Der Glanz der Götter
»Guten Abend, meine Werten«, begrüßte Murasaki die Anwesenden, die ihn entgeistert anblickten, und entließ V aus seinem Griff.
»Was zur ...«, entfuhr es Luana. Sie wich erst einen Schritt zurück, doch als sie V sah, hastete sie zu ihr und schloss sie in ihre Arme, um sie von Murasaki wegzuziehen. Auch Sal gesellte sich zu ihnen und Luana übergab V an ihn, während sie dem Erzähler die Stirn bot.
»Was macht Ihr hier?«, fragte sie und kniff ihre Augen zusammen.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte Murasaki. »Ich bringe nur das verlorengegangene Schäfchen zur Herde zurück.«
»Nachdem Ihr sie entführt habt.«
»Das tat ich nicht. Was sollte ich mit einem Kind? Die schmecken doch nicht einmal.«
»Er sagt die Wahrheit«, ergriff nun V das Wort. Erneut rollten Tränen über ihre Wangen, aber sie zwang sich, diese zu ignorieren. Wenn sie allein war, konnte sie sich ihren Gedanken und dem, was Ejahl verbrochen hatte, hingeben.
»Wie immer«, ergänzte Murasaki. »Doch, wenn ich es nicht war, der das Lamm geraubt hat, wer war es dann, fragt Ihr Euch sicher.«
»Ejahl«, murmelte V.
Der Erzähler stockte und wandte sich ihr zu. »Ihr wisst doch hoffentlich, dass Ihr meine Dramatik zerstört, oder?«
»Ist mir egal.«
»Wo ist er jetzt?«, fragte Luana.
»Wer?«, entgegnete Murasaki.
V beantwortete Luanas Frage: »In Kastolat.«
Ein theatralisches Seufzen verließ die Lippen des Erzählers. »Ich werde mir merken, dass mir in Eurer Nähe kein Fünkchen Spaß erlaubt ist.« Er wandte sich wieder an Luana. »Möchtet Ihr dem werten Dieb etwa folgen und Euren rechtmäßigen Thron in Kastolat annehmen?«
Sie schnaubte. »Ich gehe nur dorthin, um Ejahl den Hals umzudrehen. Der Thron interessiert mich nicht.«
»Einige mögen der Meinung sein, derjenige, der am wenigsten nach der Macht verlangt, verdient sie am meisten.«
Sie antwortete ihm nicht und rollte nur mit den Augen, ehe sie sich zu Sal drehte. »Es sieht so aus, als müsste ich für eine Weile fortgehen.«
»Ihr meint das ernst?«, fragte Murasaki. »Ich dachte, Ihr scherzt nur.«
»Sehe ich so aus?«, erwiderte Luana. »Und jetzt seid still.«
Der Erzähler schnappte erschrocken nach Luft. »Ihr wollt mir das Wort verbieten? Nun, wenn das so ist, dann fordert Ihr meine Anwesenheit sicherlich nicht mehr. Doch ...«, er machte eine Kunstpause, »es gibt noch eines, das ich mit Euch, Viera, zu besprechen habe. Wenn Ihr mich also an einen Ort führen würdet, an dem wir uns ungestört unterhalten können und ich vor allem von niemandem so dreist unterbrochen werde, dann wäre ich Euch zu tiefstem Dank verpflichtet.«
V löste sich aus Sals Umarmung und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie deutete dem Erzähler an, ihr zu folgen. Zwar begann sein Gehabe langsam, sie zu nerven, aber es würde ihr schon nicht schaden, seinen Worten Gehör zu schenken.
†
Murasakis Blick schweifte durch die Kammer, während V eine Kerze entzündete und heimlich einen Haufen schmutziger Wäsche unter ihr Bett schob.
»Was wollt Ihr noch mit mir besprechen?«, fragte sie an den Erzähler gewandt.
Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, griff in seinen Ärmel und hielt im nächsten Moment eine Tasse in seiner Hand. »Ihr habt nicht zufällig heißes Wasser hier?«
»Nein«, sagte V und runzelte die Stirn. »Und das war nicht die Antwort auf meine Frage.«
Murasaki seufzte und ließ die Tasse wieder in seinem Ärmel verschwinden. »Gut, dann lasst mich Euch fragen: Habt Ihr je von Regna gehört?«
Vs Blick schweifte an ihm auf und ab und sie nickte. Was aber wusste er über Regna? Ein Mensch sollte den Namen des Gottes, an den ihr Volk geglaubt hatte, nicht kennen. Ein leichtes Brennen breitete sich auf ihrer Handfläche aus und kroch ihren Arm hoch. Es erinnerte sie daran, dass ihr Gegenüber sicher nicht nur ein Mensch war.
»Eine ... armselige Gestalt, wenn Ihr mich fragt«, sagte Murasaki. »Aber Ihr habt gewiss Eure eigene Meinung zu ihm. Und ich möchte auch nicht über die Zeit sprechen, in der er ein Gott war oder als Gott fiel. Denn eines wisst Ihr sicher nicht über ihn: Bevor er ein Gott wurde, lebte er am Hof des Elfenkönigs. Damals war es noch nicht Leandras, sondern dessen Vater und es war eine Zeit, in der nur ein Mond den Himmel regierte. Der zweite sollte kurz nach Regnas Erscheinen folgen.«
»Warum erzählt Ihr mir davon?«, fragte V.
»Ich bin ein Erzähler, falls Ihr es vergessen habt. Ich erzähle und Ihr solltet meinen Worten lauschen.« Er wippte mit den Füßen und ein leises Rasseln erfüllte den Raum.
V seufzte leise und setzte sich auf ihr Bett. Sie hätte ihn nie in ihr Zimmer führen sollen.
»Als er an den Hof kam, erlangte er schnell die Kunde, dass ein Monster im Großen Wald sein Unwesen trieb. Es verletzte eine der Prinzessinnen und hinterließ bei jedem Schritt eine dunkle Verderbnis, die jede Pflanze und jeden Baum vergiftete, sodass diese Freund und Feind nicht länger unterscheiden konnten.
Regna hörte von diesem Ungetüm und machte sich auf die Suche nach ihm. Einerseits wollte er dem Elfenkönig seine Treue beweisen, andererseits packte ihn eine düstere Vorahnung, die sich bewahrheiten sollte, als er es fand.
Er teilte eine Verbindung mit diesem Wesen und Kälte griff nach ihm, lang bevor es aus den Schatten des Waldes trat. Abertausende Augen blickten aus einem wolfsähnlichen Gesicht auf ihn herab und zwischen den pelzigen Ohren sprossen gedrehte Hörner, ähnlich einem Drachen. Es stellte sich auf, überragte ihn um mehrere Meter und drohte mit vier Paar Armen – eines trug die Tatzen eines Wolfes, ein anderes die Pranken eines Drachen, eines war lang und dünn wie die Beine einer Spinne und das letzte ähnelte einem Menschen, doch die Knochen waren verdreht und Wulste schoben sich unter der schuppenartigen Haut entlang. Schwärze zog sich über seinen gesamten Körper und umhüllte seine Form wie Nebel.
Zwar schien diese Gestalt direkt einem Albtraum entsprungen zu sein, doch Regna stand ihr ruhig gegenüber, denn er wusste, so sehr sie ihn auch hasste, sie könnte ihm nie schaden, ohne sich selbst zu verletzen. Dieses Monster war ein Teil seiner selbst. Ein Teil, den er schon lange aus dieser Welt in das endlose Nichts verbannt hatte. Doch es war zurückgekehrt und wollte Rache.
Der Kampf zwischen ihnen dauerte Stunden an, aber so oft es in Regnas Schulter biss, riss es auch einen Teil aus seiner eigenen hinaus, und so oft es seine Klauen in dessen Magen schlug, fühlte es die eigene schneidende Kälte in seinem Körper. Letztlich gelang es Regna, es davon zu überzeugen, einzuhalten. Den Moment des Stockens nutzte er aus und sprach einen Zauber, der mindestens tausend Jahre anhalten sollte.
Er verbannte diese Kreatur nicht zurück in das Nichts, sondern als Mond an den Himmel. Von dort aus beobachtet sie seit Jahrhunderten das Geschehen der Welt und versteckt sich hinter dem anderen Mond, wann immer die Ereignisse ihm zu grausam werden.
Denn lasst mich Euch eines sagen: Jeder nannte ihn Monster, doch er war keines. Er hasste den Verrat und den Tod, das Lügen und die Heuchelei. Fortuna, das Schicksal selbst, hatte ihn so geformt, dass Verderben mit ihm Hand in Hand ging, und die Zeit, die er im Nichts verbracht hatte, machte ihn so wahnsinnig, dass er für einen kurzen Moment gern ihrem Befehl gehorchte.«
Murasaki warf V einen Blick zu. Sie hatte an seinen Lippen gehangen, aber die Furche zwischen ihren Augenbrauen sprach Bände.
»Ich erzählte Euch dies nicht nur, weil es eine ganz ... witzige Geschichte ist.«
»Mir wären viele Worte dafür eingefallen, aber ›witzig‹ ist keines davon«, entgegnete V.
»Ich habe wohl einfach einen besseren Sinn für Humor«, sagte Murasaki. »Doch worum es mir eigentlich in der Geschichte ging: Die eintausend Jahre, die Regna für die Verbannung vorgesehen hatte, gehen bald zur Neige, und seine Kraft ist schon lange geschwunden.«
»Aber ...«, setzte V an. »Das war doch nur eine Geschichte.«
Murasaki schnaubte belustigt. Statt auf ihre Frage einzugehen, sagte er: »Wenn diese Zeit vergangen ist, dann wird das Wesen zurückkehren. Der Mond wird fallen und die Welt untergehen.«
V stockte der Atem.
»Außer«, fuhr Murasaki fort, »wenn jemand einen Weg findet, es zu verhindern. Nicht das Fallen des Mondes – nur eine Person hätte dies aufhalten können und er hat sich dagegen entschieden –, aber den Weltuntergang. Nur wie hält man das Ende der Welt auf ...?«
Er sah zu ihr, als würde er erwarten, dass sie eine Antwort wüsste, und sprach weiter, als sie schwieg: »Es wird immer einen Weg geben, selbst wenn es schon Sterne regnet und die Erde aufbricht. Versteht Ihr nun, weshalb ich Euch die Geschichte erzählt habe?«
V schüttelte nur den Kopf. Was sollte sie schon gegen den Weltuntergang ausrichten können?
»Wenn es so weit ist, dann werde ich vielleicht nicht mehr hier sein, um zu helfen. Und deshalb rate ich Euch eines: Gebt nicht auf. Ihr mögt Euch irgendwann am Abgrund hängend wiederfinden, wenn die Kälte der Unterwelt schon nach Euren Knöcheln greift, aber in ebenjenem Moment müsst Ihr Euch an meine Worte erinnern und weiterkämpfen.«
Er erhob sich. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen goldenen Augen, ein Ernst, der sich unter dem Hohn hervorgeschlichen hatte.
»Doch nun ist es für mich an der Zeit, zu gehen«, sagte er. »Bald schon werden wir uns wieder sehen, meine Liebe, und vergesst nicht, welche Abmachung wir getroffen haben.«
Er deutete ein Winken an und verschwand aus der Mitte des Raumes. Das Klirren der Ketten hallte noch für einen Moment nach, dann umfing V die Stille. Mit dieser Stille schlichen sich ihre Gedanken daran an, was sich früher am Tag ereignet hatte.
Murasakis Anwesenheit hatte die Trauer gedämpft und ihre Tränen versiegen lassen, doch nun, da er fort war, kehrte der Schmerz zurück.
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