Zwischen Bestien und Elstern I
V war gefangen. Gefangen in dem Haus, in dem ebenfalls der Dunkle König lebte. Sie konnte sich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen.
Der einzige Lichtblick dabei – und sie hätte nie geglaubt, dass sie dies jemals denken würde – war Ejahl. Kurz nachdem nämlich der König und Murasaki zurückgekehrt waren, meinte er: »Ich hoffe, Ihr glaubt nicht, dass ich die ganze Zeit hier herumsitzen und Däumchen drehen werde.«
Der Erzähler hatte nur geseufzt und so war V mit dem Meisterdieb auf den Straßen Kastolats gelandet.
Der kühle Wind jaulte zwischen den Häuserecken und wirbelte vereinzelte Schneeflocken auf. V schlang die Arme um ihren Körper und beschloss, sich irgendwann einen warmen Mantel zuzulegen.
»Keine Sorge«, meinte Ejahl. »Wir sind gleich da.«
»Wo?«, fragte sie, aber bekam keine Antwort.
Nach einigen Minuten, als Vs Nase schon anfing, sich wie ein Eiszapfen anzufühlen, waren sie in einem Teil der Stadt angelangt, in denen die Bauwerke heruntergekommen waren und sich in finsteren Ecken noch finstere Gestalten regten. Ein Schauer kroch über Vs Rücken und sie beschleunigte ihre Schritte, um dicht an Ejahls Fersen zu bleiben.
»Was machen wir hier?«, zischte sie ihm zu.
Er hob nur eine Hand und winkte ab. »Sie werden dir nichts tun, solange ich hier bin.«
Das war zwar nicht die Antwort auf ihre Frage, aber sie musste sich wohl oder übel damit begnügen.
Nach einigen weiteren Minuten blieben sie vor einem Haus stehen. Zwischen all den heruntergekommenen Bauwerken war es noch das heilste – was nicht allzu viel zu bedeuten hatte. Durch die Löcher in den schweren Vorhängen hinter dem Fensterglas schien sanftes Licht. An mehreren Stellen war das Holz der Wand gesplittert und die Tür hing zwar noch in den Angeln, aber nur schief.
»Trautes Heim« sagte Ejahl und trat auf das Haus zu.
»Huh?«, machte V. »Ihr wollt da doch nicht ernsthaft hineingehen?« Das Gebäude wirkte, als würden darin nur – und sie meinte wirklich nur – unlautere Dinge vor sich gehen. Dinge wie ...
Sie brach den Gedanken ab, als ihr Blick auf Ejahl fiel. Vermutlich sollte sie über so etwas einfach nicht nachdenken, wenn sie mit ihm unterwegs war.
Er öffnete die Tür, die dabei ein lautes Knarzen von sich gab. Qualm stob ihnen entgegen und mit ihm unangenehm süßlicher Geruch, sodass V das Gesicht verzog und am liebsten die Luft angehalten hätte. Aber nachdem Ejahl eintrat, folgte sie ihm. Bei ihm zu sein, war besser als die Alternativen – entweder auf der Straße und in der Kälte stehen zu bleiben oder zurück zum Haus des Erzählers zu gehen.
Nur spärlich beleuchteten Kerzen das Innere. Das wenige Licht reichte aus, dass sie erkannte, wie sich Gestalten in Schwarz bewegten und um sie herum versammelten.
V schob sich leicht hinter Ejahl. Im Notfall würde er zuerst zu Boden gehen und sie hätte genug Zeit, um zu flüchten.
Auf Ejahls Lippen zeichnete sich ein Lächeln ab. »Papa ist zurück.«
V rollte mit den Augen und zwang sich, nicht genervt aufzustöhnen. Seine Worte schienen ihr gerade nicht das Richtige zu sein.
»Etwas Besseres ist Euch nicht eingefallen?« Die Treppe knarzte und verriet die ansonsten lautlosen Schritte.
Ejahl zuckte mit den Schultern. »Ich hatte wenig Zeit, mir etwas zu überlegen.« Sein Lächeln wurde breiter, ausnahmsweise ehrlich. »Schön, zu sehen, dass es dir gut geht, Liraw.«
»›Gut gehen‹ ist ein dehnbarer Begriff, aber ich lebe noch«, sagte der Dieb. Er erwiderte das Lächeln und schloss Ejahl in seine Arme.
Vs Augen gewöhnten sich langsam an das schummerige Licht und sie konnte mehr als nur Umrisse erkennen. Sie schätzte Liraw auf Ende zwanzig, aber sein schlecht rasiertes Kinn und die fettigen Haare, die ihm ins Gesicht hingen, ließen ihn älter erscheinen.
»Zu leben ist etwas, das ich zwischendurch von Euch nicht gedacht hatte«, sagte Liraw, als er sich wieder von dem Meisterdieb löste. »Ihr habt Euch lange nicht gemeldet.«
»Und du warst schon auf den Thron aus?« Ejahl wandte sich ab und hustete leise. Der Qualm setzte sich in seinen Lungen fest und hinderte ihn, frei zu atmen.
Liraw hob unschuldig die Hände. »Ich bin mit meinem Platz in Kastolat sehr zufrieden, aber andere haben sich bei mir erkundigt, ob ich wüsste, wie es Euch erging. Seit einigen Monaten kam schon kein Brief mehr von Euch.«
»Ich hatte meine Gründe«, sagte Ejahl.
»Ich hörte davon.«
»Oh?«
»Wen haben wir denn da?« Die Stimme an ihrem Ohr ließ V zusammenfahren und sie wollte zur Seite weichen, aber der Arm, der sich um ihre Schulter gelegt hatte, hinderte sie daran. Der Dieb, der neben ihr aufgetaucht war, hatte ein süffisantes Lächeln auf den Lippen und seine dunklen Augen blitzten belustigt auf.
»Ich hatte schon immer eine Schwäche für schöne Frauen«, sagte er und zog sie ein Stück an sich heran.
»Ich ...«, setzte V an, aber ihr Kopf war wie leergefegt. Hatten eigentlich alle Diebe denselben Spruch? Jeanne hatte schließlich genau dasselbe zu ihr gesagt. »... auch«, brachte sie den Satz zu Ende.
Der Dieb stockte und musterte sie kurz. Er wollte schon etwas erwidern, aber Ejahls Stimme ertönte, gerade als er ansetzte. »Ah, Ciacas, du hast dich also hier eingenistet.«
In dem kurzen Moment, den der Dieb seine Aufmerksamkeit nicht auf V richtete, nutzte sie, um sich aus seinem Griff herauszuwinden. Er ließ es zu, obwohl sie sich sicher war, dass es ihn kaum Mühe gekostet hätte, sie bei sich zu halten.
»Kastolat ist weitestgehend rabenfrei«, meinte der Dieb, den Ejahl als Ciacas angesprochen hatte. »Der perfekte Ort für mich.«
»Du weißt schon, dass sie dich trotzdem finden würden, wenn sie wollten?«, fragte Ejahl.
Ciacas' Lächeln erstarrte. »Ich versuche, mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen. Ansonsten bekomme ich noch graue Haare und ende wie Ihr.«
»Es wundert mich sehr, wie du dir so viele Feinde machen konntest.«
»Mich auch.«
Ejahl winkte ab. »Du kannst mir gern ausführlich erklären, was alles geschehen ist, und ich kann dir beibringen, wie man sich richtig Freunde macht. So«, er deutete auf V, »nicht.«
»Meine Art funktioniert doch immer so gut«, hielt Ciacas dagegen.
»Mhm, glaube ich dir sofort«, sagte Ejahl. »Aber ich meinte es ernst: Sag mir, was in Terbet geschehen ist. Was ich von dort gehört habe, ist ... widersprüchlich.«
»Vielleicht besprechen wir das lieber oben«, schlug Ciacas vor und sah zu Liraw, der ihm zunickte.
Ejahl deutete V an, ihm zu folgen. Auch ohne seine Anweisung wäre sie ihm nicht von der Seite gewichen.
Im Obergeschoss erstreckte sich ein Flur, von dem mehrere Türen abgingen, und eine von diesen öffnete Liraw, um sie einzulassen. Der Raum war nur ein kleines Zimmerchen, in dem eine Couch und einige Schränkchen standen.
Ejahl hüpfte in das Zimmer hinein und warf sich auf das Sofa. Er strich über die Armlehne und ein breites Lächeln strahlte auf seinem Gesicht. »Wie sehr ich dich doch vermisst habe«, sagte er. Dann aber runzelte er die Stirn und rieb über eine Stelle des Stoffes, ehe er sich den beiden Dieben zuwandte. »Was sind das für Flecken? Die waren nicht da, als ich gegangen war.«
Liraw hob unschuldig die Hände und sah zu Ciacas, der den Blick abwandte und sich durch die dunklen Haare fuhr. »Weiß ich nicht«, murmelte er.
V schüttelte nur den Kopf und nahm sich vor, sich keine Gedanken darüber zu machen.
Ejahls Stirnrunzeln vertiefte sich und er schnalzte abschätzig mit der Zunge. Kurz betrachtete er die Flecken mit finsterer Miene, sah dann aber wieder zu den anderen Anwesenden. »Ich will mal Güte zeigen und es ignorieren.«
»Sehr freundlich«, meinte Ciacas. »Und Ihr seid ohnehin aus einem anderen Grund hier. Terbet.«
Ejahl nickte. »Ich hörte, der Sohn des Fürsten wurde ermordet und ein Pfeil mit einer Nachricht in seinem Hals gefunden. Ein Aufstand entfachte sich daraufhin, bei dem die Adelshäuser fielen. Dein Werk?«
»So halb«, gab Ciacas zu. »Ich sah eine Chance, den Adeligen die Stadt zu entreißen, und nutzte sie.«
»Und entflohst dann den eigentlichen Kämpfen.«
»Mir hat ein Rabe den Tod geschworen. Ich hatte kaum eine andere Wahl.«
»Dann sprich, wie kam es dazu.« Ejahl machte eine Handbewegung und überreichte das Wort an ihn.
Ciacas räusperte sich. »Eigentlich bin ich in Terbet nur meinen Geschäften nachgegangen, aber dann traf ich auf zwei Raben. Der eine, groß und übellaunig ... und so gewalttätig. Derjenige, den du gesucht hattest.«
Ejahl nickte. »Es ist wirklich ein Wunder, dass er dich nicht getötet hat.«
»Ich weiß.«
V runzelte die Stirn. Zugegeben, sie kannte nicht viele Raben, aber Ciacas' Beschreibung traf auf Kematian zu. Wenn er ihn meinte, wie konnte Ejahl dann so teilnahmslos danebensitzen? Ihm konnte es doch nicht so wenig kümmern, wenn seine Leute Kematian zum Opfer fallen würden.
»Und das andere war sein Küken«, fuhr Ciacas fort. »Eine junge Frau, kaum zwanzig, zierlich gebaut, rote Haare.«
Ejahl zuckte mit den Schultern. »Kenne ich nicht.«
Auch dieser Rabe kam V bekannt vor. Vielleicht irrte sie und es gab viele Frauen bei den Raben, auf die diese Beschreibung passte, aber sie dachte an diejenige zurück, die sie gerettet hatte.
»Sorah?«, fragte sie, den Blick auf Ciacas gerichtet.
Der Dieb sah zu ihr, als hätte er schon fast vergessen, dass sie sich im Raum befand. »Ja, so heißt sie«, meinte er.
Ejahl richtete nun ebenfalls seine Aufmerksamkeit auf sie. »Du pflegst Kontakte zu den Raben? Das hätte ich wirklich nicht von dir erwartet.«
»So ist das nicht«, sagte V schnell. Sie wusste wenig von dieser Welt, in die sie gestolpert war, von den Dieben und Raben, aber sie hatte mittlerweile genug gelernt, dass beide Gruppen eine tiefgehende Auseinandersetzung führten und sie unter Dieben sicher nicht herausposaunen sollte, dass sie die Attentäter kannte. »Als ich bei den Raben gefangen war, hat sie mich befreit.«
Ciacas legte den Kopf schief. »Das klingt so gar nicht nach ihr.«
Hitze stieg in Vs Wangen, als wäre sie bei einer Lüge erwischt worden, und sie wandte den Blick ab. »Ich weiß nur, was ich dort erlebt habe.«
Kurz schwieg Ciacas und beäugte sie mit zusammengekniffenen Augen. Dann ließ sein Misstrauen nach. »Faszinierend«, sagte er. »Eigentlich bin ich zu alt, um daran zu glauben, dass sich Menschen und vor allem Raben ändern. Wenn ihnen einmal ihr blinder Gehorsam und die Verehrung des Todes eingebläut wurden, dann ist es unmöglich, sie davon zu befreien. Aber du, meine Liebe, sprichst die Wahrheit ... oder glaubst es zumindest.«
V warf Ejahl einen Blick zu, damit dieser sie aus der Situation rettete, aber er ignorierte sie gekonnt.
»Das Merkwürdige ist aber, ich kann mir nur vorstellen, dass sie sich gegen die Raben stellt, wenn ihr Mentor es ihr befehlen würde. Ihm war sie treuer ergeben als den Attentätern selbst. Ihr Mentor jedoch ist der rabigste Rabe, den ich je gesehen habe, und so tief in den Strukturen dort verankert, dass er seine Ketten nie sprengen würde.«
Da Ejahl Vs Blick weiterhin ignorierte, sprach sie: »Aber Kematian ist doch ...«
Der Meisterdieb hüstelte und unterbrach sie damit. »Komplizierte Angelegenheit.«
Ihre Brauen schoben sich finster zusammen. So kompliziert klang es gar nicht, wenn er es nicht kompliziert machen würde. Kematian folgte Ejahl wie ein Schatten. Wie sehr Rabe konnte er dann noch sein?
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