Kapitel 6
Mir war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Die Hektik der Stadtbewohner konnte man sogar bis zu unserem Platz hin spüren.
Am frühen Morgen waren Neo und Duran aufgebrochen, um herauszufinden, was dort in der Stadt vor sich ging.
„Sidney?," fragte mich Aramis, nachdem die zwei Jungen weg waren. „Wollen wir ein wenig spazieren gehen?"
Ich willigte ein, zumal ich nichts besseres vorgehabt hatte und so wanderten wir wenige Sekunden später an der einzigen Straße entlang, die zur Stadt hin führte. Hier fuhren manchmal Lieferwagen ein und aus und brachten solche Lebensmittel, die die Regierung nicht innerhalb der Häuser herstellen konnten.
Ansonsten lebten die Menschen dort praktisch isoliert von der Außenwelt. Verreisen durften nur wenige und nur aufgrund bestimmter Ausnahmen aber manchmal wurden Welche aus anderen Städten oder Ländern eingeladen, damit die Regierung diese abgegrenzte Form von Leben, die in der Stadt herrschte, anderen Menschen nahe bringen konnte.
Auch in der Schule lernten wir damals schnell, dass es eine vernünftige und aufgeklärte Regierungsform war, unter der wir lebten. Natürlich hatten wir das alle geglaubt aber niemand hatte uns beigebracht, dass die Stadt nicht jeden Menschen beherbergte. Denn Einige wurden aussortiert und damit zu einem Leben auf der Straße verdammt.
Früher hatte ich es immer gut gefunden, wenn wir unsere Stadt skizzieren sollten, denn das war alles andere als schwer. Denn man musste einfach einen Kreis zeichnen, der eine Mauer darstellte, welche wiederum das Zentrum sicherte. Und zum Schluss musste man nur noch ganz viele verschieden Gebäude um diese Mauer verteilt aufmalen und schon hatte man das perfekte Bild unseres Zuhauses. Eine perfekte Konstruktion für eine perfekte Stadt.
Nur war Diese nun nicht unser Ziel. Aramis und ich entfernten uns von den großen, dunklen Gebäuden in Richtung Wald.
Der Junge war auf einen Stock gestützt, da sein Bein noch nicht wieder heil war. Wir gingen also sehr langsam und trotz dieses niedrigen Tempos sah ich, wie Aramis bei jeder Bewegung das Gesicht verzog.
„Ich glaube das wird nichts mehr mit meinem Bein.", seufzte er. Fragend sah ich ihn an und suchte nach einem Zeichen in seinem Gesicht, dass dies wieder einer seiner Scherze war.
„Nein wirklich!," beteuerte er und blieb stehen.
„Es fühlt sich merkwürdig an. Irgendwie... irgendwie anders."
„Hast du mal nachgeschaut ?", fragte ich mit wachsender Sorge.
Aramis schüttelte den Kopf und schien um Worte zu ringen. „Nein, ich... ich hab mich nicht getraut."
„Komm her." Ich winkte ihn näher an mich ran. Dann kniete ich mich hin und krempelte vorsichtig sein eines Hosenbein um. Mir wurde augenblicklich schlecht.
Sein Schienbein glich einem angeschimmelten Stück Fleisch und es war extrem angeschwollen.
Und?", Aramis musste sich mehrmals wiederholen bevor ich reagierte. Ich sah zu ihm hoch und er erkannte an meinem Blick, wie es um ihn stand.
Ich wollte etwas sagen, was diese Situation besser machte doch plötzlich hörte ich ein lautes Scheppern und Krachen aus dem Wald. Aramis und ich sahen uns gleichermaßen erschrocken an. Ich lief vor, um nachzusehen, was dort passiert war. Der Junge humpelte so schnell wie möglich hinterher.
Als ich um eine Kurve bog, sah ich ein Auto, welches falsch herum neben der Straße lag. Die Reifen drehten sich noch und aus dem Inneren drang leise Musik an meine Ohren.
Ich rannte so schnell es ging zu dem zerbeulten Wrack und riss die Tür auf der Fahrerseite auf, die ohnehin schon ziemlich demoliert war. Der junge Mann auf dem Sitz hing Kopfüber und wurde nur durch den Gurt gehalten. Ich wollte den Anschnaller lösen, doch als ich danach griff, sah ich die gigantische Scherbe, die von der Windschutzscheibe in seine Brust gesplittert war. Für den Jungen gab es keine Hoffnung mehr.
Doch dann regte sich etwas auf dem Beifahrersitz. Ich sprintete um das Auto herum, zerrte die Tür auf und sah, dass dort ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, in einer ungemütlichen Position lag.
Sie stöhnte leise, was mir zum Anlass gab, sie herauszuzerren. Ihr Schädel war an einer Stelle deutlich eingedellt und ich bezweifelte, dass sie es noch lange machte.
„Per favore," krächzte sie und verdrehte merkwürdig die Augen. Hilflos sah ich zu ihr herunter, bis sie sich nicht mehr regte. Ich nahm ihr Handgelenk. Kein Puls.
Eine Bewegung am Rande meines Blickfeldes ließ mich hochsehen. Ein Reh humpelte in den Wald. Das Auto hatte wohl versucht dem Tier auszuweichen und war ins Rutschen gekommen.
Hinter mir hörte ich Aramis rufen und sah dann, dass er angehumpelt kam. Mit wenigen Worten erklärte ich die Situation, gefolgt von der Frage, was wir nun unternehmen sollten.
Darauf sagte er nichts, hockte sich jedoch schwerfällig hin und begann die Taschen des Mädchens zu untersuchen. „Was tust du denn da?!", fragte ich hysterisch, weil mir die Vorstellung unangenehm war, eine Tote zu beklauen.
„Ich suche nach ihrem Personalausweis." Als ich ihn immer noch ratlos ansah, fügte er hinzu :„Wir müssen doch wissen, wer sie ist, woher sie kommt und wo sie hinwollte."
Natürlich. Es war klar, dass sie mit dem Jungen in die Stadt wollte, denn diese Straße führte nirgendwo anders hin. Jedoch hatte Aramis Recht. Wir mussten ihre Identität herausfinden.
Ich ließ meinen Freund weitermachen und lief abermals auf die andere Seite, um den Jungen zu begutachten. Jedoch ging ich wesentlich vorsichtiger und respektvoller mit dem Leichnam um.
***
„Jordan und Adelissa Marino." Sagte ich laut und legte die Ausweise der Beiden auf den Boden vor uns. Alle sahen mich erstaunt an. Seit Aramis und ich zurückgekehrt waren hatten die Anderen uns mit Fragen durchlöchert aber ich hatte mich erst jetzt geäußert.
„Und sie sind beide... sie sind beide tot?", fragte Assja zaghaft. Aramis und ich nickten betreten.
Neo und Duran waren noch nicht zurück, von ihrer Tour, die uns Klarheit verschaffen sollte und so waren Aramis und Ich die Einzigen mit Neuigkeiten.
„Ihr habt ihre Leichen einfach liegen gelassen?!" Garett schien ernsthaft geschockt. Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, wurde mir klar, wie dumm es gewesen war, die Toten im Wald liegen zu lassen. Sie verdienten es begraben zu werden und ihr Angehörigen mussten informiert werden.
Andererseits wäre es töricht, in die Stadt zu marschieren und dort zu verkünden, dass es einen Autounfall mit zwei toten Jugendlichen gegeben hat. Die Bewohner dort hassten Unsereins und ich war mir fast sicher, dass sie die Schuld bei uns suchen würden.
Mein Gewissen allerdings konnte diese Tatsache nicht besänftigen. Ich hoffte einfach nur, dass in der nächsten Zeit ein Auto diese Straße entlang fuhr und die Beiden entdeckte, bevor es unschön wurde.
„Da kommen Neo und Duran!", rief Luana aus, deren rote Augen nicht zu übersehen waren. Sie hatte gestern noch lange geweint. Jeder hier wusste, dass sie den Tod Ihrer besten Freundin nicht verkraftete.
„Die haben ja ein Tempo drauf!", lachte Aramis, doch dann rutschten seine Mundwinkel nach unten.
Ich drehte mich um, um zu sehen was dem Jungen seine Fröhlichkeit geraubt hatte.
Misstrauisch sah ich den ankommenden Jungs entgegen und mein Herz wurde schwer. Es war unverkennbar, dass hier etwas ganz und garnicht stimmte.
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