Alte Freunde II
Ein Scheppern riss Ejahl aus dem Schlaf. Die Strahlen der Morgensonne fanden bereits ihren Weg durch die Löcher in dem Vorhang vor dem Fenster.
Er schob eine Hand unter das Kissen, fasste den kühlen Griff seines Dolches und erhob sich. Er öffnete die Tür, folgte dem kurzen Flur und stockte, als er die hochgewachsene Gestalt in seiner Küche sah, die eine Scherbe vom Boden aufhob und sich nun zu ihm umdrehte.
Ejahl schüttelte die Anspannung ab und steckte den Dolch zurück.
»Ich würde mich freuen, wenn du aufhören würdest, meine Küche zu zerlegen, Kematian«, sagte er. »Was suchst du überhaupt?«
Der Rabe musterte ihn von Kopf bis Fuß, ehe er sich abwandte. »Nichts«, sagte er und legte die Scherbe auf den verstaubten Küchenschrank. »Zieh dir was an.«
»Für ›Nichts‹ hast du schon ziemlich viel kaputt gemacht«, erwiderte Ejahl. »Und ich trage etwas.« Eine Hose zumindest. Es war nicht warm genug, dass er nackt schlafen würde.
»Zieh dir mehr an.«
Ejahl murrte leise: »Ist doch nicht so, als hättest du mich nie so gesehen«, wandte sich dann aber ab und verschwand in seinem Zimmer. Kurze Zeit später kam er zurück und diesmal trug er zusätzlich noch ein Hemd.
Er knöpfte es zu, während er zu seiner Couch ging, und ließ sich dort nieder. Er winkte Kematian zu sich. »Wir haben einiges zu besprechen. Gestern bist du so schnell verschwunden.«
Der Rabe brummte zwar leise, aber zu Ejahls Überraschung kam er seiner Deutung nach und setzte sich zu ihm auf das Sofa. Dabei rückte er so weit ab, wie es möglich war.
Ejahl runzelte die Stirn. Wie sehr durfte er sein Glück strapazieren? Zumindest ein wenig, beschloss er.
Er warf seine Beine auf Kematians Schoß und legte eine Hand auf seine Schulter. »Dann sprich, mein Freund«, der Blick des Raben verdunkelte sich bei dem Wort, »wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?«
»Unwichtig.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Ejahl. »Ich wüsste gern, was so viel besser war als meine Gesellschaft.« Er konnte nicht verhindern, dass sich der Zorn, der in ihm brodelte, in seine Stimme schlich.
»Ich hatte gesagt, dass ich nicht zu dir zurückkehren werde«, sagte Kematian und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du hast auch gemeint, dass du sterben würdest, und doch sitzt du hier. Lebendig. Oder zumindest so lebendig, wie du sein kannst.«
Kematian betrachtete ihn kurz und meinte dann: »Ich bin nicht deswegen hier.«
»Das macht es nicht unbedingt besser.« Ejahls Hand strich über den Unterarm des Raben. »Aber gut, dann zu dem, weshalb du eigentlich hier bist: Wen soll ich für dich finden?«
»Lloyd.«
Ejahl machte ein Geräusch, das halb Prusten, halb Schnauben war, aber seltsamerweise in seiner Nase entstand. Er nahm die Hände von Kematian und setzte sich normal neben ihn, beide Füße auf den Boden gestellt.
Er räusperte sich und bemühte sich um Ernsthaftigkeit. »Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber sprichst du von unserem Lloyd? Dem Elfenprinzen? Dem – wie nennen sie ihn noch gleich, ah, ich erinnere mich – dem Dunklen König?« Bei der letzten Frage hob sich seine Stimme unbewusst. Er hustete leise und nahm sich vor, ruhig zu bleiben.
Kematian nickte.
»Dann lebt er?«
Erneut ein Nicken.
»Und du hast ihn irgendwo festgehalten? Als ... als Mahlzeit für Zwischendurch?«
Kematian zögerte, nickte dann aber wieder.
Ejahl seufzte und vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Das macht alles ein wenig schwieriger. Du weißt, dass ...« Er brach ab. »Natürlich, weißt du das. Wenn herauskommt, dass er noch lebt, dann wird die halbe, wenn nicht sogar die ganze Welt nach ihm suchen.«
»Deshalb solltest du nur die richtigen Leute einweihen.«
Ejahl legte eine Hand an sein Kinn und strich den Bart entlang. Er neigte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, behielt aber seine Gedankengänge für sich. Stattdessen sagte er: »Ich hätte mich in den letzten Jahren über Besuch von dir gefreut.«
»Das hast du schon gesagt«, erwiderte Kematian. »Wir sollten bei der Sache bleiben. Weißt du, wie du Lloyd finden kannst?«
»Nein«, sagte Ejahl. »Du hättest es mir vielleicht gestern schon sagen sollen. Dann hätte ich mir Gedanken darüber machen können, wer von meinen Leuten vertrauenswürdig ist und auch die Möglichkeiten hat, ihn aufzuspüren. Du stellst dir das zu einfach vor.«
»Ich weiß, dass es schwer ist«, sagte der Rabe. »Deshalb komme ich mit dem Anliegen zu dir.«
»Und wälzt die Aufgabe auf mich ab. Sehr entzückend von dir.«
Kematians Miene verfinsterte sich. Noch nie hatte ihn jemand ›entzückend‹ genannt.
»Und da wir gerade bei dem Thema sind.« Ejahl wandte sich dem Raben zu und legte seine Hand wieder auf dessen Schulter. »Meine Bezahlung. Du weißt, dass ich nichts umsonst mache.«
Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und Kematian wich seinem Blick aus. Sein Gesichtsausdruck wurde nur noch düsterer.
Das Glöckchen im Erdgeschoss erklang.
Ejahl runzelte die Stirn. »Natürlich bekommen wir gerade jetzt Besuch.« Er erhob sich, aber ehe er einen Schritt machen konnte, polterte es auf den Treppen und die Tür wurde aufgestoßen.
V platzte in das Zimmer hinein. Ihre dunklen Locken standen in alle Richtungen ab. »Ejahl«, begrüßte sie ihn. Sie stützte ihre Hände auf die Oberschenkel und schnappte nach Luft.
»Ist ... ist Ava hier?«, fragte sie und sah auf. Ihr Blick schweifte von Ejahl zu der Gestalt, die auf seiner Couch saß.
Vs Augen weiteten sich und sie wich einen Schritt zurück. Das war der Fremde, den sie im Wald bei dem Herrenhaus des Dunklen Königs getroffen hatte.
»Ava ist nicht mehr bei dir?«, fragte Ejahl und stellte sich vor Kematian.
V schüttelte den Kopf. Ihre dunklen Augen flackerten nur für einen Wimpernschlag zu dem Meisterdieb. »Wer ist das?« Ihre Stimme zitterte.
»Das?« Ejahl trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf den Raben frei.
Das Herz trommelte in Vs Brust, versuchte sie, zum Fliehen zu überzeugen, doch zugleich lähmte die Panik sie.
»Ein Freund«, stellte Ejahl ihn vor.
Kematian schnaubte.
Ejahl wandte sich ihm zu und hob eine Augenbraue. »Hast du irgendetwas an der Bezeichnung auszusetzen?«
»Nein«, meinte der Rabe. Er erhob sich nun ebenfalls und trat neben den Meisterdieb.
V wich einen weiteren Schritt zurück.
»Ihr kennt Euch?«, fragte Ejahl und sah zwischen den beiden hin und her.
»Flüchtig«, antwortete Kematian und hatte offensichtlich kein Interesse daran, die Antwort weiter auszuführen.
»Flüchtig?« Ejahl drehte sich zu ihm. »Und dieses ›flüchtig‹ beinhaltet nicht zufällig Folter oder einen Beinahe-Tod?«
»Nein«, sagte Kematian.
»Nein?«, hakte Ejahl nach und deutete mit dem Kopf zu V, die den Raben weiterhin mit schreckgeweiteten Augen anblickte. »Das sieht mir nicht nach ›Nein‹ aus.«
»Ich war freundlich.«
»Ich kenne deine Art, freundlich zu sein. Und ich hätte später gern eine detaillierte Erklärung.« Er wandte sich an V. »Keine Sorge, er beißt zwar manchmal, aber wenn du ihn erst besser kennenlernst, dann ist er eigentlich ganz zahm.«
Kematian holte geräuschvoll Luft, erwiderte jedoch nichts.
»Aber seinetwegen bist du nicht hier«, sagte Ejahl. »Hat Ava dir irgendeinen Hinweis gegeben, wohin sie gegangen sein könnte.«
V schüttelte nur den Kopf. »Gar nichts. Deshalb hatte ich gehofft, dass sie hier ist.«
Ejahl nickte langsam. »Dann weiß ich, wo sie ist. Oder zumindest, wo sie bald sein wird. Sie ist auf dem Weg nach Cyrill, um ihren Vater zu suchen. Was ... zugegeben, Ironie des Schicksals ist, weil«, er deutete auf den Raben. »Das ist Kematian. Er ist –«
»Das braucht sie nicht zu wissen«, unterbrach Kematian ihn.
»Nicht? Es ist schon recht wichtig.«
Der Rabe schüttelte nur den Kopf.
»Wie du meinst.« Ejahl strich sich über den Bart und schwieg einige Sekunden. »Eilt dein Anliegen?«, fragte er dann Kematian. »Wenn nicht, würde ich mich erst darum kümmern, Ava wieder wohlbehalten zurückzuholen. Sie ist zwar hart im Nehmen, aber«, er zuckte mit den Schultern, »ich würde sie trotzdem gern in Sicherheit wissen.«
Kematian nickte. »Ich begleite dich.«
Ejahls Blick hellte sich auf. »Oh, eine wunderbare Idee. Dann brechen wir am besten sofort auf. Und du, V«, er wandte sich an das Mädchen, »geh du lieber zurück. Wir werden Ava schon finden.«
Vs Brauen schoben sich zusammen. Sie musterte den Raben kurz, klaubte all ihren – überraschenderweise gar nicht so wenigen – Mut auf und sagte: »Ich komme mit.«
»Huh?«, kam von Ejahl. »Nicht der beste Einfall, den du je hattest. Du solltest wirklich hierbleiben.«
»Nein«, sagte sie. »Ich werde nicht untätig herumsitzen und Däumchen drehen, bis Ihr zurückkehrt.«
Ejahl hob eine Augenbraue, aber V hielt seinem Blick stand und er gab wenige Sekunden später nach. »Weiß Sal, dass du hier bist?«
»Nein.«
»Gut, dann reißt er mir wenigstens nicht den Kopf ab, falls dir etwas zustößt.« Er seufzte. »Ihr beide wartet hier. Ich packe kurz einige Sachen zusammen und wenn ich wiederkomme, möchte ich kein Blutbad sehen. Verstanden, Kematian?«
Der Rabe brummte eine Antwort, die Ejahl als Zustimmung nahm.
»Schön, dass wir uns so gut verstehen.« Er drehte ihnen den Rücken zu und verschwand in seinem Zimmer. Unter dem Bett holte er einen Beutel hervor, in dem er Proviant und ein kleines Vermögen verstaut hatte, mit dem er sich ein neues Leben aufbauen könnte. Nur für den Fall, dass die Dorfbewohner ihn – und vor allem die Tatsache, dass durch ihn ständig Wertgegenstände verschwanden – nicht länger duldeten.
Zusätzlich legte er seine Rüstung an, ehe er zurück in den Hauptraum trat und mit Freuden feststellte, dass V lebte und unverletzt war. Sie starrte den Raben, dem sie gerade einmal bis zu den Schultern ging, mit großen Augen an.
Kematian hingegen hielt die Arme vor der Brust verschränkt und würdigte sie keines Blickes.
»Bist du ungeduldig?«, fragte Ejahl. Er konnte nicht sagen, woher er die Ahnung nahm. Es war dieses Gespür für die Gemütszustände anderer Menschen, das ihn nur selten betrog.
»Nein«, sagte Kematian und damit wusste der Meisterdieb, dass er richtig lag.
Ejahl beließ es dabei. Er streifte noch einmal durch die Wohnung und stellte sicher, dass er nichts Wichtiges vergessen hatte.
Erst dann griff er sich seinen Umhang, der immer noch auf der Couch lag, und legte ihn an. Aus der Schüssel auf dem Tischchen nahm er zwei Äpfel. Einen ließ er in seinem Beutel verschwinden, den anderen warf er dem Mädchen zu. »Hier.«
V zuckte zusammen, aber ehe sie bemerkte, was vor sich ging, hatte Kematian den Apfel schon gefangen und reichte ihn ihr.
»Danke«, murmelte sie und nahm das Obst entgegen, bedacht seine Hand nicht zu berührten. Kaum hielt sie den Apfel, wich sie einen Schritt zurück, während Kematian nur stumm die Arme wieder verschränkte.
»Ich habe alles«, sagte Ejahl. »Wir können aufbrechen.«
Gemeinsam verließen sie den Laden. Die Strahlen der Sonne färbten den Himmel rötlich und lange würde es nicht mehr dauern, bis der Morgen zum Tag würde.
Ejahl legte einen Arm um Vs Schulter und zog sie zu sich. Sie spannte sich unter der Berührung an und machte sich so klein wie möglich, aber sie schwieg über ihr Unbehagen und ließ sich den Weg entlangführen.
»Ich kann mir so in etwa vorstellen, welche Seite du von ihm kennengelernt hast«, sagte Ejahl mit gesenkter Stimme, »und ich verstehe deine Furcht vor ihm. Bleib nur in meiner Nähe, dann wird er dich nicht verletzen. Und glaube mir, er ist eine wertvolle Unterstützung auf der Suche nach Ava. Sie ist sein Ein und Alles.«
Kematian räusperte sich, ehe Ejahl noch mehr ausplauderte. V hatte ohnehin nicht verstanden, was der Meisterdieb versucht hatte, ihr zu sagen. Sie war nicht einmal sicher, ob sie es überhaupt verstehen wollte. Über Kematian so wenig wie möglich zu erfahren, könnte ihr helfen, den Kopf auf den Schultern zu behalten.
Wenn der Rabe nämlich involviert war, wie weit könnte der Dunkle König entfernt sein?
Sie warf einen Blick auf Ejahl. Und wie viel wusste der Dieb?
Ein spitzer Schrei riss sie aus ihren Gedanken. »MORD! HILFE, MORD!«
V blieb stehen, aber Ejahl beschleunigte seine Schritte und zog sie mit sich.
»Weitergehen«, zischte er ihr zu. »Einfach. Weitergehen.« Er wollte lange verschwunden sein, bevor jemand auf die Idee kam, ihn mit dem Toten in Verbindung zu bringen.
Er sah zu Kematian. Dieser ließ sich keine Unruhe anmerken, aber Ejahl hatte erkannt, weshalb er zuvor solche Ungeduld an den Tag gelegt hatte. »Es gibt vielleicht zehn Leute, die hier wohnen. Du hättest nicht einfach ein Dorf weiter gehen können, um zu essen?«
Kematian brummte nur als Antwort und Ejahl schüttelte den Kopf. Er wusste, worauf er sich einließ. Er hatte es immer gewusst.
Am Horizont, fern hinter dem Wald, zogen finstere Wolken auf.
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