund mir mit klarer Stimme vor Augen. Obwohl seine Worte nichts als die Wahrheit waren, taten sie weh.
,,Ja, stimmt", gab ich angestrengt zurück und zwang mir ein zartes Lächeln auf die Lippen. Zufrieden nickte George und schob entschlossen seinen Stuhl zurück:,,Das war genug Carlos für heute. Unser Hotel hat eine Bowlingbahn und die müssen wir austesten!"
Zustimmend stand ich ebenfalls auf und folgte dem Williams-Fahrer zu seinem Fahrerzimmer. Er holte seine Tasche, bevor wir zusammen das Motorhome verließen und uns auf den Weg zum Hotel machten, um den restlichen Abend ohne Alex mit Bowling zu verbringen, da dieser noch mit seinen Medienterminen beschäftigt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro