Von Kälte und Kummer II
Der Erzähler richtete seinen goldenen Blick und für einen Moment sein besonders falsches Lächeln gegen sie, ehe er einen Teil des Hohns, der seine Miene stets begleitete, fallen ließ. »Ich sagte es bereits gestern, aber ich kann dir nicht verübeln, dass du mit den Gedanken nicht bei mir warst. Nachdem ihre Wunden verheilt sind und ich der Meinung war, sie würde auch ohne meine Hilfe überleben, entließ ich sie zurück nach Cyrill. Doch ... mir scheint, es gab einige Schwierigkeiten.«
Vs Herz setzte für einen Schlag aus.
»Keine Sorge, meine Liebe, Jeanne ist wohlauf«, sagte der Erzähler. »Das kann ich jedoch nicht von den anderen Dieben behaupten. Gestern ist Eure Zuflucht abgebrannt, kurz nachdem Ihr aus dem Rabennest gelangt seid.«
V blickte zu Ejahl. Er schien ungerührt über die Nachricht zu sein.
»Jeanne hat vermutlich diejenigen gerettet, die sie retten konnte, und hat sie dann in ein neues Versteck geführt«, sagte der Meisterdieb. »Damit bleibt nur die Frage, wer aus dem Gefecht als Sieger hervorgegangen ist. Wir, die wir das Nest zerstört haben, oder die Raben, die Selbiges mit unserer Zuflucht taten?«
Sein Blick ruhte auf ihr, als würde er eine Antwort erwarten, die sie ihm nicht geben konnte.
»Wir sollten es herausfinden, meinst du nicht?«, schlug Ejahl vor.
Ehe V antworten konnte, unterbrach der Erzähler ihre Unterhaltung. »Nein. Ihr mögt Euch fühlen, als könntet Ihr Euch in tausende von Gefahren stürzen, aber glaubt mir, das liegt nur daran, dass die Schmerzmittel noch nicht ganz abgeklungen sind. Gebt Euch ein paar Tage Ruhe.«
»Tage?« Ejahls Stimme trug sowohl Erschütterung als auch Beleidigung mit sich.
Der Erzähler hob die Schultern. »Ihr hättet Euch nicht dazu entscheiden müssen, in ein Rabennest zu spazieren und Euch von ihnen erstechen zu lassen.«
»So richtig aktiv war die Entscheidung nicht«, hielt Ejahl dagegen.
»Aber es hat Euch Spaß gemacht.«
»... ein bisschen.« Ejahl hob die Hände. »Gut, ich gebe mich geschlagen.«
Lloyd hatte die Unterhaltung stumm mitverfolgt und drehte den Kopf nun in die Richtung des Erzählers. »Murasaki?«
»Hm?« Der Erzähler wandte sich zu ihm.
Ohne Worte sagte der König ihm etwas, das V nicht verstand. Ejahl hingegen schien zu wissen, was zwischen ihnen vor sich ging. Sein Lächeln wurde eine Spur breiter, eine Spur zu breit, um noch als freundlich zu gelten.
Murasaki nickte und erhob sich. »Wie Ihr wünscht.« Da er weiterhin Lloyds Hand hielt, zog er ihn mit sich auf die Füße und reichte ihm dann seinen Arm. »Und Ihr, meine Werten«, sagte er an Ejahl und V gewandt, »fühlt Euch wie zuhause, nur lasst die Finger von meinen Büchern und bleibt meinem Zimmer fern.«
Er nickte ihnen zu, ehe er aus der Mitte des Raumes verschwand und mit ihm der König.
V starrte noch einige Sekunden auf das Fleckchen, wo beide gerade noch gestanden hatten, dann wurde sie davon abgelenkt, dass sich Ejahl erhob.
»Dann lass uns mal nachschauen«, sagte er und setzte dazu an, sich zu strecken, aber er zuckte zusammen und hielt sich den Oberkörper. »Schlechte Idee, verdammt«, zischte er und hustete.
V wartete, bis er sich wieder gefangen hatte und fragte: »Was wollt Ihr nachschauen?«
»Weshalb wir die Bücher und das Zimmer in Ruhe lassen sollen. Ist das nicht eindeutig?«
»Nein.« Für sie war es nicht eindeutig, warum er genau das tun wollte, was ihm doch vor kaum einer Minute verboten worden war.
Ejahl seufzte leise. »Du hast noch so viel zu lernen.« Er deutete ihr an, ihm zu folgen. »Erst das Zimmer. Zimmer sind immer interessanter.«
»Aha«, machte V und beäugte ihn skeptisch. Als er sich in Bewegung setzte, lief sie ihm trotzdem nach. Ihre Neugierde siegte über ihre Vernunft, so sehr sie sich auch wünschte, ihrem Verstand mehr Macht geben zu können. Sie ahnte, dass es nicht gut ausgehen könnte, wenn der Erzähler bemerkte, dass sie in seinen Sachen herumgewühlt hatten. Und er würde es bemerken, daran hegte sie keinen Zweifel.
Sie kamen in dem Obergeschoss an. Vs Nackenhaare stellten sich allein bei dem Gedanken auf, was sie im Begriff waren, zu tun, und ein Schauer durchfuhr ihren Körper.
Ejahl jedoch hatte ihre Bedenken nicht oder es war ihm schlichtweg egal. Lautlos ging er den Flur entlang, während ihre Schritte auf den Dielen knarzten, und er drückte die Klinke der Tür hinunter. Sie ließ sich nicht öffnen.
»Natürlich«, murmelte er und holte einen Dietrich aus seiner Hosentasche, den er sogleich ins Schloss fädelte. »Er hätte es nicht abschließen brauchen. Das ist nichts als eine Beleidigung.«
Oder eine Erinnerung, dass wir da nicht erwünscht sind, dachte V, aber sie sagte nichts. Wenn sie ehrlich war, wollte sie auch wissen, was sich dahinter verbarg.
Ein Klicken erklang und die Tür schwang auf. »Tadaa.« Ejahl machte eine ausladende Handbewegung in Richtung des Zimmers.
Der Raum war hell erleuchtet, denn die Sonne schien durch ein rundes Fenster und erwärmte das dunkle Holz eines Himmelbettes, das davor errichtet war. In die Pfosten waren Symbole geritzt, eine Sprache, die V nicht verstand.
Sie runzelte die Stirn. Als sie näher trat, glaubte sie das Rasseln von Ketten zu hören. In weiter Ferne hinter Bergen und Wäldern, hinter dem Rauschen eines Flusses und dem Flüstern böser Geister.
Ihr möchtet wissen, was es heißt?, fragte eine Stimme. V drehte sich einmal um die eigene Achse, doch außer Ejahl war niemand anderes im Raum. Ihr wollt die Wahrheit? Es war, als würde sie in Vs Kopf erklingen.
Ihre Hand legte sich auf eine der Runen am Bettpfosten, die Kanten waren bereits abgerundet.
Verrat. Die Stimme war ihr bekannt und fremd zugleich. Als wäre sie verzerrt, als hätte sie diese bloß in einem Traum gehört. Ein erstes Verbrechen, eine erste Sünde, und eine erste Kerbe, auf die noch viele weitere folgen sollten.
Ihre Finger wanderten einige Zentimeter hinab zu einem anderen Zeichen. Ihr Körper bewegte sich fast von selbst, als würde jemand sie führen.
Gewalt. Wenn sie sich nur stark genug konzentrierte, könnte sie vielleicht erkennen, wessen Worte dies waren. Keine Seele wurde je geheilt, nachdem sie ein unschuldiges Leben nahm. Doch lasst mich Euch eines sagen: Jeder ist unschuldig. Jeder außer der Mörder.
Das nächste Symbol. Langsam klärte sich der Klang, wirkte vertrauter.
Liebe. Haltet sie und schätzt sie, doch wenn sie fortziehen möchte, dann lasst sie gehen. In einem Käfig erlischt sie – so golden er auch sein mag.
Die letzte Rune an der Säule.
Und sie geht stets Hand in Hand mit Verlust. Jeder weiß es, doch niemand will es wahrhaben. Auf ewig kann niemand den Herbst aufhalten und irgendwann bricht der Winter an. Am Ende des Weges wartet stets der Tod oder – in einigen wenigen Fällen – die Nicht-Existenz.
V riss ihre Hand los und wich zurück. Sie wusste, wessen Stimme es war.
Der Erzähler. Was machte er in ihrem Kopf? Warum wirkten seine Worte so nah, als würde er sie direkt in ihr Ohr flüstern, und gleichzeitig so fern wie aus einer fast vergessenen Erinnerung?
Sie schüttelte sich, aber die Kälte in ihrem Nacken blieb. Sie hätte die Stimme von Anfang an erkennen und nie ihre Hand auf die Runen legen sollen. Murasakis Blick schien ihr über dem Raum zu schweben, obwohl er selbst weit fort war.
»Du kennst ihn.«
V machte einen Satz zur Seite, aber ein Teil der Anspannung verschwand, da es diesmal nur Ejahl war.
»Du hast einmal seine Hilfe angenommen«, sagte er.
»Ich ...« Ihre Stimme klang heiser. »Ich weiß nicht.«
Ejahl lachte kurz auf. »Und ich dachte schon, ich wäre der Einzige, der Stimmen hört, obwohl sie eigentlich nicht da sind.«
»Ich ... ich erinnere mich nicht an ihn«, flüsterte V. Wann hätte sie seine Hilfe angenommen haben sollen? Sie hatte ihn doch am Vortag zum ersten Mal gesehen.
»Denke zurück«, sagte Ejahl und trat an sie heran. »Er taucht auf, wenn du dich an deinem Tiefpunkt befindest, wenn du ohne ihn sterben würdest. Dann reicht er dir seine Hand, doch seine Hilfe hat ihren Preis, die jeder auf die eine oder andere Art zahlen muss.«
»Das ...« Sie brach ab. Es gab eine Zeit in ihrem Leben, an die sie sich nicht erinnern konnte – vielleicht auch nicht erinnern wollte. Kurz nachdem sie aus dem Turm entflohen war, in dem der Dunkle König ihre Familie ermordet hatte. Sie war blind gerannt.
In ihrer nächsten Erinnerung war sie bei Luana und Sal. Was dazwischen geschehen war ...
Ihre Kehle schnürte sich zu, als sie versuchte, daran zurückzudenken, doch es wurde überschattet von dem, was davor geschehen war.
Blut. Da war so viel Blut. Es formte Seen, färbte Flüsse.
Leichen türmten sich, Schreie hallten durch die Nacht, ihr eigenes Schluchzen in ihren Ohren. Dunkelheit und Kälte.
Und inmitten der Bilder der Dunkle König. Seine Stimme, rau und unterkühlt: ›Ein kämpferisches Mädchen bist du.‹ Er umfasste ihr Gesicht, drohte ihren Schädel zu brechen. ›Nur nützen wird es dir nichts.‹
Aber er hatte sie gehen lassen, war auf die Knie gefallen und hatte geweint, ehe sie sich abgewandt hatte und geflohen war.
Sie schüttelte sich, versuchte, sich von der Erinnerung zu befreien. Nie wieder wollte sie an die Zeit zurückdenken.
Ejahl legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. »Jeder in seiner eigenen Geschwindigkeit. Wir haben alle unsere Abgründe. Einige brauchen länger, bis sie sich in die tiefsten Tiefen vorwagen, andere springen hinein, ohne zu prüfen, ob sie jemals wieder hinausgelangen werden.«
V sah ihn an und runzelte die Stirn.
»Was ich damit sagen möchte: Wenn du noch nicht bereit bist, dich zu erinnern, dann mache dir dabei keinen Druck. Ansonsten endest du wie ich und glaube mir, es gibt vieles Erstrebenswerteres.« Er zwinkerte ihr einmal zu und ließ seine Hand von ihrer Schulter sinken.
Sie nickte nur geistesabwesend. Vielleicht sollte sie wirklich noch nicht versuchen, die Mauern vor den Albträumen einzureißen und diese zu befreien. Irgendwann würde sie den Mut dazu finden. Doch nicht jetzt. Noch nicht.
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