
Sieg oder Niederlage II
Sorah wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und folgte dem Korridor, wie Rahal sie angewiesen hatte. Kematian heftete sich an ihre Fersen. Weshalb begleitete er sie überhaupt? Sicher nur, um kein Risiko einzugehen, dass sie dem Kampf entfloh.
Der Lärm der Menschen verklang. In dem Raum am Ende des Ganges angekommen, war er nur noch als Hintergrundbrummen zu hören.
Stumm legte Sorah sowohl Messer als auch Schwert ab. Sollte sie noch etwas in dieser Situation sagen? Kematian vielleicht für die gemeinsame Zeit danken oder ihn fragen, weshalb er sie nun in den sicheren Tod schickte?
Oder sollte sie stumm seinem Befehl folgen und sterben? Das höchste Gebot der Raben war ›Widersetze dich nicht‹.
Wenn Kematian wollte, dass sie ihn begleitete, dann begleitete sie ihn. Wenn er wollte, dass sie tötete, dann tötete sie und wenn er wollte, dass sie starb, dann musste sie ihrem Tod in die Augen sehen und hoffen, bald aus diesem Albtraum zu erwachen.
»Du hast Angst«, sagte Kematian.
»Ach, was«, entgegnete Sorah. Nun, da sie ohnehin nicht mehr lange leben würde, brauchte sie sich nicht zu fürchten, dass der Rabe sie vorher einen Kopf kürzer machen würde.
Kematians Blick verhärtete sich und er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du wirst nicht sterben.«
»Ihr schickt mich dort hinein«, hielt Sorah dagegen. Es galt sicherlich als Widerrede, aber die wenige Aufmüpfigkeit wollte sie sich nicht nehmen lassen.
»Ich habe noch nie gegen Euch gewonnen«, fuhr sie fort. »Ich habe noch nie überhaupt irgendeinen Kampf gewonnen und ...«
Sie brach ab, als Kematian einen Schritt an sie herantrat. Er hob eine Hand und sie zog schon den Kopf ein.
Doch was sie erwartet hatte, kam nicht. Stattdessen legte er seine Hand auf ihre Schulter.
Sie erstarrte. Der einzige Körperkontakt, den sie hatten, war in den Trainingskämpfen, wenn es ihr nicht gelang, seinen Hieben auszuweichen, oder wenn sie ihm widersprochen hatte und er ...
Sie zog es vor, den Gedanken nicht zu Ende zu führen.
»Mich kannst du nicht mit gewöhnlichen Menschen vergleichen«, sagte Kematian und sah ihr in die Augen. »Du hast mich bisher überlebt und das ist mehr, als die meisten behaupten können.«
Sorah wich seinem Blick aus. Als er ihr als Mentor zugeteilt worden war, hatte sie Mitleidsbekundungen von den anderen Raben bekommen. Später erfuhr sie, dass Rekruten bei Kematian meistens nur einige Tage, höchstens wenige Wochen, durchhielten und dann starben. Sorah hingegen lebte nun schon mehrere Monate bei den Raben.
Der Griff an ihrer Schulter verstärkte sich, bis es fast schmerzhaft wurde, und sie keine andere Wahl hatte, als ihm wieder in die Augen zu sehen.
»Du bist mein«, sagte er. »Vergiss das nicht. Ich schicke niemandem, der mir gehört, in den sicheren Tod, aber«, sein Blick erkaltete und Sorah fröstelte, »wenn es dir nicht gelingt, einen gewöhnlichen Menschen zu besiegen, wenn du dich nur von ihm treffen lässt, dann hast du es nicht verdient, mein zu sein.«
Sie schluckte. Es klang fast, als würde er wirklich glauben, dass sie gewinnen würde. In ihrer Brust entflammte ein kleiner Funke Hoffnung und wärmte ihr Herz.
Kematian ließ seine Hand sinken und trat wieder einen Schritt zurück. »Nun, da das geklärt ist, kommen wir zum Eigentlichen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und kehrte zu seiner gewohnt ablehnenden Haltung zurück.
Sorah presste die Lippen zusammen. Er war ihr also nicht nur gefolgt, um ihr Mut zuzusprechen. Was hatte sie auch anderes erwartet?
»Es ist ein Kampf ohne Waffen«, sagte Kematian. »Du bist klein und du bist wendig. Vielleicht wird dein Gegner sich zunächst scheuen, dich zu schlagen. Nutze das zu deinem Vorteil. Denn wenn du getroffen wirst, wird Kraft dahinter stecken und wenn du dich nicht schnell genug erholst, dann wirst du verloren haben, ehe du dich versiehst. Verstanden?«
Sie nickte.
»Du hast mehr Kraft in den Beinen als in den Armen«, fuhr Kematian fort. »Auch das kannst du dir zum Vorteil machen. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Niemand wird es dir verübeln, wenn du dreckig kämpfst. Verstanden?«
Wieder nickte sie.
»Gut, dann das Zweite: Du hast den Mann gehört. Lass den Kampf nicht zu schnell enden. Du wirst Schwachstellen finden, die deinen Gegner sofort zu Fall bringen würden. Merke sie dir, aber nutze sie erst, wenn du schon einige Zeit im Ring bist. Halte die Aufmerksamkeit der Zuschauer, so lange du kannst. Wir sind nicht zum Spaß hier.«
Das konnte nur bedeuten, dass Kematian hier irgendein Geschäft für die Raben abwickelte. Etwas, für das es von Vorteil war, wenn so wenig Leute wie möglich darauf aufmerksam wurden.
»Bist du bereit?«, fragte Kematian.
Und wieder nickte Sorah. In ihrer Kehle würden sich ohnehin keine Worte bilden, die mehr als ein Krächzen waren.
»Dann los«, sagte er und machte eine Handbewegung in Richtung des Korridors, der zurück zum Ring führte.
Den Kampf unweigerlich vor Augen, schlug ihr Herz panisch in ihrer Brust. Alles in ihr schrie, sich in einer dunklen Ecke zu verstecken und erst wieder herauszukriechen, wenn die ganze Aufregung vorübergezogen war.
Der Lärm der Zuschauer verklang hinter dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren, selbst als sie schon wieder im Hauptraum stand.
Sie kehrte zu Rahal zurück. Kematian verschwand in der Menge, aber Sorah bemerkte kaum, dass er nicht länger an ihrer Seite stand. Erst von Rahals Worten wurde sie aus ihrer Trance gerissen.
»Der Kampf ist gerade vorbei«, sagte er. »Bereit für deinen großen Auftritt?«
›NEIN!‹, schrie Sorah innerlich, aber äußerlich holte sie tief Luft und sagte: »Ja.« Ihre Stimme verriet ihre Aufregung. Das Wort klang kratzig, wollte kaum ihre Kehle verlassen.
»Wie du meinst«, sagte Rahal. »Dann dort entlang.«
Er deutete in Richtung des Käfigs und Sorah folgte seiner Anweisung wortlos. Ihre Beine bewegten sich von selbst und sie zwang sich, nicht darüber nachzudenken, was alles geschehen würde.
Sie schritt durch die Schneise, die von den Zuschauern geschlagen war. Die Männer warfen ihr verwirrte Blicke zu, aus dem Grölen war nun ein Tuscheln geworden.
Ein letztes Mal holte sie tief Luft und stieg in den Käfig. Hinter ihr quietschte die Tür und schlug ins Schloss.
Ein hochgewachsener Mann stierte ihr entgegen. Sein Körper war mit Blut besprenkelt und glänzte vor Schweiß. Entweder ihm war keine Pause gegönnt oder er hatte im Vorfeld erfahren, dass sein nächster Gegner ein kleines Mädchen war, und er meinte, dass er sie auch in erschöpftem Zustand besiegen würde.
Eine Spur aus Blut zog sich durch die Arena. Eine Kuhle grub sich durch den Sand, dort, wo Sorahs Vorgänger hinausgeschleift worden war.
Sie schluckte. Nicht, dass sie erwartet hatte, dass ihr Mut sie von einem Augenblick zum nächsten erreichen würde, aber sie hatte zumindest gehofft, dass er aufhören würde, sich in einer Ecke hin und her zu schaukeln und zu weinen.
Ihre Gedanken schwirrten wie Insekten durch ihren Kopf, zu unklar, um einen einzigen zu fassen. Das Rauschen in ihren Ohren übertönte Rahals Ansage. Erst als die Glocke ertönte und der Mann vor ihr in Angriffsstellung ging, fand sie ins Hier und Jetzt zurück.
Doch sofort bemerkte sie: Sie bekam einige Sekunden, um die Situation zu erfassen – Kematian hatte ihr in den Übungskämpfen nie auch nur einen Wimpernschlag Zeit gegeben.
Die Nase ihres Gegners neigte sich in unnatürlichem Winkel. Vermutlich mehrfach gebrochen.
Er ließ seine linke Seite offen und verlagerte im normalen Stand alles Gewicht auf das rechte Bein. Sobald sie ihn dort mit ausreichend Kraft treffen würde, würde er das Gleichgewicht verlieren und zu Boden gehen.
Er holte aus. Sie wich seinem Schlag ohne Mühe aus. Seine Bewegungen unnatürlich langsam. Sie war sogar in der Lage, zu sehen, dass er zuschlug.
Ein überraschtes Keuchen kam von den Zuschauern.
Kematians Bewegungen hatte sie nie sehen können. Hatte sie in einem Kampf mit ihm nur den Bruchteil einer Sekunde in Gedanken verbracht, war sie mit seiner Faust in ihrem Gesicht belohnt worden.
Und bei ihm hatte sie stets das Gefühl, dass er sich zurückhalten würde und ein wirklicher Kampf auf Leben und Tod viel härter wäre.
Sie wich einem zweiten Schlag aus und wieder kam ein erschrockenes Aufkeuchen von den Zuschauern.
Sorah runzelte die Stirn. Es war doch noch gar nichts geschehen, weshalb also reagierten die Umstehenden so?
Eine tiefe Furche grub sich zwischen die Augenbrauen ihres Gegners. Er hatte es sicherlich als leichten Kampf gesehen und erwartet, sie mit nur einem Schlag auszuschalten.
Doch nun zeigte sich, dass das Training mit Kematian – so oft sie auch verloren hatte, so oft sie nichts als blaue Flecken und Prellungen davongetragen hatte – nicht vergebens war.
Oft genug erinnerte sie sich an Momente, in denen sie am Boden gelegen und er sie gezwungen hatte, aufzustehen. Damals hatte sie gedacht, er gönnte ihr keine Pause, da ihm ihre Qual Freude bereitete. Nun erkannte sie, dass es sie stärker gemacht hatte.
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