Wiedersehen unter Freunden I
Am Horizont erhoben sich die Mauern Kastolats, die sich in den rötlichen Strahlen der Abendsonne badeten.
Ejahl blieb stehen und Kematian mit ihm. Er hatte Eugene gebeten, noch einen Tag zu warten, bis er ihnen folgte, damit sie nicht in einer zu großen Gruppe reisten und zu viel Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Die Zeit auf der Reise hatte sich Ejahl eingeredet, dass er dieses Leben und die Erinnerung an die Vergangenheit lange hinter sich gelassen hatte und sie ihn niemals wieder einholen würde. Dass er der Stadt niemals wieder so erliegen würde.
Doch nun, die Mauern vor Augen, erinnerte er sich, welche Schrecken Kastolat einst für ihn bereit gehalten hatten.
»Lass uns vielleicht erst morgen hineingehen«, schlug Ejahl vor. Er bemühte sich um einen möglichst lockeren Ton, aber ein leichtes Beben hatte sich trotzdem in seine Stimme geschlichen.
Kematian warf ihm nur einen Blick von der Seite zu.
»Ich würde mir vorher gern etwas anschauen«, sagte Ejahl. Was, wusste er zwar noch nicht, aber irgendwas würde ihm schon einfallen. »Das Kestrel-Anwesen müsste hier in der Nähe sein, nicht?«
Kematian antwortete ihm nicht und sah nur weiter auf ihn herab.
»Ich war noch nie dort. Und es würde mich schon interessieren, was aus ihm geworden ist, nachdem Tavaren gestorben ist und Luana verjagt wurde. Wir können doch auch morgen in die Stadt hinein. Sie wird schon nicht weglaufen.«
Kematian schwieg weiterhin, aber nun packte er den Meisterdieb und warf ihn über seine Schulter.
»Warte«, meinte Ejahl schnell. »Ich sag doch schon gar nichts mehr und werde ganz brav und folgsam mit dir kommen.« Er lachte kurz über seine eigenen Worte, bis es in ein Husten überging. Als er sich wieder fing, sprach er weiter: »Du kannst mich also ruhig absetzen. Ich bin ganz lieb.«
Kematian brummte nur etwas Unverständliches, machte aber keine Anstalten, ihn hinunterzulassen. Stattdessen setzte er sich in Bewegung; hin zur Stadt und fort von all der Sicherheit, hinter der sich Ejahl während der letzten Jahre versteckt hatte.
»Kematian. Mein lieber, bester Kematian«, ergriff Ejahl erneut das Wort, »es gibt doch wirklich keinen Grund, so grob zu sein. Ich kann allein gehen. Was, wenn uns jemand sieht? Er wird denken, dass du mich entführst, und dann bekommen wir noch mehr Probleme. Er wird bestimmt die Stadtwache rufen.«
Kematian ließ sich nicht erweichen. Lang bevor irgendjemand sie erspähen würde, hätte er denjenigen schon bemerkt. Und dort auf dem Waldweg, der zu einer alten Elfenruine führte, waren sie allein.
Es war ein Ort, an dem man einen fast perfekten Mord begehen könnte. Keine Zeugen. Eine Leiche würde einige Tage oder sogar Wochen nicht gefunden werden. Niemand würde ihn mit dem Toten in Verbindung bringen.
Der Wind trug das leise Plätschern eines Baches an sein Ohr. Dort könnte er sich danach die Hände waschen, vielleicht sogar die Leiche loswerden.
Er holte tief Luft und brachte das Verlangen nach Blut zum Schweigen. Der Fluch zwang ihn, alles, was er zu sich nahm, wieder zu erbrechen, sodass der Hunger nun stärker in ihm brodelte, aber die Gier war ihm nicht fremd. Er würde sich ihr nicht hingeben.
»Alles gut?« Ejahl stützte sich auf Kematians Schulter und sah zu ihm.
»Nichts, mit dem ich nicht zurecht komme«, meinte Kematian. Er hatte nie herausgefunden, ob die Mordlust durch seine Natur als Vampir oder die Profession des Raben kam.
»Du solltest die Augen schließen«, sagte er.
»Huh?«
»Wir sind gleich da.«
Vor ihnen erstreckte sich eine Lichtung. Eine überlebensgroße Statue bewachte den gepflasterten Weg. Von dem Rücken eines Pferdes aus betrachtete sie die Eindringlinge, den Bogen gespannt und den Pfeil auf sie gerichtet. Die zugespitzten Ohren verrieten, dass es sich bei diesem Ort um ein altes und verlassenes Elfenheiligtum handelte.
Nach Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden hatte sich die Natur die Lichtung zurückerobert. Über den Marmor des Tempels schlängelte sich Efeu. Moos und Gräser sprossen zwischen den Pflastersteinen hervor. Kein Mensch traute sich an einen Ort wie diesen, denn Elfenruinen waren dafür bekannt, dass sie mit Fallen gespickt waren.
Kematian aber kannte diese Lichtung, denn dort befand sich der Eingang in die Katakomben Kastolats, den er stets genutzt hatte.
»Oh, Scheiße«, kam von Ejahl. Im Gegensatz zu dem Raben war er zwar noch nie dort gewesen, aber auch er bekam den Hauch einer Ahnung, dass die Katakomben nicht mehr weit waren. Er ließ sich über Kematians Schulter fallen und schlug die Arme über seinem Kopf zusammen.
Bald ertönte ein Rascheln, bald verschwand die frische Luft und moderige füllte Ejahls Lungen. Seine Kehle schnürte sich zu und in Gedanken wiederholte er immer wieder: Es ist alles gut. Kemi ist bei dir, es ist alles gut.
Nachdem Kematian schnaubte, war er sich nicht mehr sicher, ob er es wirklich nur dachte, aber er hatte andere Sorgen als einen grummeligen Raben, der seinen Spitznamen nicht mochte.
Ein Piepsen drang durch die Dunkelheit und schnelle tippelnde Schritte, bei denen Krallen über den Stein schabten, folgten. Ejahl schluckte einen leisen Aufschrei hinunter, hielt sich aber fester an Kematian.
Krallen scharrten an seinen Knöcheln. Schmerz biss ihm in die Haut, der ihm Tränen in die Augen trieb. Kleine Fleischklumpen rissen sich aus seinem Bein.
Er schüttelte sich, trat nach dem, was auch immer dort war.
»Zappel nicht so«, meinte Kematian und sofort war Ejahl zurück in der Gegenwart.
An seinem Bein war nichts. Keine Ratte nagte sich in sein Fleisch. Die alten Narben würden bleiben und ihn an eine Zeit erinnern, als er in den Katakomben gefangen war, aber an diesem Tag war er von Kematian begleitet. Ihm würde nichts geschehen.
Bald änderte sich die Luft wieder. Statt des Moders setzte sich nun Qualm in seine Lungen. Er hustete.
»Wir sind da«, sagte Kematian und ließ ihn von seiner Schulter.
Sie waren im Inneren des Diebesversteckes angekommen. Ejahl hatte damals ein Haus besetzt, das direkt mit den Katakomben verbunden war und von jeder armen Seele, die Einlass wollte, einen Wegzoll – der einen oder anderen Art – verlangt. Seitdem hielten die Diebe das Gebäude. Wobei ›hielten‹ in dem Fall hieß: Sie räucherten es aus und ließen nie Luft oder Sonne hinein. Ejahl konnte sich nicht beschweren, er hatte es ihnen vorgelebt.
»Guten Abend, meine Werten«, rief er in die Dunkelheit. Es war nicht ungewöhnlich, dass dort niemand einen Laut machte. Er hätte sich eher gesorgt, hätte jemand die Fenster weit aufgerissen.
Das Knarzen der Dielen verriet, dass sich jemand näherte.
»Ejahl, mein Freund.«
Ejahl stockte. Die Stimme hatte er nicht erwartet.
In dem Raum tauchte ein Mann mittleren Alters auf. Eine kleine Kugel über seiner linken Schulter spendete schummeriges Licht. Er breitete seine Arme aus, ließ sie aber wieder sinken, nachdem er Kematians finsteren Blick bemerkte.
»Dein Brief kam überraschend. Seit wann verkriechst du dich denn nicht mehr in dem ›heimeligen Dörfchen‹«, er malte Gänsefüßchen in die Luft, »wie du es nanntest?«
»Aithon«, begrüßte Ejahl ihn und zwang sich zu einem Lächeln. Das war zumindest der Name, mit dem er sich bei dem Meisterdieb vorgestellt hatte, doch in dieser finsteren Welt, trug jeder einen anderen Namen als denjenigen, den die Eltern einem gaben. Kiran hieß Eugene, Ejahl hatte sich Ejahl genannt und Aithons Name war gewiss nicht Aithon.
Bei ihrer letzten Begegnung waren sie nicht im Guten auseinandergegangen. Wie versöhnlich konnte das Wiedersehen schon werden, nachdem er Aithon gesagt hatte, dass das – was auch immer es war, das sie hatten – nicht mehr als bloßer Zeitvertreib war. Für Ejahl war es vollkommen deutlich gewesen. Für Aithon nicht.
»Du bist früh hier«, sagte Ejahl.
Aithons Gebiet war die Hauptstadt, Redegde, in der die Residenz des Königs lag. Er hatte den kürzesten Weg in den Norden und war offenbar sofort aufgebrochen, nachdem er den Brief erhalten hatte.
»Eine Chance, dich mal wieder in Aktion zu sehen, lasse ich mir nicht entgehen.« Aithon strich sich durch die kurzen dunklen Haare. Sein Aussehen zeigte, dass er keineswegs aus dem Norden stammte, sondern seine Wurzeln südlicher hatte. Ejahl hatte immer das Imperium vermutet. Nicht zuletzt wegen der luftigen Stoffe, die Aithon trug, und der goldenen Ringe, die seine Ohren, seinen Hals, seine Hände und sogar seinen Schnauzbart, in den sich mit den Jahren einiges Grau hineingeschlichen hatte, zierten.
Ejahl lachte leise. »Ich bezweifle, dass du viel Aktion von mir bekommen wirst. Ich bin alt.«
»Das bist du schon lange.«
»Ermunternde Worte von dir.«
»Nur die Wahrheit.«
»Das macht es nicht besser.« Ejahl seufzte leise.
»Aber«, Aithons Blick wanderte zu Kematian, der die Arme vor der Brust verschränkte, »sag, wer ist das?«
»Das?«, fragte Ejahl und sah kurz zu dem Raben. »Das ist ... mein Freund ...?« Er wusste nie so recht, als was er Kematian bezeichnen sollte.
Und das Schnauben, das auf die Antwort folgte, verriet, dass ›Freund‹ nicht unbedingt war, was Kematian zusagte.
»Freund?«, hakte Aithon nach.
»Mehr Freund, als du je warst, um das gleich aus dem Weg zu räumen«, sagte Ejahl.
Aithons Blick verfinsterte sich.
Und damit war es Ejahl gelungen, das Treffen mit seinem ehemaligen Liebhaber so unangenehm wie möglich zu machen. Er hätte sich auch auf die Schulter geklopft, wären nicht weitere Schritte auf der Treppe ertönt.
Eine neue Gestalt tauchte im Licht aus Aithons Kugel auf. »Ejahl wir haben einen –« Liraw brach ab, als sein Blick auf Kematian fiel. Er runzelte die Stirn, fuhr aber fort: »Wir haben einen Raben gefangen.«
Ejahls Brauen hoben sich. »Normalerweise bekommt man sie nie lebendig.«
»Diese ist anders. Wir haben sie gefunden, kurz nachdem die Raben in Kastolat aufgetaucht sind. Und sie ist verletzt. Hat Ciacas und mich trotzdem noch gut erwischt.« Er deutete auf seine aufgeplatzte Lippe. »Er ist gerade bei ihr oben.«
Ejahl nickte. Er deutete Kematian an, ihm zu folgen, und ließ die anderen beiden im Erdgeschoss stehen.
»Zweite Tür links«, rief Liraw ihm noch hinterher.
Oben angekommen, stieß Ejahl die besagte Tür auf.
»Du Hund!«, rief der Rabe, verstummte aber, als die Neuankömmlinge den Raum betraten.
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