Epilog: Ejahl
Die Morgensonne hob sich langsam über die Hügel der Wüste. Ihre orangen Strahlen ließen den Sand erglühen und erhellten den Raum einer kleinen Hütte.
Ejahls Hütte.
Er war vor einigen Monaten mit seiner Ziehtochter zurückgekehrt. Sie hatten die Banditen, die sich dort eingenistet hatten, vertrieben und lebten nun wieder in der Wüste. Für einige Zeit zumindest. Lange konnten sie ohnehin nicht an einem Ort bleiben.
Er saß auf seinem Sofa. Eine Hand lag an seinem Kinn und strich über den mittlerweile ergrauten Bart. Vor ihm auf einem niedrigen Tisch stand eine Schüssel mit zwei schon verschrumpelten Äpfeln, daneben eine Rabenfeder und ein Stück Papier, auf dem ein einfaches Wort geschrieben war.
›Gefunden.‹
Die Schrift kannte er, schließlich hatte er Ciacas das Schreiben gelehrt. Der Junge hatte stets unsaubere und fast unleserliche Buchstaben zu Papier gebracht. Das hatte sich auch all die Jahre später nicht geändert.
Ejahls Blick schweifte schon länger, als er zugeben wollte, zwischen Rabenfeder und Nachricht hin und her.
»Gefunden«, murmelte er. Das konnte nur eines bedeuten. Er hatte all seine Kontakte gebeten, die Augen nach einem hochgewachsenen, mürrisch dreinblickenden Raben offen zu halten.
Mehrere Jahre keine Antwort, mehrere Jahre hatte er geglaubt, dass Kematian wahrhaft gestorben war.
Und nun das.
Zwar hatte Ejahl die Kunde über verschwundene und tot aufgefundene Diebe gehört. Lieber aber glaubte er jahrelang, dass der Rabe den Tod gefunden hätte, um ihn lebendig anzutreffen, als stets zu hoffen, dass er noch lebte, nur um irgendwann die Gewissheit zu erlangen, dass er tot wäre.
Die Nachricht änderte alles.
Kematian war so lange fortgeblieben. Ejahl hatte erwartet, dass der Rabe wenigstens zurückkehren würde, um seine Tochter wiederzusehen, wenn schon ihre Freundschaft als Grund nicht ausreichte.
... falls man es noch Freundschaft nennen konnte.
Eine Tür knarzte, Schritte kamen den Flur entlang und eine junge Frau tauchte im Türrahmen auf. Blondes Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern und sie trug weite Kleidung, in die sie stets nach dem Aufstehen schlüpfte.
»Morgen«, brummte sie und rieb sich die Augen. »Was ist das?«
»Das?« Er deutete auf das Schriftstück. »Papier.«
Sie gab ihm ein Augenrollen. »Du weißt, was ich meine«, sagte sie und ließ sich neben ihm auf das Sofa fallen. »Was Wichtiges?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das überlege ich noch.« Sein Blick schweifte zwischen der Nachricht und der Rabenfeder hin und her. »Ava, magst du mir einen Tee machen?«
Ava, Kematians Tochter, schob die Brauen zusammen. »Du hast Beine, also kannst du selbst aufstehen und dir welchen machen.«
Er nickte langsam. »Wohl wahr.« Aber er erhob sich nicht.
Der Grund, weshalb er nicht aufspringen und losziehen konnte, um Kematian zu suchen, saß derzeit direkt neben ihm.
Er hatte sich alle Mühe gegeben, die Streitigkeiten zwischen Raben und Dieben von Ava fernzuhalten. Überhaupt hatte er sich gezügelt, zu erwähnen, dass es ein Bündnis der Elstern gab.
Für sie war er nur ein einfacher Dieb – zugegeben, ein sehr guter Dieb – und ein Mann, der ab und an seltsame Briefe erhielt.
Wenn er nun mit ihr direkt ins Kriegsgebiet ziehen und an die Tür der Raben klopfen würde, dann wäre all die Mühe der vergangenen Jahre umsonst und sie in unmittelbarer Gefahr.
Er stieß ein Seufzen aus. »Nichts Wichtiges«, sagte er und erhob sich. Dann würde er weiter warten, bis Kematian sich entschloss, ihn aufzusuchen. Er konnte nur hoffen, dass der Rabe sich nicht zu lange Zeit ließ. Denn Ejahl war nicht mehr der Jüngste und er wurde nicht jünger.
Sein Blick traf Ava. »Lass uns frühstücken.«
In diesem Krieg waren seine Hände gebunden. Obwohl er der König unter den Dieben war, stand er nicht an vorderster Front. Obwohl er der Meisterdieb war, versteckte er sich wie eine Ratte.
Er stockte. Was, wenn alles ganz anders war?
Sein Blick schoss zu der Notiz, der Feder. Was, wenn er die Nachricht falsch verstanden hatte?
Hatten die Raben Ciacas ergriffen und gezwungen, seinen Aufenthaltsort preiszugeben und ihm zu schreiben? Hieß der Brief, dass sie ihn gefunden hatten?
»Ejahl?«, fragte Ava. Sie kannte diesen Ausdruck in seinen Augen.
Ejahl schluckte hart. »Wir müssen aufbrechen.« Die Worte hatte er oft gesprochen. Immer, wenn er glaubte, dass sein Versteck aufgespürt worden war und bald die Raben vor seiner Tür auftauchen würden.
Zwar hütete er sich, irgendjemandem seinen genauen Aufenthaltsort zu nennen und ließ die Briefe, die er den anderen Elstern schickte, vage. Doch vielleicht war er zu unvorsichtig. Die Raben hatten Mittel und Wege, Flüchtige aufzuspüren, und er würde sie auf keinen Fall unterschätzen.
Er war der Meisterdieb, der Anführer der Elstern. Derjenige, der die Gefechte mit den Raben begonnen hatte und bald in einem Krieg münden lassen würde. Und all das, ohne selbst auch nur einen Fuß auf das Schlachtfeld zu setzen.
Denn er durfte ihnen nicht in die Hände fallen. Ohne ihn waren die Diebe verloren und niemand würde den Raben Einhalt gebieten.
Und er durfte Ava nicht in Gefahr bringen. Niemals. Mit der Bitte hatte Kematian ihn damals verlassen und Ejahl würde dieses Versprechen nicht brechen.
»Wann gehen wir los?«, fragte Ava.
»Sofort.«
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