Bittere Wahrheiten I
Sie landeten in einer Seitengasse Cyrills. V stützte sich an einer Wand ab, ihre Knie zitterten und Übelkeit packte ihren Magen. Ejahl hingegen hatte die Reise kaum beeinträchtigt. Er ließ seinen Blick durch die Straße schweifen und orientierte sich, wo genau sie angekommen waren.
Ein leises Klirren hallte noch nach, aber von dem Erzähler fehlte jede Spur.
Die Sonne erhob sich langsam als roter Halbkreis am Horizont und erweckte nach und nach die Stadt. Bisher drangen kaum Stimmen von der Hauptstraße in die entlegenen Ecken.
»Endlich zurück«, sagte Ejahl und betrachtete den Himmel, in den violett und orange floss mit einem Grinsen. »Dann lass uns mal schauen, wo meine Elstern ein neues Nest gefunden haben.«
V beäugte ihn misstrauisch. Es war ungewöhnlich, dass er so glücklich war. »Was genau ist in dem Fläschchen?«
Sein Lächeln wurde nur noch breiter und sie wusste, dass sie nicht hätte fragen sollen.
»Wenn es dich so interessiert, dann werde ich dir selbstverständlich keine Antworten verwehren«, sagte Ejahl und setzte sich in Bewegung.
V folgte ihm. Auf der einen Seite war sie nicht sicher, ob sie es nun überhaupt noch erfahren wollte, auf der anderen Seite bohrte ihre Neugierde einen Finger in ihren Verstand und bat sie, den Meisterdieb nicht zu unterbrechen. V gab ihr nach.
»Um es zu erklären, muss ich aber ein bisschen ausholen«, fuhr Ejahl fort. »Kematian ist nicht direkt lebendig.«
V runzelte die Stirn. »Wenn er nicht lebt, was ...?« Sie brach ab. Vor einigen Tagen hatte Ejahl ihr schon gesagt, sie solle auf Kematians Zähne achten. Kematian hatte, ohne nachzudenken und ohne starken Widerstand, in sein Handgelenk gebissen, als Ejahl nach dem Angriff auf die Raben verletzt war. Sie hatte Narben an Lloyds Hals bemerkt, die nach Bissen ausgesehen hatten. Es ergab alles einen Sinn, obwohl solche Wesen doch eigentlich nur aus Gruselgeschichten bekannt waren.
»Vampir«, brachte sie hervor.
Ejahl nickte. »Ist es nicht faszinierend, was in den Schatten dieser Welt lebt und von den meisten von uns nur für ein Märchen gehalten wird?«
›Faszinierend‹ hätte sie es nicht genannt, eher ›gruselig‹.
»Vor einiger Zeit berichtete er mir, dass er keinen Herzschlag hat und daher auch in Hinsicht auf gewisse ... Körperfunktionen eingeschränkt –«
Hitze stieg in Vs Wangen und sie wedelte schnell mit den Händen. »So viel will ich nicht wissen.«
»Oh, dabei habe ich doch noch gar nicht wirklich angefangen.« Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Kindes, dem sie sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. »Ich kann es dir auch anhand des Errötens erklären. Das Thema scheint dir näher zu liegen.«
Manchmal hasste sie ihn.
»In Ordnung«, brummte sie und sei es nur, weil er der Einzige war, durch den sie etwas über Vampire erfahren könnte. Zugegeben, Kematian gäbe es auch noch, aber solange es nicht notwendig war, würde sie nicht einmal mit ihm im selben Zimmer sein wollen, geschweige denn ihn nach seinen Körperfunktionen – oder eher den nicht vorhandenen – fragen.
»Ich forschte ein wenig nach«, sagte Ejahl, »und fand heraus, dass Vampire in der Theorie doch erröten könnten, nur er nicht.«
V seufzte leise und ließ es über sich ergehen.
»Es verhält sich nämlich so: Jemand wie er wäre theoretisch in der Lage seinen Blutfluss zu kontrollieren, doch bei unserem lieben Kematian gibt es ein Problem: Er kann nicht direkt etwas fühlen und daher auch keine Reaktion für etwas, das er nicht fühlen kann – und sogar noch nie gefühlt hat –, hervorrufen. Er gehört zu denjenigen, die seit ihrer Geburt schon in diesem Zustand zwischen nicht lebendig, aber auch nicht tot sind. Und dann kam er in sehr jungen Jahren zu den Raben und sie ...« Er räusperte sich. »Das spare ich vielleicht aus. Ich sage nur so viel: Es gibt Gründe für diese Ich-bin-ein-großer-böser-Rabe-und-grummele-die-ganze-Zeit-vor-mich-hin-Art.«
»Und das, was der Erzähler Euch gab?«
»Das wird sein Herz für eine gewisse Zeit zum Schlagen bringen«, sagte Ejahl mit einem Lächeln.
»Mhm.« V beschloss, nicht nachzufragen, wofür der Dieb diese Fähigkeit Kematians nutzen wollte. Aber eine Sache interessierte sie. »Darf ich noch etwas fragen?«
»Sicher doch, meine Liebe.«
»Wenn Kematian nicht ...« Verdammt, sie hatte fragen wollen, aber die entsprechenden Worte würde sie trotzdem nicht in den Mund nehmen. »Wenn er nicht ... kann, wie ist Ava dann ... passiert?«
Ejahls Lächeln verblasste. »Eigentlich hatte ich es ihr sagen wollen, ehe ich es jemand anderem erzähle. Aber ich schätze, sobald ich sie wiedersehe, werde ich mich ohnehin erneut mit ihr zusammensetzen und ihr die ganze Wahrheit sagen ... oder ich werde Kematian dazu bringen, es zu tun.«
Er seufzte. »Sie ist nicht sein eigen Fleisch und Blut. Er nahm sie bei sich auf, als sie noch ein Säugling war, und zog sie als seine Tochter auf. Ich hätte es ihr schon lange sagen sollen, aber ich habe auf den geeigneten Moment gewartet. Und auf einmal war sie erwachsen und ich habe den Zeitpunkt verpasst.«
Sein Blick richtete sich auf das Haus, vor dem sie standen. »Wir sind da.« Die Fensterläden hingen schief in den Angeln und die Blumen in den Beeten welkten in der Sonne.
»Drinnen ist es gemütlicher«, sagte Ejahl.
»Das ist auch nicht besonders schwer«, entgegnete V und entlockte Ejahl damit ein leises Lachen.
Sie traten ein und der Meisterdieb sollte Recht behalten. Einige der Dielen im Holzboden waren nicht zerborsten, und nur durch wenige Ritzen in den Wänden zog der kalte Wind und wirbelte vereinzelt Staubflusen durch den spärlich beleuchteten Raum.
Die Diebe, die sich in dunkle Umhänge hüllten, zuckten zusammen, als sich die Tür öffnete. Sie erkannten schnell, dass es der Meisterdieb war, und atmeten erleichtert auf.
»Sind die anderen oben?«, fragte Ejahl in die Runde.
Kollektives Nicken antwortete ihm.
»Gut«, meinte Ejahl und machte sich auf den Weg in das Obergeschoss. V folgte ihm. Während er aber selbstbewusst auf die Stufen trat, fehlte ihr das Vertrauen in das Holz, das bedrohlich unter ihren Füßen knarzten.
Beide kamen im Obergeschoss an, ohne auf der Treppe einzubrechen. Ejahl durchquerte den Flur und stieß eine Tür auf. Dahinter zeigte sich der offenbar einzige Raum in diesem Gebäude, dessen schwere Vorhänge zur Seite gezogen waren, sodass die Strahlen der Sonne das Zimmer in oranges Licht tauchten und die Gestalt, die vor dem Fenster stand und auf die Straße blickte, mit goldenem Glanz umsäumten.
»Kematian.«
Der Rabe wandte sich zu Ejahl. Bevor der Meisterdieb den Raum betreten hatte, hatte er dessen Schritte gehört. Er setzte gerade an, ihn ebenfalls zu begrüßen, da schmiegte sich schon ein warmer Körper in seine Arme.
»Ich bin zurück«, sagte Ejahl mit einem Lächeln und zog sich näher an Kematian.
»Ist mir aufgefallen«, brummte der Rabe und wandte sich von den dunklen Augen des Diebes ab, ehe er sich noch in ihnen verlieren konnte. »Wir sind nicht allein.«
Rauheit hatte sich in seine Stimme geschlichen. Zu einfach war es, all seine Grundsätze, alles, was er gelernt und gelehrt hatte, abzulegen und nur für einen Moment zu vergessen, weshalb er zehn Jahre lang keinen Kontakt zu dem Meisterdieb gepflegt hatte.
Er hatte in Kauf genommen, ihre Beziehung zu vertiefen, als er Ejahl aufgesucht hatte, doch in keinem Moment war ihm sein Fehler so bewusst wie in diesem. Denn wenn sie in diesem Moment allein gewesen wären, hätte er nachgegeben. Er hätte keine Ausrede mehr für sich gefunden, weiter dagegen anzukämpfen.
»V kann sich die Augen zu halten«, sagte Ejahl – und sie hielt sich tatsächlich die Augen zu.
Er legte eine Hand auf Kematians Wange und die andere in dessen Nacken, um ihn zu sich zu ziehen.
Doch der Rabe nahm seine Schultern und schob ihn sanft einige Zentimeter von sich. »Ich meinte nicht sie.«
Ejahls Augenbrauen hoben sich und er wich ein Stück zurück, behielt aber weiterhin einen leichten Kontakt, indem er seine Finger auf Kematians Unterarm liegen ließ. Sein Blick schweifte durch den Raum und da sah er sie.
Sie saß auf dem Sessel, der so stand, dass er ihn von der Tür aus nicht gesehen hatte, und seit der den Raum betreten hatte, hatte er seine gesamte Aufmerksamkeit Kematian geschenkt.
»Das ist jetzt ...«, Ejahl räusperte sich, »unangenehm.«
Ava betrachtete ihren Ziehvater mit überraschter Miene, die sich mit jeder Sekunde, die in Schweigen zwischen ihnen stand, verfinsterte.
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