Kapitel 2
Kayla und ich wühlen schon seit gefühlten Stunden Kartons durch, in denen die alten Perücken, die wir für unseren Plan benötigen, enthalten sein sollten. Gütiger Weise hatte Kayla meine Sache aus meinem ehemaligen Elternhaus mitgenommen, als ich ins Gefängnis kam und bevor mein lieber Vater sich dazu entschieden hatte, alles zu verkaufen und unterzutauchen.
Bis jetzt sind wir jedoch noch nicht fündig geworden.
Meine Beine schmerzen von dem langen Sitzen auf dem Boden, ebenso wie mein Rücken. Ich bin mir aber sicher, dass ich sie nicht weggeschmissen hatte und sie in diesem Karton stecken müssten. In diesem befindet sich nämlich ein Teil der Habseligkeiten von Lorena.
Unzählige Dinge aus dem alten Haus und meinem früheren Leben kommen wieder zum Vorschein, weswegen ich zwischendurch meine Augen schließen und tief durchatmen muss, um nicht komplett durchzudrehen und die Wut in mir gewinnen zu lassen.
Es tut so unendlich weh.
Sie erinnern mich daran, dass ich mal geliebt wurde. Dass es eine Zeit gab, in der ich eine Familie hatte, die nicht nur aus einer Person besteht.
„Ich kann auch allein weitersuchen."
Kayla wirft mir einen besorgten Blick zu und legt ihre Hand auf meine Schulter, doch ich lasse die Berührung nicht zu. Sie weiß, was in mir vorgeht, weswegen sie mir den nötigen Raum schenkt und die Hand zurück in ihren Schoß legt. Auch diesbezüglich sind wir recht unterschiedlich. Während Kayla oft Nähe sucht, ziehe ich mich lieber zurück. Wenn ich mich erst gar nicht festhalte und auch nicht zulasse, gehalten zu werden, kann ich nicht fallengelassen werden. Es ist sicherer.
Gerade als ich ihr Angebot ohne mich weiterzusuchen annehmen will, ertaste ich etwas Haariges und hoffe innigst, dass es sich nicht um eine tote Maus handelt, die sich in die Kartons verirrt hat. Sie stehen schon lange gestapelt und verstaubt in dieser Ecke, weswegen es mich nicht wundern würde. Jedoch habe ich Glück und kurze Zeit später baumeln lange schwarze Haare mit einem Pony durch die Luft. Eine kupferfarbene Perücke mit schulterlangen und welligen Haaren folgt. Sie riechen nach Lorena und sofort habe ich das Bedürfnis zu brechen.
Sie liebte es, sich zu verkleiden. Fast so sehr, wie sie sich selbst liebte.
„Endlich haben wir diese blöden Dinger. Noch ein bisschen länger und meine Beine wären abgefallen", stöhnt Kayla.
Sie atmet erleichtert aus, während sie ihre langen Beine gequält ausstreckt und sich auf ihren Händen abstützt.
„Gib mir mal die mit den welligen Haaren."
Ich folge ihren Anweisungen und reiche ihr die Perücke, welche sich kurz darauf auf ihrem Kopf befindet. Mein Herzschlag beschleunigt sich, während meine Kehle austrocknet und meine Hände schwitzig werden. Denn plötzlich sitzt nicht mehr meine beste Freundin vor mir, sondern meine ältere Schwester.
„Warum hast du schon wieder diese komischen Perücken auf?", die Verwirrung ist deutlich in meiner Stimme zu hören.
Ich verstehe nicht, warum sie andauernd ihre blonden Haare versteckt, die so viel schöner sind als all diese künstlichen Haare. Generell ist Lorena das schönste Mädchen, das ich kenne. Ich wäre so gerne wie sie.
„Warum denn nicht? Haare können dich zu einem anderen Menschen machen, ist doch langweilig immer derselbe zu sein."
Sie zuckt nebensächlich mit den Schultern, während sie die Perücke mit den roten Haaren auszieht und sich eine neue mit braunen aufsetzt.
„Ich mag dich aber genauso wie du bist und nicht all die anderen Versionen von dir."
Sie lächelt leicht, stupst mit ihrem Zeigefinger meine kleine Nase an und zwickt mir in die Wange, obwohl ich es doch so sehr hasse, das weiß sie ganz genau.
„Das ist süß, Adela, aber ich muss mich doch selbst mögen." Sie blickt wieder in den Spiegel vor sich und scheint mich gar nicht mehr zu beachten.
Erst heute wird mir klar, dass ich überhaupt nicht wusste, wer von den vielen Personen Lorena war. Wer sie wirklich war, wer sie nicht war und wer sie sein wollte. Ich war blind. Blind von der Hochachtung und Vergötterung, die ich ihr entgegenbrachte. Dabei glaube ich, dass sie selbst nicht einmal wusste, wer sie war. Und immer es immer noch nicht weiß.
„Die Haare stehen dir gut", kommt es schließlich von mir.
Gut ist eine Untertreibung. Die Farbe schmeichelt ihrem Teint und die leichten Wellen schmiegen sich perfekt an ihre Gesichtsform. Kayla war schon immer sehr hübsch, doch in den letzten Jahren scheint sie nur noch schöner geworden zu sein. Ihre Lippen sind voll und rosig, ihre Augen werden von dunklen Wimpern umrahmt und das Schönheitsmal über ihrer Lippe ist der Beweis dafür, dass es sich nicht nur um eine subjektive Betrachtung handelt.
Ein dickes Grinsen schmückt auf mein Kompliment hin ihren Mund und sie steht auf, um ihre neue Frisur im Spiegel des Flurs zu betrachten. Währenddessen setzte ich mir den schwarzen Langhaarschnitt auf, der einen starken Kontrast zu meinen sonst blonden Haaren, die mir bis zur Mitte meines Rückens reichen, darstellt. Ich stelle mich neben sie, betrachte uns im Spiegel und stelle zufrieden fest, dass wir beide nun nicht mehr als unsere eigene Person zu erkennen sind. Damit ist der erste Punkt meiner Liste bereits abgehakt. Mit starkem Make-Up dürfte uns wirklich niemand mehr erkennen dürfen.
„Du siehst richtig badass mit den schwarzen Haaren aus."
Sie streicht über die Haare, wobei sich unsere Augen verfangen. Augenblicklich breitet sich eine gewisse Ruhe in mir aus und lässt meine Gedanken in den Hintergrund treten. Ein leises Lachen entflieht mir, da sie recht hat. Würde ich es selbst nicht besser wissen, würde ich denken, ich sei eine skrupellose Herzensbrecherin, die nebenbei Verbrechen begeht und sich gleich auf ihr schwarzes Motorrad schwingt. Als wäre ich eine der Frauen, die alle beneiden und gleichzeitig genauso sein wollen.
Dabei würde ich alles tun, um zu tauschen.
„Es ist schon mal ein guter Anfang, so dürfte es schwer werden uns wiederzuerkennen", erwidere ich ermutigend, während ich ihre Perücke richte, die leicht schief auf ihrem Kopf sitzt.
In meinen Gedanken läuft ein ständiges Mantra ab. Wir werden es durchziehen und wir werden nicht erwischt. Es wird leicht sein. Wir sind nicht die ersten, die andere beklauen. Alles wird gut.
Die Tatsache, dass es nur hohle Phrasen sind und ich mir lediglich Mut zurede, ignoriere ich gekonnt.
„Mir fällt gerade noch was ein, warte." Sie huscht ins Badezimmer und kommt daraufhin mit zwei kleinen Schächtelchen zurück. „Ich habe noch farbige Kontaktlinsen. Hätte nicht gedacht, dass ich sie noch mal brauchen werde, aber man weiß ja nie."
Kayla hatte eine Phase, in der sie ihre Augenfarbe hasste, da sie blaue Augen haben wollte. Oder dunkelbraune. Beziehungsweise jede Farbe, außer ihre eigene, obwohl es meiner Meinung nach einer der schönsten ist. Es geht uns wohl allen so, dass wir immer das haben wollen, was wir nicht haben.
Sie öffnet mit flinken Fingern die Verpackung und setzt sich die Kontaktlinsen ein, woraufhin ihre Augen plötzlich nicht mehr haselnussbraun, sondern blau sind. Die Person, die vor mir steht, sieht immer weniger wie die Kayla aus, die ich kenne. Auch ich setzte das andere Paar Kontaktlinsen ein, wodurch sich das helle Blau meiner Augen in ein sattes Dunkelbraun verwandelt. Es ist ungewohnt, aber es gefällt mir. Je weniger ich wie ich selbst aussehe, desto besser.
„Jetzt müssen wir nur noch an unserer Taktik arbeiten", bemerke ich und verwandle mich wieder in mich selbst, indem ich die Perücke abziehe und die Kontaktlinsen herausnehme, was Kayla mir gleichtut.
Auch wenn nicht ganz freiwillig. Sie scheint großen Gefallen an ihrer neuen Identität zu finden.
Jetzt beginnt jedoch der wichtigste Teil der ganzen Sache.
„Steck dir dein Handy und dein Portemonnaie in die Hosentaschen, benimm dich wie ein Kerl und stell dich da hinten an die Wand", befehle ich ruhig.
Sie befolgt meine Anweisungen sofort und stellt sich mit gefüllten Taschen an die ehemals weiße Küchenwand. Eine gewisse Neugierde und Spannung blitzen dabei deutlich in ihren Augen. Ich bewege mich langsam auf sie zu, versuche ihren Blick und ihre Konzentration deutlich auf mich zu lenken und die Situation so realistisch wie möglich zu gestalten.
Verführung muss hier, neben einem gewissen Fingerspitzengefühl, im Vordergrund stehen. Ich muss die Menschen in meinen Bann ziehen, um zu verhindern, dass sie sich auf das eigentliche Geschehen konzentrieren können. Tief in ihre Augen blickend, will ich meine Hände auf ihren Körper legen, doch als Kayla ihren Mund öffnet, ist es mit all meiner Ernsthaftigkeit vorbei.
„Na Süße, willst'e bumsen?"
Sie wackelt anzüglich mit den Augenbrauen, kann sich jedoch selbst nicht mehr zurückhalten, sodass wir beide losprusten.
Wir lachen so lange, dass mein Bauch bereits schmerzt, weswegen ich ihr leicht gegen den Arm schlage und ihr gebiete, vernünftig mitzumachen. Sonst werden wir nie Profis.
„Was denn? Du wolltest, dass ich mich so benehme, also habe ich genau das getan."
Auf ihre Aussage hin schüttle ich bloß schmunzelnd den Kopf und begebe mich erneut an die Arbeit. Meine Hände legen sich in ihren Nacken, fahren ihren Rücken auf und ab bis zu ihrem Hintern, den ich mit meinen Händen umschließe. Ich atme heiß an ihre Halsgrube und lasse meine Lippen über ihn streifen, während ich gleichzeitig die Geldbörse aus ihrer Hosentasche ziehe, was sie nicht bemerkt.
Ich halte ihn triumphierend vor ihre Nase, als sich ihre Augen erschrocken und bewundernd aufreißen. Sie schlägt die Hände vor ihre leicht geröteten Wangen. Unsere Zielobjekte werden im Idealfall sturzbetrunken sein, was das Ganze zusätzlich erleichtern sollte.
„Scheiße, du bist ja ein richtiger Meisterdieb und eine verdammte Schauspielerin noch dazu! Sie hätten dich besser noch ein paar Monate im Knast behalten sollen", kommt es ausgelassen und verblüfft von ihr.
Ich kann förmlich spüren, wie die Hoffnung in ihr wächst, unsere finanziellen Schwierigkeiten beseitigen zu können.
„Das mit der Verführung hast du auf jeden Fall auch drauf", gibt sie fast schon verlegen zu und räuspert sich.
„Irgendetwas muss ja auch ich gut können", erwidere ich grinsend, verrate ihr aber nicht, dass eine meiner Mitinsassinnen wegen Taschendiebstahls saß und mir einige Tricks beigebracht hat.
„Wir gehen jetzt noch deinen Part durch."
Die Stille kehrt in den Raum zurück, während sich Kaylas Aufmerksamkeit wieder ganz auf mich legt.
„Wenn ich das Portemonnaie, die Uhr, beides oder was auch immer ausgeliehen habe, werde ich sie unauffällig hinter meinen Rücken halten. Da ich unser Opfer an die Wand dränge und ablenke wird es nichts mitbekommen. Dein Job ist es dann, wie ein gewöhnlicher Clubbesucher, im nächsten Moment an mir vorbeizugehen und die Sachen einzustecken. Es muss schnell gehen, verstanden? Und niemand darf etwas sehen."
Sie nickt akribisch, darauf bedacht bloß nicht einen einzigen Buchstaben zu verpassen.
„Wir stehlen nur Bargeld, keine Kreditkarten. Es fällt schneller auf, wenn der ganze Geldbeutel fehlt. Du wirst also nur das Geld herausholen, ein zweites Mal an mir vorbeilaufen, mir das leere Portemonnaie überreichen und ich stecke es genauso unauffällig wieder ein, wie ich es herausgeholt habe. Dann verschwinden wir."
In der Theorie klingt es simpel, doch wir sollten dieses Vorhaben auf keinen Fall unterschätzen. Hochmut kommt schließlich vor dem Fall.
„Wie lange planst du das schon? Das wird der Wahnsinn, Dela, wir packen das."
Ihre ganze Haltung strahlt pure Vorspannung und vielleicht auch etwas Freude aus. Es könnte tatsächlich die Lösung sein.
„Schon viel zu lange. Ich habe zu viel Zeit."
Zu viel Zeit sich den Kopf über alle möglichen Dinge zu zerbrechen und sich davon auffressen zu lassen. Zeit, um sein ganzes Leben zu analysieren und ständig darüber nachzudenken, was man hätte anders machen sollen. Zeit, um ständig in der Vergangenheit zu hängen, obwohl ich dringend nach vorne blicken müsste.
„Wir brauchen aber Regeln, ohne Regeln funktioniert nichts." Ich nehme den Stift und ein Blatt Papier von der Ablage und beginne unsere Regeln aufzuschreiben.
„Wir stehlen nur von denen, die mehr als genug haben, was wir ja meist schon auf den ersten Blick sehen können. Ganz davon abgesehen, dass man sich auch einen Clubbesuch erst einmal leisten können muss."
Mir ist bewusst, dass ich versuche einen auf Robin Hood zu machen. Wahrscheinlich mache ich es nur, um mein eigenes Gewissen zu beruhigen, aber ich möchte mich selbst noch ein wenig belügen.
„Wir stehlen nur von Männern, außer eine Frau ist offensichtlich an anderen Frauen interessiert. Und wir drängen uns auch niemandem auf." Es werden sich schließlich kaum Menschen betatschen lassen, die nicht an unserem Geschlecht interessiert sind. „Und wir stehlen nur von Betrunkenen, auf die der Rest zutrifft. Die bekommen sowieso das Wenigste mit und wenn wir Glück haben, haben sie am nächsten Morgen alles vergessen und denken vielleicht sogar, sie hätten alles ausgegeben."
Ich weiß selbst, von meinem ein oder anderen Absturz früher, dass Alkohol so einige Tücken mit sich bringt.
„Wenn wir in Gefahr sind, rennen wir. Du auch ohne mich, verstanden? Falls wir geschnappt werden sollten, oder etwas schief geht, lässt du mich reden. Und keine von uns schläft mit jemandem für Geld", erweitere ich die Bedingungen.
„Das bleibt unser Geheimnis."
Es ist nicht so, als hätten wir irgendwen, dem wir davon erzählen könnten, aber ich wollte diesen Satz schon immer mal für die Dramatik sagen. Ich blicke ihr intensiv und ernst entgegen, um ihr die Wichtigkeit und Gefahr dieser Sache deutlich zu machen. Auch wenn sie manches gerne auf die leichte Schulter nimmt, ist dieses Vorhaben mit Vorsicht zu genießen.
„Verstanden. Dann ziehen wir es morgen durch."
Kaylas Stimme hat eine ungewöhnliche Seriosität angenommen, was mir nochmals verdeutlicht, dass sie es wirklich ernst nimmt.
„Dann lass uns meinen Part noch durchgehen."
Zur Antwort nicke ich lediglich, halte ihre Geldbörse hinter dem Rücken in meiner Hand und warte bis sie beginnt.
Kaylas Finger nehmen geschickt den Gegenstand der Begierde aus meiner Hand, sie holt in Lichtgeschwindigkeit das Geld heraus und legt das leere Portemonnaie nach wenigen Sekunden wieder zurück. Es läuft reibungslos.
„Du bist schnell. Denk nur daran, dass du aus der Sichtweite verschwinden musst. Am besten gehst du in eine Toilettenkabine, wenn sie nah genug ist."
Kayla blickt auf die Uhr und stellt fest, dass sie gleich schon arbeiten muss. Es ist mittlerweile später Nachmittag und somit Zeit für die zweite Schicht ihres Tages, die um elf Uhr endet. Immerhin trägt sie bereits ihre Dienstkleidung, die größtenteils in Brauntönen gehalten ist.
„Wird gemacht, Madame. Soldat Kayla muss jetzt zum Dienst antreten."
Sie salutiert, zieht sich ihre Lederjacke über und die Schuhe an, nimmt mich fest in den Arm und verschwindet dann zu ihrer Arbeitsschicht aus der Wohnungstür. Jedoch nicht ohne mir noch einmal zu versichern, dass ganz sicher alles funktionieren wird.
Nun heißt es also Tee trinken, abwarten und hoffen, dass das Glück einmal auf unserer Seite ist.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro