Ein Tag ohne Sonne I
Kalte Nässe klatschte Sorah ins Gesicht. Sie quietschte auf und sprang auf die Füße. Vor ihr Kematian und in seiner Hand ein Eimer, in dem sich wenige Sekunden zuvor noch Wasser befunden hatte. Seine Miene undurchdringlich und eisig.
Sorah zog den Kopf ein und erwartete schon das Schlimmste. Kematian aber wandte sich wortlos ab und verließ den Raum.
Langsam kroch sie wieder aus ihrem Schildkrötenpanzer. Das war ... liebevoller gewesen, als sie von ihm erwartet hatte.
Sie blickte kurz zu der Tür, durch die Kematian verschwunden war. Wenn sie recht überlegte, dann wollte er wahrscheinlich nur nicht, dass sie mit einem blauen Auge zum Ball ging.
Sie trocknete ihr Gesicht ab, kleidete sich an und band ihre Haare zusammen, ehe sie vor die Tür trat.
Kematian wartete auf sie, wandte sich, als sie ihn erreichte, aber wortlos ab und ging voran.
Die Sonne stand hoch am Himmel und es bewegten sich schon einige Menschen auf den Straßen. Sorah hatte also wirklich lange geschlafen. Viel länger als zu entschuldigen gewesen wäre.
Sie folgte Kematian, bis er vor einem Laden zum Halten kam. In den Schaufenstern standen edle Kleider und Schuhe aus.
Sorah schluckte. Das hatte sie fast vergessen. Um unbemerkt auf den Ball zu gelangen, musste sie aussehen wie eine Adelige, wenn sie schon nicht wusste, wie sie sich zu verhalten hatte.
Kematian öffnete die Tür – ein Glöckchen über dem Rahmen klingelte – und er trat ein.
Innen waren weitere Kleider in verschiedenen Farben und Größen und allesamt mit Reifrock ausgestellt. An einer Seite des Raumes standen unzählige Paare Schuhe und Stiefel, einige mit Absatz, andere ohne.
»Ich bin gleich bei Euch«, ertönte eine Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens und nur wenige Sekunden später tauchte eine ältere Frau auf. Die blonden Haare kunstvoll zusammengesteckt, doch ganz gelang es ihr nicht, die ergrauten Strähnen zu verbergen. Sie trug ein Kleid aus Seide in Bordeauxrot.
»Ah, da seid Ihr endlich«, sagte sie und blieb vor den beiden Ankömmlingen stehen. Sie warf einen Blick auf Sorah, wandte sich aber an Kematian. »Eure kleine Schwester, nehme ich an?«
Der Rabe nickte.
»Wirklich eine bildhübsche junge Frau, da habt Ihr nicht übertrieben«, fuhr die Dame fort und richtete sich nun an Sorah. »Ihr dürft mich Alette nennen. Ich bin eine alte Bekannte Eures Bruders.«
Sorah warf einen Blick auf Kematian. Sie hatte nicht erwartet, dass er überhaupt etwas wie ›Bekannte‹ hatte. Wenigstens hatte sie sich nicht als ›Freundin‹ vorgestellt, ansonsten hätte Sorah alles infrage gestellt, was sie je gelernt hatte.
Es war nur zu offensichtlich, dass sie nicht in einem gewöhnlichen Kleidungsgeschäft gelandet war. Einige Läden hatten eine Abmachung mit den Raben geschlossen. Sie bevorzugten diese als Kundschaft und hatten stets einen Platz für sie frei.
»Ich habe schon einige Kleider ausgesucht, die wunderbar zu Eurem Aussehen passen werden«, fuhr Alette fort. »Wenn Ihr mir folgen würdet.«
Sie führte die Raben in den hinteren Teil des Ladens. Offenbar war Kematian am Vortag oder früher am Morgen dort gewesen und hatte sie angekündigt.
Weiter hinten waren nur wenige Kleider ausgestellt und ein kleiner Kreis, in dessen Mitte ein Podest stand, war freigemacht. Auf einer Seite teilte ein Paravent den Raum und davor befand sich ein Tischchen mit allerhand ... Zeugs. Sorah konnte es wirklich nicht anders beschreiben als ›Zeugs‹. Stofffetzen, Nadel und Faden, Knöpfe, Maßbänder. Alles auf einem Haufen und unsortiert.
Auf der anderen Seite des Raumes saß ein junger Mann auf einem roten Sofa. Die Beine hatte er überschlagen und den Blick richtete er nun auf die Ankömmlinge.
Sorahs Brauen schoben sich zusammen. Wer war das?
Ein Lächeln legte sich auf die Lippen des jungen Mannes. Ehe er aber aufstehen oder etwas sagen konnte, flog ein Gegenstand in seine Richtung. Er sprang zur Seite und hob die Hände und der Gegenstand – ein Knopf, wie Sorah erkannte – prallte gegen das Polster der Couch.
»Ich habe doch gesagt: Nicht hinsetzen«, rief Alette.
»Wird nicht wieder vorkommen«, sagte der junge Mann eilig. »Gnade, Gnade, ich erbitte Gnade.«
Sorahs Augen weiteten sich. Das war Ciacas. Sie erkannte ihn an der Stimme. Zuvor war sie ihm nur im schummerigen Licht begegnet und er hatte stets eine Kapuze getragen, sodass sie sein Gesicht ohnehin nicht gesehen hatte.
Aber ... so hatte sie ihn sich nicht vorgestellt. Die dunklen Haare trug er ordentlich zusammengebunden, das Gesicht ohne Unreinheiten und gewaschen – was man bei Dieben nicht als gegeben voraussetzen sollte.
Er war nicht länger in die Diebesrüstung gekleidet, sondern trug einen dunklen Gehrock mit hohem Kragen, in den silberne Fäden gewoben waren.
Ciacas lachte leise. »Ich bin auch erstmal rot geworden, als ich mich im Spiegel gesehen habe. Ich meine«, er legte eine Hand an seine Brust, »ich sehe echt gut aus.«
Sorah verzog das Gesicht. Und mit dem musste sie auf den Ball. Was machte er schon hier und warum war er bereits so angezogen? Es war vormittags und der Ball begann erst abends. Sie würden hier doch keine Stunden verbringen.
Alette warf ihm einen misstrauischen Blick zu und nahm schon den nächsten Knopf, um ihn nach dem Dieb zu werfen.
Ciacas hob die Hände höher. »Ich ergebe mich, ich ergebe mich doch schon«, sagte er hastig. »Ich werde von nun an brav und anständig sein.«
Alettes Brauen blieben zusammengeschoben. »Männer wie Euch gibt es zu Genüge«, sagte sie. »Meinen immer, sie wären anständig und wollen doch nur das Eine.«
»Das ...« Ciacas rieb sich am Kinn. »Das streite ich nicht ab«, sagte er. »Aber tagsüber werde ich zumindest so tun, als wäre ich wohlgesittet und keusch. Meine Tätigkeiten bei Nacht müssen nicht Eure Sorge sein.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Außer natürlich Ihr wollt –« Weiter kam er nicht, denn der Knopf kam nach ihm geflogen und er wich aus.
Weshalb konnte Alette keine Nadel oder eine Schere nehmen?
Ciacas lachte leise und Alette rümpfte die Nase. Sie wandte sich zu Sorah, rollte mit den Augen und meinte: »Haltet Euch lieber von Männern wie ihm fern. Den einen Tag versprechen sie Euch noch die Welt und am nächsten sind sie verschwunden.«
Sie stieß ein Seufzen aus und Sorah beschlich die Ahnung, dass sie durchaus Erfahrungen mit Leuten wie Ciacas gemacht hatte.
»Wo wir gerade bei dem Thema sind«, ergriff der Dieb wieder das Wort und wandte sich an Sorah. »Meine Liebe, wie war es?«
Sie schob die Brauen zusammen. »Was?«, fragte sie. Ciacas plante etwas und ihr würde es gewiss nicht gefallen.
»Vielleicht formuliere ich meine Frage anders«, sagte er. »Ich meinte natürlich: Wie war er?«
Für einen Moment kehrte Stille in dem Laden ein. Sorah blinzelte. Der Dieb fragte doch nicht etwa nach ...
»Ihr müsst nicht so unwissend tun«, sagte Ciacas. »Ich höre mir derlei Geschichten gern an.«
»Ich nicht.« Kematian unterbrach die Unterhaltung. Sein Blick war erst auf den Dieb gerichtet und schweifte nun zu Sorah. »Es kümmert mich nicht, was sich ereignet hat oder zwischen dir und ihm vorgefallen ist. Wenn du nicht bereit bist, den Auftrag auszuführen, dann werde ich es tun. Und du willst nicht, dass ich es übernehme.«
Sorah schluckte. Das klang ... Es klang, als wüsste er, dass sie Tolas getroffen hatte. Woher? Wie? Warum hatte er bisher kein Wort darüber verloren?
Alette räusperte sich. »Wir sollten das Thema vermutlich beenden und uns auf das konzentrieren, weshalb Ihr hierhergekommen seid.«
Kematian brummte nur leise und Alette nahm es als Bestätigung.
Sie wandte sich an Sorah. »Zieht Euch am besten schonmal aus«, sagte sie. »Ich suche Euch ein Kleid.«
Sorah schob die Gedanken an Tolas und Kematian fort. Das Hier und Jetzt war das Wichtige. Alles andere hatte Zeit bis später.
»Ausziehen?«, echote sie.
»Nur keine falsche Scheu«, kam von Ciacas – natürlich musste der Dieb etwas dergleichen sagen. »Ihr braucht Euch nicht zu schämen, nur weil ...«
Weiter kam er nicht. Diesmal flog zwar kein Knopf in seine Richtung, aber Kematian packte ihn am Kragen. Er wollte ihn schon außer Sichtweite ziehen, da schoss etwas auf ihn zu.
Der Rabe fing ohne Mühe das, was sich als Maßband herausstellte. Sein Blick verfinsterte sich, aber er sagte nichts und ließ Ciacas wieder los.
»Der Gehrock muss faltenfrei bleiben«, schalt Alette Kematian. »Deshalb soll er sich nicht setzen und Ihr hört gefälligst auf, ihn so grob zu behandeln.«
Der Rabe erwiderte nichts, seine Miene glich sich einer Gewitterwolke an.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Sorah gesehen, wie Kematian zurechtgewiesen wurde und der Zurechtweisende seinen Kopf behielt.
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