Die Nachtigall im Flieder I
»Ist er ein Gott?« Vs eigene Worte in ihren Ohren, die aber gleichsam fremd klangen. Wie eine Erinnerung an eine lang vergangene, lang vergessene Zeit.
»Nein, das ist er nicht.« Eine unbekannte Stimme. »Und lass mich dir einen Ratschlag geben: Glaube nie, dass jemand ein Gott ist, vor allem nicht jemand wie er. Sobald man daran glaubt, er wäre ein Gott, dann wird er einer sein, und wenn man aufhört, vergeht seine Göttlichkeit. Erinnere dich an meine Worte.«
†
V hob den Kopf von ihren Knien und sah sich im Raum um. Sie war allein.
Stimmen ertönten vor der Tür. Die genauen Worte verstand sie nicht, doch sie erkannte, dass es sich dabei um Ejahl und Kematian handelte.
Sie sank zurück in die Kauerstellung. Keinen von beiden wollte sie gerade sehen. Ihr Wunsch wurde jedoch nicht erhört. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und Ejahl trat ein. Glücklicherweise blieb Kematian aber auf dem Flur.
Der Meisterdieb ließ seinen Blick über Vs Gestalt schweifen – die Augen waren verquollen, die Wangen gerötet, die Haare zerzaust – und er stieß ein Seufzen aus.
V wich seinem Blick aus und legte nur ihr Kinn wieder auf ihre Knie.
»Ich habe sie nicht gefunden«, sagte Ejahl und setzte sich auf den Sessel gegenüber der Couch, auf der V sich niedergelassen hatte. »Nicht dort und auch nicht in der Umgebung.«
V schluckte hart. Warum musste er die Wunde wieder aufreißen?
»Das sind gute Neuigkeiten«, fuhr Ejahl fort und versuchte sich an einem Lächeln. »Das heißt, dass sie überlebt haben könnte. Kematian«, bei dem Namen schnürte es V die Kehle zu, »macht sich auf den Weg zu den Raben und erkundig sich, ob sie etwas wissen.«
Er lehnte sich leicht vor. Tiefe Ringe lagen unter seinen Augen. Die ganze Nacht hatte er Cyrill nach einer Spur von Jeanne abgesucht.
»Sie haben euch zwei auf dem Dach gesehen«, sagte er. »Und früher oder später hätten sie euer ... Treffen unterbrochen. Kematian ...« Er seufzte leise. »Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Er hat das Vorhaben der Raben herausgefunden und ist ihnen zuvor gekommen. Es ... es musste echt aussehen, damit sie sich begnügen. Hätte er Jeanne wirklich umbringen wollen, dann wäre er ihr hinterhergesprungen.«
Ejahl rieb sich den Nasenrücken. »So hat er ihren Tod in Kauf genommen, um wenigstens dich zu retten. Ob es das nun besser macht ...« Er führte den Satz nicht zu Ende und schüttelte nur mit dem Kopf. »Ich dachte, dass du das wissen solltest. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo sich Jeanne befindet.«
Ein fernes Rasseln zog sich durch den Raum, als würden Ketten aufeinanderschlagen. Violetter Stoff wirbelte vor Vs Augen und einen Wimpernschlag später klärte sich das Bild.
Eine Gestalt war aus dem Nichts in dem Zimmer erschienen. Die langen Haare hingen ihm bis weit über die Schultern und goldene Perlen glänzten in den vorderen Strähnen. Auf den ersten Blick schienen sie schwarz, doch das spärliche Kerzenlicht zeigte, dass sie von einem violetten Schimmer ummantelt waren.
Ebenso Violett war sein Gewand, eine Robe mit weiten Ärmeln. Am Kragen und Saum verzierten Goldfäden den Stoff. Das Oberteil, das er darunter trug, war schwarz und bis unter das Kinn geschlossen, aber die Knöpfe glänzten ebenfalls golden.
Er öffnete die Arme und drehte sich im Kreis, als er Vs Musterung bemerkte. Bei jeder Bewegung schlugen feingliedrige Ketten an seinen Stiefeln zusammen und erzeugten ein Klirren.
»Die Frage ist leicht beantwortet«, sagte er. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das V das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Welch eine Freude, meine Werten, Euch wiederzusehen.«
Wiederzusehen? Wer war er? Und wie war er dorthin gelangt?
Seine goldenen Augen blieben auf Ejahl ruhen. »Ihr erinnert Euch«, sagte er und breitete die Arme aus, als wollte er den Meisterdieb in eine Umarmung einladen, ließ sie jedoch wieder sinken, nachdem dieser sich nicht rührte.
»Und Ihr«, sein Blick schweifte zu V, »erinnert Euch auch, aber ...« Er legte den Kopf schief. »Ihr wollt Euch nicht erinnern. Ich kann es Euch nicht übel nehmen. Es war für Euch keine erinnerungswürdige Zeit.«
Ejahl ließ sich zurück in seinen Sessel fallen und atmete tief aus. »Ich hätte nicht erwartet, Euch wiederzusehen.«
Der Fremde zuckte beiläufig mit den Schultern. »Niemand hätte Euch aufgehalten.«
Dann kannten sie sich tatsächlich? Wer war er?
»Nur ein Erzähler«, sagte er.
V runzelte die Stirn. Hatte sie die Frage laut ausgesprochen?
Der selbsternannte Erzähler trat mit federnden, nahezu hüpfenden Schritten in die Mitte des Raumes. »Da dies nun geklärt ist, lasst mich Euch sagen: Ich habe Jeanne.«
Er warf ihr einen Blick zu, der sie frösteln ließ. Der Ausdruck in den goldenen Augen, als wären sie für ihn nur Bauern in einem Schachspiel, nur Puppen, die er an Fäden hielt.
»Als ich spazieren ging, stolperte ich zufällig über sie und da sie ohne meine Hilfe nicht überlebt hätte, nahm ich sie bei mir auf. Vor ein paar Stunden ist sie aufgewacht und ihre Wunden heilen gut. Daher war das Erste, was ich an diesem Morgen gemacht habe, hierher zu reisen.«
»Ihr wollt Lösegeld?« Vs Stimme war rau.
»Nein, nein, absolut nicht. Sobald sie genesen ist, werde ich sie hierher zurückbringen. Ich möchte doch kein Kind bei mir haben, auf das ich die ganze Zeit aufpassen muss. Zumindest nicht noch eins.« Für einen Moment wurde sein Lächeln wärmer, erkaltete aber nur einen Sekundenbruchteil später wieder.
»Was wollt Ihr dann?«, hakte V nach.
»Darf ich niemandem aus der Güte meines Herzens heraus helfen?« Der Erzähler griff sich an die Brust. »Ich bin erschüttert, dass dies nicht das Erste ist, an das du gedacht hast. Diese Welt ist doch so ein ... liebender, warmer Ort und ich ihr treuester Vasall.«
Sie glaubte ihm kein Wort. Weder dass er es aus Güte tat, noch was auch immer er von der liebenden Welt und ihm als Vasallen faselte.
»Doch es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb ich hier bin«, sagte er. »Ich möchte Euch eine Geschichte erzählen.«
V runzelte die Stirn. »Eine Geschichte?«, echote sie.
»Ich bin ein Erzähler«, sagte er. »Und Erzähler erzählen. Und glaubt mir, Ihr werdet die Geschichte mögen. Sie handelt von blutigsten Schlachten, von tiefsten Abgründen und von dem Tod.«
Nicht das, was V gerade – oder überhaupt – hören wollte.
»Doch so düster, wie es endete, begann es nicht, denn der Mann, der den meisten Menschen nur als Monster bekannt ist, hieß einst Lloyd und war der Elfenprinz, Leandras' Sohn und Thronerbe von Everas.«
Nun wurde sie doch aufmerksam. Das waren die Namen, unter denen der Dunkle König einst bekannt war.
»Seine Eltern zogen ihn groß, damit er als nächster König die Krone übernimmt. Sie lehrten ihn Güte und Gnade, Entschlossenheit und Unerschütterlichkeit. Damals war er geliebt von seinem Volk und geachtet, selbst von dem Feind.
Ein Sohn, wie ihn sich viele Eltern wünschten. Ein Leben, wie es Fortuna, das Schicksal, nur wenigen gewährt.
Und lang blieb der Prinz ihren Augen nicht fern und der erste Schicksalsschlag ereilte die Familie. Der König der Menschen entführte die Mutter und richtete sie hin, ehe ihr Sohn das Erwachsenenalter erreichte. Der unsichere Frieden zwischen Menschen und Elfen brach und aus finsterem Abgrund erhob sich Krieg. Doch weder loderte sein Gewand, noch packte ihn flammender Zorn. Feuer erwartete jeder und niemandem gab er es.
Stattdessen hinterließ jeder seiner Schritte eine Spur aus Eis, jede Berührung ließ schlagende Herzen erfrieren. Wer auch immer sich in seine Nähe wagte, niemand hielt der Kälte stand. Und den Prinzen ereilte das Unglück, dessen Weg zu kreuzen.
Ein Fehler oder eine gute Tat – je nach Blickwinkel mag es der eine auf die eine, der andere anders sehen – stürzte ihn in die Verbannung. Er rettete den Herzog von Kastolat, Tavaren Kestrel, der sich in das Elfenreich verirrt hatte, aus den Fängen seines Vaters und beging damit Hochverrat, sodass Leandras ihn aus dem Königshaus verstieß.
Eine Rückkehr war ihm nur versprochen, wenn er eine Rose aus Eis fand, wenn die Sonne sich vor ihm verneigte und wenn ein Engel ohne Güte sich seiner erbarmte und ihm eine Feder reichte.
Auf seiner Suche durchquerte er das Gebirge, das diese Welt von der alten trennt. Das Gebirge, aus dem niemand jemals zurückgekehrt war. Niemand außer ihm.
Statt aber einer Rose, statt der Sonne und statt des Engels zeigte sich ihm der Wunsch nach Frieden. Und dieser Wunsch trieb ihn in Kriegs Arme. In dem Herzen aus Gold gedieh die Finsternis. Hochmut griff nach dem Saum des schuldlosen Gewandes und zerrte ihn in den Abgrund, dem Krieg entsprungen war.
Er nahm den Thron der Drachen an sich, da das Volk dank der Prophezeiung eines falschen Gottes an seine Herrschaft glaubte.«
Als König der Drachen hatte V ihn kennengelernt. Er war die einzige Hoffnung auf Frieden gewesen, er hätte der Auserwählte sein sollen. Doch statt den Krieg zu beenden, löschte er das Volk der Dunkelelfen nahezu aus.
»Die Krone lastete schwer auf seinem Haupt«, fuhr der Erzähler fort, »und so sank er in die Untiefen von Arroganz, Vergeltung und Zwietracht.
Und wer erbarmte sich der armen Seele und reichte ihm die Hand?
Ein Lügner.
Ein Lügner, der nie Vertrauen erbat und es doch stets zu seinen Füßen gelegt fand. Aber es gelang mir nicht, den König zurück in das Licht der Gnade oder gar der Vergebung zu führen.
Und ich erkannte, dass es nur einen einzigen Ausweg gab: Der König, der als Sieger jeder Schlacht galt, den niemand in die Knie zwang, musste verlieren. Und er verlor.
Nachdem seine größte Liebe durch seine eigene Hand starb, ergab er sich und nahm jede Strafe an. Sein Vater selbst richtete ihn noch auf dem Schlachtfeld hin.
Sein Tod war ruhmlos, bestattet in einem Grab, an dem niemand trauert. Keine Lieder besingen sein Vermächtnis, keine Gedichte berichten von seinem Ruhm. Nur ein einsamer Erzähler trägt seine Geschichte in die Welt hinaus.
Aber es gab eine Unstimmigkeit dabei, ein Grund, weshalb sich nur ein brüchiger Frieden ansiedelte und Krieg keinesfalls in die Untiefen zurückkehrte. Das Leben des Dunklen Königs endete nicht mit seinem Tod, denn der Tod hatte ihn verstoßen.
Er erhob sich aus seinem Grab und stand eines Nachts vor meiner Schwelle. Er trat ein, fiel vor mir auf die Knie und flehte mich an, sein Leben zu beenden ... oder wie er es nannte ›ihn zu retten‹. Da ich aber ablehnte, erkannte er, dass er in mir keine Hilfe fand, und verschwand am nächsten Morgen.
Seine Fehler kann er nicht rückgängig machen oder für seine Vergehen büßen, wie er es für angemessen hält: indem er stirbt. Blind muss er zwischen Sehenden leben, gebrochen in der Welt, die er zerstört hat.
Er hat keine andere Wahl als zu hoffen, dass die Menschen ihn und seine Taten eines Tages vergessen werden, doch die Jagden auf ihn verebbten erst, als er sich an die Raben wandte. Oder genauer gesagt, an einen Raben.
Durch Kematians Hand starb er erneut – ohne Erfolg – und Kematian verbreitete das Gerücht von seinem Tod. Zunächst waren die Menschen misstrauisch, aber der Dunkle König blieb verschwunden und daher begannen sie letztlich an den Frieden zu glauben.
Und so endet Lloyds Geschichte. Er war gewiss kein guter und noch weniger ein gerechter König, aber hinter diesem Monster versteckte sich ein Held. Ein gebrochener, in Ungnade gefallener Held.
Viele Jahre hielt das Abkommen mit dem Raben an, aber ich sah, was es aus ihm gemacht hat. Nur Finsternis und Hass gedieh in seinem Herzen. Hass gegen niemanden als sich selbst, denn niemanden kann er für seine Vergehen verantwortlich machen.« Der Erzähler seufzte leise und beendete die Geschichte mit diesem Satz.
Und V erkannte, dass sie vielleicht die Hälfte von dem verstanden hatte, was er gesagt hatte. Und vor allem: Wie soll der Dunkle König überlebt haben, nachdem er hingerichtet worden war? Wie konnte man sterben und gleichzeitig nicht tot sein?
Entweder er war damals nicht gestorben und der Erzähler log, oder er war tot und der Erzähler log auch. Letzteres aber glaubte sie weniger – sie hatte schließlich die Behausung des Königs gefunden und von Ejahl erfahren, dass Kematian ihn suchte.
»Oder ich lüge nicht«, meinte der Erzähler. »Er ist gestorben und lebt wieder.«
V schob die Brauen zusammen. Sie hatte ihre Überlegungen nicht laut ausgesprochen. Oder hatte sie es doch und es nur nicht bemerkt?
»Eure Gedanken sind zu laut, als dass ich sie ignorieren könnte«, meinte der Erzähler.
V fröstelte. Gruselig.
»Und bevor Ihr meine Erzählung als aufgeblasen, übertrieben metaphorisch und größtenteils nichtssagend bezeichnet, sage ich Euch eines: Ihr müsst nur lauschen, dann versteht Ihr.«
V presste die Lippen zusammen. Sie mochte ihn nicht. Sie mochte ihn und seine seltsame Gedankenlesefähigkeit ganz und gar nicht.
Er lachte leise und sie schauderte ein weiteres Mal. »Aber genug von Lloyd«, sagte er. »Wenn ich zu viel von ihm spreche, lässt er es sich vielleicht noch zu Kopf steigen. Daher ist es nun an der Zeit, Abschied zu nehmen. Vorerst.«
Er strich sein Gewand glatt. »Und bevor ich es vergesse, Ejahl, bissige Hunde gehören an die Kette.«
Ohne die Worte zu erklären, hob er eine Hand und deutete ein Winken an, ehe er von einem Augenblick zum nächsten aus dem Raum verschwand. Nur das Rasseln seiner Ketten hallte noch für einige Sekunden nach. Dann kehrte Stille ein.
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