Verrat unter Verrätern II
»Guten Abend, meine Werten!«, rief Ejahl in das Nest. Der Plan des Anklopfens hatte funktioniert ... und zweifellos hatte es auch nicht geschadet, dass Kematian die Eingänge kannte und dass die beiden Raben, die den langen Flur, der sich in den Untergrund schraubte, im Auge behalten hatten, vor ihm zurückgewichen waren.
Er und Kematian hätten sich auch heimlich hineinschleichen können, aber beide waren sich einig, dass Eile geboten war. Und Ablenkung.
Außerdem hatte Kematian gemeint, dass sich einige Raben im Nest als nützlich erweisen könnten, wenn er sich ihnen an der Seite des Meisterdiebes zeigte.
Nicht unbedingt Ejahls Lieblingsvorschlag, denn damit würde sich Kematian voll und ganz zum Feind der Raben machen, während es zuvor noch eine kleine Chance gab, dass sie von dem Vorfall auf Cyrills Straßen nichts erfahren würden.
Aber es war Kematians Entscheidung und Ejahl vertraute auf ihn.
Nur für wenige Sekunden sahen die anwesenden Raben die beiden Ankömmlinge entgeistert an, dann zückten die ersten ihre Schwerter, andere spannten Bögen und richteten Pfeilspitzen auf sie.
»Kein Grund zu solch drastischen Maßnahmen«, sagte Ejahl und hob beschwichtigend die Hände. Zugegeben, er wäre nicht so ruhig, hätte er Kematian nicht an seiner Seite. »Ich bin nur hier, um zu reden.«
Die Raben sahen sich verwirrt um. Viele von ihnen waren nur Küken, die ohne ihre Obrigkeit nicht allein entscheiden konnten, wie sie mit den Eindringlingen verfahren sollten. Die Attentäter setzten Wert auf andere Tugenden als die Diebe. Während Ejahl darauf achtete, Leute zu sich zu holen, die klug waren und auch ohne Befehle wussten, was sie zu tun hatten, verlangten die Raben nur blinden Gehorsam.
»Gestattet mir, mich vorzustellen«, sagte Ejahl, als sich niemand zu Wort meldete. »Mein Name ist Ejahl, der Meisterdieb. Und mir kam zu Ohren, dass sich einer meiner Schützlinge unfreiwillig hier aufhält. Ich hätte sie gern zurück.«
Weiterhin rührte sich kein Rabe.
»Holt Niellen her«, sagte nun Kematian.
Einige der Küken zuckten zusammen, als er sprach. Ein Junge – Ejahl schätzte ihn kaum auf volljährig – antwortete. »Er ist nicht hier.«
Kematians Blick verfinsterte sich und er verschränkte die Arme vor der Brust.
Eine junge Frau, die sich nur im Hintergrund aufhielt und nicht einmal ihre Waffen gezogen hatte, schob sich weiter hinter die Raben. Ihr Gesicht lag im Dunklen ihrer Kapuze und nur eine feuerrote Strähne schaute hervor. Einige andere taten es ihr gleich. Offenbar waren sie doch nicht so dumm, wie Ejahl gedacht hatte, oder besaßen zumindest so viel Verstand, dass sie sich aus einem Kampf mit ihm und Kematian lieber raushielten und sich zurückzogen.
»Aedal fehlt ebenso«, sagte der Junge. »Und auch Yareed –«
»Es bringt doch nichts, zu reden«, unterbrach ein anderer ihn. »Uns wurde gesagt, was wir tun sollen, wenn jemand hier auftaucht.«
»Dumme Idee«, meinte Ejahl, aber es war zu spät. Der erste Pfeil flog.
†
Etwas Kaltes und Nasses klatschte ihr ins Gesicht und riss sie aus der Dunkelheit, die sie umschlossen hatte. Als ersten Instinkt wollte sie ihre Hand heben und sich durch das Gesicht wischen, aber etwas hielt sie fest. Es klirrte, als sie sich bewegte. Ketten?
Sie öffnete die Augen.
Kerzen erleuchteten den Raum nur spärlich und zeigten Umrisse vor ihr, die sie nicht genauer erkennen konnte.
Sie blinzelte mehrfach und ihr Blick klärte sich langsam auf. Der Schemen gehörte zu einem Mann, der sein Gesicht hinter einer Rabenmaske verbarg.
Verdammt, fluchte V.
Sie erinnerte sich daran, was geschehen war, bevor alles schwarz wurde. Sie war durch die Straßen Cyrills gegangen und dann war eine Stimme ertönt: »Sieh an, das Küken hat sich aber weit von seinem Nest entfernt.«
Dann Dunkelheit.
Und natürlich war sie denjenigen in die Arme gelaufen, vor denen Ejahl und sogar Kematian sie gewarnt hatten. Doch nun war nicht die Zeit, sich über ihre Lebensentscheidungen Gedanken zu machen und zu überlegen, an welcher Stelle sie falsch abgebogen war, um hier gelandet zu sein.
Sie musste handeln. Nur wie, wenn sie doch in Ketten lag?
Sie versuchte, etwas zu sagen, aber aus ihrem Mund kam nur ein heiseres Krächzen.
Die Lippen des Raben verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. »Eine Elfin also«, sagte er und beugte sich zu ihr. Er legte eine Hand unter ihr Kinn und drückte es hoch. »Und dazu noch so eine junge.«
V schob finster die Brauen zusammen und entzog ihm ihren Kopf. Sie war doch kein Spielzeug, das einfach so angefasst werden konnte, und würde sich von jemandem wie ihm nicht zu einem machen lassen.
Jeder hatte Respekt oder Achtung vor Ejahl und Kematian und beide wüssten auch, wie sie sich aus einer solchen Situation befreien konnten. Selbst Ava war in der Lage, mit einem Schwert umzugehen, und hatte sich allein und trotzdem ohne Furcht auf die Reise gemacht.
Alle in ihrem Umfeld konnten sich verteidigen, nur sie war stets zu ungeschickt dafür. Und nun hatte man sie bei der ersten Gelegenheit gefangen genommen, denn diesmal war niemand bei ihr gewesen, um sie zu retten.
Sie biss die Zähne zusammen.
Dem Raben entging ihre Reaktion nicht. Er griff noch einmal nach ihrem Kinn, diesmal eiserner. »Ein Jammer, dass du auf der falschen Seite stehst, Liebes.« Sein Atem traf ihre Haut, als er sprach, und roch unangenehm süßlich. Sie rümpfte die Nase und versuchte, den Kopf wegzudrehen, aber er hielt sie.
»Dein Freund hat uns leider verraten«, fuhr er fort, »und dafür müssen wir ihm etwas nehmen, das ihm etwas bedeutet. Du bist das Einzige, das wir in die Finger bekommen konnten, und daher trifft dieses Schicksal dich.«
Sein Lächeln wurde breiter, ähnlich wie Ejahls, wenn er besonders an ein Wiesel erinnern wollte. Doch während sie bei dem Meisterdieb mittlerweile eine seltsame Art von Sicherheit fand, kroch es ihr nun kalt den Rücken hinab.
»Aber keine Sorge, Kleines«, sagte er, »ich werde mich gut um dich kümmern.«
V schluckte. Was meinte er?
Sie wusste, was er meinte. Sie wollte es nur nicht wahrhaben.
Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn und sie begann zu zittern. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, aber gleichzeitig schien sich die Zeit um sie herum zu verlangsamen.
Sie wollte kämpfen, schreien, um sich schlagen, doch die kalte Hand der Angst in ihrem Nacken lähmte sie. Wie ein Hase, der im Angesicht eines Wolfes erstarrte, konnte sie nur auf ihr Schicksal warten.
Er strich ihr über die Wange, fuhr mit dem Daumen an ihrer Lippe entlang. »Und wenn er herkommt, um dich zu retten, dann wird es schon zu spät sein. Die Falle wird zuschnappen und er darf uns zwei Hübschen vielleicht einmal zusehen, bevor wir ihm den Kopf abschlagen.«
Er beugte sich zu ihr. Seine Hand wanderte zu ihrem Hals und tiefer, machte sich daran, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen.
Sein Atem an ihrer Wange, der seltsam süßliche Geruch in ihrer Nase. Wie eine eiserne Faust ergriff Übelkeit ihren Magen und drehte ihn unerbittlich.
»Lasst das.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern, das sie durch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren selbst kaum hörte.
Er stieß ein leises Lachen aus. »Flehe noch ein bisschen lauter, dann überlege ich es mir vielleicht.«
Er würde es sich nicht überlegen, er wollte sie nur betteln hören. Sie musste etwas tun. Irgendetwas. Sie konnte doch nicht wie eine Puppe regungslos alles über sich ergehen lassen und sich nicht zu Wehr setzen.
Ein leises Flüstern in ihrem Kopf erklang. Einige Dinge sind schlimmer als der Tod. Dinge wie Krieg. Du willst doch hier nicht untergehen, bevor du ihn ausgelöscht hast?
Die Stimme war wie eine Rettung, die sie aus der Starre holte. Sie hatte schon fast den Grund vergessen, weshalb sie jeden Tag aufstand und weitermachte.
Krieg war ihr nur zu bekannt, er hatte ihre Familie getötet. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie ihn zurückgedrängt hatte und er niemals wieder das Licht der Welt erblickte. Vielleicht hatte der Erzähler recht und Krieg entsprang einem finsteren Abgrund und hatte von dem damals unschuldigen Elfenprinzen Besitz ergriffen. Vielleicht war jedoch jedes Wort eine Lüge, aber es änderte nichts daran, dass der Dunkle König die schrecklichsten Kriege entfesseln konnte und nur mit seinem Tod Frieden einkehren würde.
Mit beiden Händen gefesselt und dem Raben zu nah, um nach ihm zu treten, gab es nur eines, das ihr in diesem Augenblick in den Sinn kam. Sie biss.
Das Erste, was sie erreichen konnte. Sein Ohr. Viel leichter, als sie erwartet hatte, durchtrennten ihre Zähne Haut und Knorpel.
Der Rabe sprang zurück und stieß einen Schrei aus Wut und Schmerz aus. Er hielt eine Hand vor das Ohr.
Metallischer Geschmack füllte ihren Mund. Sie schüttelte sich, spuckte aus, was sie ausspucken konnte, aber weiterhin lag Blut auf ihrer Zunge.
Der Rabe holte aus. Die Wucht des Schlages riss ihren Kopf zur Seite und ließ ihn gegen den Stein des Verlieses knallen.
»DU SCHLAMPE!«, rief der Rabe und erhob die Hand ein zweites Mal.
Schwarze Flecken tanzten schon vor Vs Augen. Ein helles Klingeln schrillte in ihren Ohren und Wärme floss an ihrer Schläfe herab.
»Miald.« Eine neue Stimme ertönte und unterbrach den Raben, bevor er ein weiteres Mal zuschlagen konnte. »Lass sie in Ruhe.«
V hob den Kopf, um zu sehen, wer erschienen war, aber ihr Blick verschwamm. Einzig Umrisse erkannte sie. Und feuerrotes Haar.
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