Kapitel 19
„Geht's noch?!"
Kayla reißt mir wutentbrannt das Glas sowie die Flasche aus der Hand, in der die klare, betäubende Flüssigkeit hin und her schwappt. Beinahe sieht es aus als wäre der Wodka selbst betrunken und könnte deswegen nicht still stehen. Ich wünschte, ich wäre es auch, nur leider musste gerade Kayla nach den ersten Schlucken von der Arbeit nach Hause kommen und meine wunderbaren Pläne zerstören.
„Es ist gerade mal Nachmittag und du trinkst. Was du nebenbei nie tust. Willst du mir die Scheiße vielleicht erklären?"
Sie stemmt ihre kleinen Hände in die Hüfte und bedenkt mich mit einem strengen Blick. Manchmal führt sie sich wie eine Mutter auf. Eine sehr wütende Mutter.
„Ich hatte Durst und wenn man durstig ist, trinkt man eben was", gebe ich trocken zurück.
Kayla schnaubt empört, während ihr Blick immer fassungsloser wird. Immerhin ist alles wieder recht normal zwischen uns. Ich baue Scheiße und Kayla will mir den Arsch retten.
Ich habe die letzten Nächte schrecklich, beziehungsweise eigentlich gar nicht, geschlafen. Die momentane Situation zerfrisst mich innerlich. Die Probleme machen mich fertig. Und unsere sogenannte Lösung dafür ebenfalls. Heute ist Freitag. Heute gehen wir in den Club. Heute mache ich mich wieder an einen Wildfremden ran, um an sein Geld zu kommen. Eigentlich hatte ich die letzten Mal nie ein sonderlich großes Problem damit, aber heute fühle ich mich widerlich. Angewidert von mir selbst.
Es ist falsch, deswegen nach Alkohol zu greifen, das ist mir bewusst, aber ich wollte eine Auszeit. Einfach mal für ein paar Stunden nichts spüren, nicht viel denken. Abschalten. Die Gedanken in meinem Kopf so zuschütten, dass sie zu lallen beginnen und ich sie auf diese Weise nicht mehr verstehen kann. Mich betäuben. Bei meinem Vater hatte das schließlich auch immer recht gut funktioniert.
„Du weißt ganz genau, wie schnell man von solchem Zeug abhängig werden kann. Wenn du auf einer Party in Maßen trinkst, finde ich nicht gut, aber mir egal. Nur nicht am helllichten Tage, mit dem Ziel einer Alkoholvergiftung."
Sie dreht den Deckel der Flasche ab und kippt den restlichen Inhalt in den Abfluss. Geld, das einfach so im Abfluss verschwindet, auch wenn er billig war. „Damit du bloß nicht noch mal in Versuchung kommst."
Mit diesen Worten dreht sie sich von mir weg und rauscht aus der Küche. Wenig später höre ich den lauten Knall einer ins Schloss fallenden Tür. Kayla ist sauer. Und ich kann es verstehen.
Warum komme ich in letzter Zeit auf so dumme Ideen? Warum kann ich keinen normalen Ausweg finden? Einen Ausweg, den eine starke, unabhängige, kluge Frau finden würde, die mit beiden Beinen fest im Leben steht. Vielleicht liegt die Antwort darin, dass ich keine bin.
Ich wollte mir eben eigentlich nur ein Toast machen. Aber als ich den Schrank geöffnet hatte, lächelte mich die Flasche an. Scheinbar neige ich dazu, Lösungen für Probleme auszusuchen, die nur noch mehr Probleme verursachen. Es war dumm. Leider bemerkt man jedoch erst, dass es dumm war, wenn es schon passiert ist. Und dann ist es zu spät. Denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Auch wenn ich es mir jede Sekunde wünsche, die ich lebe.
Derzeit bin ich maßlos überfordert. Mit allem. Ich kann den Ausgang aus diesem Desaster nicht finden und biege stattdessen immer wieder falsch ab. Es ist als würde man mich jedes Mal vor eine Kreuzung stellen und mir befehlen, mich innerhalb weniger Sekunden für einen Weg zu entscheiden. Zurück kann ich nicht. Alle Wege sind beschissen. Aber irgendwie schaffe ich es doch immer, den beschissensten Weg von allen zu wählen. Nur wird mir auch das erst bewusst, wenn ich schon nicht mehr umdrehen kann.
Es ist ein verschissener Teufelskreis. Und ich komme nicht heraus. Nie wieder.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mich langsam fertig machen sollte. Jetzt heißt es Kopf aus und Autopilot an. Ich darf nicht zu viel nachdenken. Das macht alles nur noch schlimmer. Träge erhebe ich mich vom Stuhl und trotte in unser Schlafzimmer, wo ich das rote Kleid aus dem Schrank ziehe und es einige Minuten anstarre. Lorena hat bekommen, was sie wollte.
Letzte Woche lag ich in Italien am Strand, heute liege ich auf dem ekelhaft dreckigen und nassen Boden der Realität. Ich denke, es ist offensichtlich, was angenehmer ist. Mit meinen Gedanken mal wieder ganz woanders, streife ich das seidige Kleid über meinen Körper und führe meinen Weg ins Badezimmer fort, in dem ich Kayla vorfinde, die sich gerade einen Lidstrich zieht.
„Es tut mir leid. Wirklich. Ich war nur fertig. Und verspreche, dass es unter keinen Umständen wieder vorkommen wird."
Um meine Aussage zu untermauern, strecke ich ihr meinen kleinen Finger entgegen, mit dem Kayla, nach kurzem Zögern, ihren eigenen verhakt. Ein kleines Schmunzeln umspielt ihre Lippen, welches die Last auf meinen Schultern gleich leichter werden lässt.
„Wenn du willst, kann ich auch mal deinen Part übernehmen", bietet sie mir an, doch ich schüttele sofort akribisch den Kopf.
„Nein, auf keinen Fall."
Mein Ton lässt keinen Widerspruch zu, weswegen sich Kayla nach kurzem Murren erneut dem Spiegel zuwendet. Ich will nicht, dass sie wildfremde widerliche Männer oder auch Frauen in einem stinkigen Club küsst. Der Gedanke gefällt mir überhaupt nicht. Es ist nicht gut genug für das, was sie verdient hat.
Nachdem meine Mitbewohnerin ihr eigenes Make-up aufgetragen hat, macht sie sich an meines. Mittlerweile ist all das eine der langweiligen Alltagsroutinen. Verbrechen begehen ist meine wöchentliche Routine. Gott, das ist fast trauriger als der Tod von John Wicks Hund. Als letztes trage ich den roten Lippenstift auf, der den Look komplett macht und meinen Opfern ein kurzzeitiges Andenken hinterlässt. Der Lippenstift, der eine Barriere zwischen den Lippen meines Gegenübers und meinen eigenen bildet und mein wahres Ich übermalt. Ich ziehe die schwarze Perücke aus einem der Kartons und setze sie daraufhin auf, werde zu einem anderen Menschen.
Wir verlassen gemeinsam die Wohnung, um uns auf den Weg zum Club zu machen, jedoch wird es heute ein anderer sein. Dort müssen wir zwar Eintritt zahlen, aber aufgrund unserer letzten Ausflüge ist das kein allzu großes Problem. Zumindest wenn wir mit einer fetten Beute wieder herauskommen, was ich jedoch schwer hoffen will.
Die frische Abendluft streift mit ihren kalten Lippen über meine Haut, wodurch sie eine Gänsehaut entstehen lässt. Kayla hakt sich bei mir unter und läuft dicht an mich gedrängt, ihre Knie zittern. Ihre warme Haut lässt ein wohliges Gefühl auf meiner entstehen. Das Wetter heute ist nicht sonderlich gut.
Der Weg zu diesem Club unterscheidet sich nicht wirklich von dem Weg zu dem anderen Club. Wir laufen zur nächsten U-Bahn-Station, beten, dass wir nicht kontrolliert und ohne Fahrkarte erwischt werden, steigen nach mehreren weiteren Stationen aus und laufen die restlichen Meter zu Fuß.
Es hat sich bereits eine beträchtliche Schlange gebildet, an dessen Ende wir uns anstellen und wohl oder übel warten. Vor uns steht eine Gruppe von Männern und Frauen in circa unserem Alter, von denen sich einer derbe mit Parfüm eingesprüht hat. Da meinte es wohl jemand zu gut. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass ein junger Kerl mit dunklen Haaren immer wieder zu uns herüberschaut, weswegen ich einen genaueren Blick auf ihn werfe. Er ist über und über mit Markenklamotten eingedeckt, die perfekt an seinem Körper sitzen, doch das Beste an ihm ist wohl die Uhr an seinem Handgelenk. Als er das nächste Mal zu uns schaut, erwidere ich seinen Blick und lächle ihn gespielt schüchtern an. Er soll denken, dass ich leichte Beute bin. Scheinbar scheint mein Plan aufzugehen, denn er zwinkert mir frech zu und bekommt das verführerische Lächeln gar nicht mehr von seinen Lippen. Damit wäre geklärt, mit wem ich mich heute Abend vergnügen werde.
Die restliche Wartezeit vergeht schnell. Am Eingang bezahlen wir den Eintritt, nachdem wir glücklicherweise hineingelassen wurden und strömen mit den anderen ins Innere. Immerhin war es nicht allzu teuer. Es ist sicherer einmal den Ort zu wechseln. Ich gebe Kayla durch ein Nicken das Startzeichen, woraufhin ich mich auf die Suche nach dem Kerl von eben mache. Scheinbar bin ich jedoch leichter zu finden.
„Bitte erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin ein Mann von Reichtum und Geschmack."
Ich drehe mich zu der dunklen Stimme hinter mir und erblicke sofort den Kerl aus der Warteschlange.
„Machst du alle Frauen mit Lyrics von den Rolling Stones an?"
„Erst mal, es ist mein absolutes Lieblingslied. Zweitens, viele, aber die meisten verstehen es nicht. Ich sollte mir vielleicht doch so langsam eine neue Taktik zulegen. Du scheinst aber etwas Besonderes zu sein. Ich bin Alex."
Er lächelt mich verschmitzt an und hält mir seine Hand entgegen, die ich annehme. Ruckartig zieht er uns auf die Tanzfläche, er weiß offenbar ganz genau, was er da tut. Alex scheint sympathisch zu sein. Er wirkt nicht arrogant oder abgehoben, sondern einfach nur charmant. Aber gleichzeitig hat er irgendwie etwas Teuflisches an sich. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber es ist da.
Vielleicht tanze ich gerade mit dem Teufel. Jedoch spielt es keine Rolle, denn ich habe meine Seele schon vor langer Zeit an ihn verkauft. Ich habe Stücke meiner Seele weggeben, die ich nie wiederbekommen werde. Wenn man schon mit dem Teufel tanzt, dann wenigstens richtig. Ich habe nichts mehr zu verlieren.
Wir bewegen unsere Körper gemeinsam zum Takt der Musik, währenddessen rücken wir immer näher zusammen, doch ich fühle mich die ganze Zeit über beobachtet. Als würden sich Augen in meinen Rücken bohren. Ich schaue mich ab und zu um, kann aber niemanden erkennen. Wahrscheinlich bin ich mal wieder paranoid.
„Du hast übrigens wunderschöne blaue Augen. Wahrscheinlich sogar die schönsten, die ich je gesehen habe."
Blaue Augen?! Scheiße. Verdammte Kacke. Meine Augen sollten braun sein. Die Kontaktlinsen liegen gemütlich zu Hause und machen sich einen schönen Abend. Ich war nicht genug bei der Sache. Bei Alex spielt es keine Rolle, ob meine Augen nun blau oder braun sind, er kennt mich sowieso nicht und wird mich wahrscheinlich nie wieder sehen, aber solche groben Fehler dürfen nicht passieren. Wo ein Fehler ist, sind andere nicht weit.
Ich murmle ein leises „Danke" und versuche krampfhaft intensiven Augenkontakt zu vermeiden. Es wird nicht umsonst gesagt, dass die Augen das Fenster zur Seele sind. Mein größter Schutz ist verloren und wenn ich eins nicht will, dann, dass der Dunkelhaarige die Wahrheit in ihnen erkennt.
Dann kommt meine Chance. Der DJ legt ein langsameres, aufreizendes Lied auf, woraufhin ich mich eng an Alex schmiege. Meine Hände fahren über seinen Rücken rauf zu seinem Nacken, an dem ich ihn zu mir herunterziehe und ihn küsse. Ich mache mir die verwirrenden Berührungen, der sich an uns drängenden Menschen auf der Tanzfläche, zunutze und lasse meine eine Hand sanft über Alex Arm fahren, an dessen Ende sich das Objekt der Begierde befindet.
Ich packe sein Handgelenk und lege seinen Arm von meiner Schulter auf meine Hüfte, während dieser fließenden Bewegung öffne ich den Verschluss, diesmal ohne Probleme, und ziehe die Uhr geschickt von seinem Handgelenk. Da Alex den Kuss kein einziges Mal unterbricht, gehe ich davon aus, dass er nichts bemerkt hat.
Kayla nimmt mir wenige Sekunden später den Zeitmesser aus der Hand und verschwindet im Trubel. Innerlich atme ich erleichtert auf und freue mich über die großartige Beute, auch wenn mir Alex leid tut. Hoffentlich macht ihm dieser Verlust nicht allzu viel aus. Hoffentlich habe ich heute Abend nicht einen Teil von ihm zerstört.
Vielleicht war es nicht ich, die mit dem Teufel getanzt hat, sondern Alex.
Bevor mir dieser Gedanke weiter zu schaffen machen kann, bringe ich ein wenig Distanz zwischen uns und lächle ihn entschuldigend an.
„Bin gleich wieder da."
Ich laufe ein paar Schritte rückwärts und forme mit meinem Mund das Wort Toilette, woraufhin Alex einen Daumen hochstreckt und mir zu verstehen gibt, dass er uns etwas zu trinken holt. Natürlich war das eine Lüge. Ich gehe nicht auf Toilette. Und ich werde auch nicht zurückkommen.
Alex wird mit den zwei Getränken wie ein Trottel auf der Tanzfläche stehen und auf eine Person warten, die so eigentlich gar nicht existiert. Die nur ein Mittel zum Zweck ist, aber nicht real. Er wartet auf eine kaputte Lüge und selbst die wird nicht zurückkehren. Ich bin ein Arschloch. Ein schlechter Mensch. Aber irgendwie muss ich die Person unterstützen und beschützen, die mir am wichtigsten ist.
Endlich kann ich mich von Alex' Rücken losreißen und drehe mich in Richtung Ausgang. Doch ich hätte besser meine Beine in die Hand nehmen und in die andere Richtung rennen sollen, denn was oder eher gesagt wen ich dort sehe, ist alles andere als gut.
„Fuck."
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