Alte Bekannte
Die Tage vergingen, ohne dass Ejahl eine Nachricht von Kematian erhielt. Er hatte nichts anderes erwartet. Der Rabe schrieb nie Briefe, wenn es nicht absolut unabdingbar war. Er tauchte auf, wenn er etwas benötigte, und verschwand ebenso schnell wieder.
Ava sprach weiterhin nur wenige Worte mit ihm und ging ihm größtenteils aus dem Weg. Immer wieder faszinierte es ihn, wie ähnlich sie Kematian war, obwohl sie nicht dasselbe Blut teilten.
V erlangte in den nächsten Tagen erneut einen Funken ihres Lebenswillens und verschwand mit Jeanne immer öfter auf die Dächer. Offenbar hatten sie geklärt, was zwischen ihnen stand, denn manchmal kehrten sie erst so spät zurück, dass er schon befürchtete, sie wären den Raben zum Opfer gefallen.
Oft genug hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihnen jemanden nachzuschicken, aber letztlich war er dem Vorhaben nie nachgegangen. Keiner der Diebe könnte in einem Kampf gegen die Raben mehr vollbringen als Jeanne und mehr Beteiligte würden nur mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
So vergingen die Tage und er wartete. Bis seine Verletzungen heilten und bis Kematian zurückkehrte.
†
»Nein, nein.« Ejahl wedelte mit den Händen. Er wandte sich kurz ab, um in seine Ellenbeuge zu husten, ehe er fortfuhr: »Das habe ich nicht sagen wollen.«
Jeanne und V saßen vor ihm und hatten ihm den irrigen Vorschlag unterbreitet, den Juwelier auszurauben.
»Was ich meinte«, sagte Ejahl. »Er ist einer von uns. Dafür, dass wir ihn in Ruhe lassen, gibt er uns regelmäßig eine Liste seiner Kunden. Das ist viel wertvoller als ein großer Raubzug, bei dem wir einen unserer besten Informanten verlieren würden.«
»Oh«, machte V nur und Jeanne presste die Lippen zusammen.
»Und V, von Jeanne bin ich nichts anderes gewöhnt, aber du bist doch eigentlich ... weniger kriminell.« Er seufzte. »Aber vermutlich sollte ich mich nicht wundern. Ich setze dich schließlich diesem Einfluss aus.« Er runzelte die Stirn und wandte sich an Jeanne. »Weißt du nicht eigentlich von unserem Abkommen mit dem Juwelier?«
Schritte ertönten auf der Treppe, ehe die Diebin zu einer Antwort ansetzen konnte. Die Tür schwang auf und ein junger Mann stolperte hinein.
»Schon gut, schon gut«, sagte er schnell und hob die Hände. »Ich bin doch den ganzen Weg mitgekommen. Ihr ...« Ihm blieben die Worte im Hals stecken, als er mit verschiedenfarbigen Augen – eines blau, das andere grün – in das Zimmer blickte.
Ejahls Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. »Eugene Mercer«, begrüßte er den Ankömmling. »Eine Freude, dich wiederzusehen.«
Der junge Mann zog den Kopf ein und fuhr sich durch die dunkelblonden Haare. »Ich ... Ich ...«, stammelte er. »Ich weiß doch gar nicht, was ich hier soll.« Er wandte sich zu Kematian um, der hinter ihm das Zimmer betrat und die Tür schloss. »Was mache ich hier?«
Der Rabe antwortete nicht und stieß ihn nur weiter in den Raum hinein.
Eugene hob die Hände höher, als wollte er zeigen, dass er unbewaffnet war und sich ergab.
»Du hast dich in den letzten Jahren gut verborgen gehalten«, sagte Ejahl und stand von seiner Couch auf. »Nicht einmal ich konnte dich finden.«
Eugene sah erst verschreckt zu dem Meisterdieb, dann hilfesuchend zu Kematian. »Was soll ich hier?«, flüsterte er. Erneut blickte er zwischen beiden hin und her und sprach letztlich doch nur zu sich selbst.
»Hat unser lieber Kematian dir nichts gesagt?«, fragte Ejahl.
Eugene sah zu seinen eigenen Füßen und schüttelte den Kopf. »Ich dachte ...« Er schob sich unauffällig einige Schritte von dem Raben fort und zu dem Meisterdieb. »Ich dachte die ganze Zeit, er würde mich umbringen wollen.«
»Und aus lauter Angst vor ihm kommst du in meine Arme gelaufen?« Ejahl legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn zu sich. »Du weißt doch eigentlich, dass das keine gute Idee ist.«
Röte stieg in Eugenes Wangen und er schluckte.
»Ejahl«, sagte Kematian und warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Du lässt mich wochenlang allein, wirfst mir dann Frischfleisch vor die Füße und erwartest, dass ich meine Finger von ihm lasse?«, fragte Ejahl.
Kematians Blick verdunkelte sich nur. Eugene flüsterte dem Meisterdieb zu: »Frischfleisch?«
Ejahl nickte und deutete auf die Couch. »Möchtest du dich setzen?«
»Vor ... vor den Kindern?«, stammelte Eugene.
Jeanne sprang auf die Füße. »Wen nennst du hier Kind?«
Er zuckte zusammen. »Tut mir leid, tut mir leid. War nicht so gemeint, nur ...« Er schob sich hinter den Meisterdieb, um ihn als Schutzschild zu nutzen. »Hilfe.«
»Keine Sorge«, sagte Ejahl und klopfte ihm auf die Schulter. »Wer zuschauen möchte, kann bleiben, aber die anderen werden ohnehin gehen, sobald wir anfangen.«
V und Jeanne wechselten einen schnellen Blick, dann erhob sich die Dunkelelfin ebenfalls. »Wir werden dann ...«, meinte sie und verschwand aus der Tür, ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte.
Von Jeanne erhielten die Anwesenden noch ein Winken und sie sagte: »Der Welpe ist ja ganz niedlich, aber Euch will ich wirklich nicht nackt sehen.« Und damit ging auch sie.
Ejahl wartete noch einige Sekunden, bis die Schritte auf dem Flur verklungen waren, ehe er von dem jungen Mann abließ. Seine Miene hatte einen gewissen Ernst angenommen. »Du weißt also nicht, weshalb du hier bist?«
»Offensichtlich nicht dafür, was Ihr angedeutet hattet«, sagte Eugene und fuhr sich durch die Haare. »Das hätte mich auch sehr gewundert, hättet Ihr mich nur dafür aufspüren lassen.«
»Normalerweise hätte ich nichts dagegen, aber ...«
Kematian stieß ein Schnauben aus, ehe der Meisterdieb den Satz zu Ende gesprochen hatte.
»... momentan bin ich irgendwie in festen Händen«, beendete Ejahl, was er hatte sagen wollen. Er warf einen Blick auf den Raben, um sicherzustellen, dass er gegen diese Bezeichnung nichts auszusetzen hatte. Dessen Miene blieb in seiner gewohnten Grantigkeit und er nahm es als gutes Zeichen.
Eugene folgte seinem Blick und flüsterte ihm dann zu: »Er? Nein, oder? Er ist schrecklich.«
»Aber er sieht so gut aus.«
»Wenn Ihr beiden nun fertig seid«, unterbrach Kematian sie. »Mercer, es gibt einen Grund, weshalb du hier bist.«
»Ansonsten hättet Ihr mich wohl kaum mitten in der Nacht aus meinem Bett geworfen«, sagte Eugene. »Ihr hättet mir auch vor einer Woche verraten können, weshalb ich Euch begleiten sollte, aber gut, ich beschwere mich nicht. Schließlich befindet sich mein Kopf noch auf meinem Rumpf.«
Ejahl räusperte sich, um die Aufmerksamkeit zu sich zurückzuholen. »Eugene, wir möchten von dir wissen, wie du vor Jahren die Raben nahezu auslöschen konntest. Das ist der Grund dafür, dass du hier bist.«
»Was?«, fragte Eugene und lachte nervös. Er deutete mit dem Kopf auf Kematian. »Ihr wisst schon, dass er zuhört? Und er ist der rabigste Rabe, den ich kenne.«
»Er ist zahm.«
Kematians Miene verfinsterte sich.
»Handzahm möchte man ihn fast nennen«, ergänzte Ejahl.
»Da ich ohnehin tot bin, wenn er es möchte«, sagte Eugene, »kann ich Euch auch helfen.« Er blieb zwar weiterhin hinter dem Dieb versteckt, wandte sich aber nun zu Kematian. »Sind sie in das Nest im Norden zurückgekehrt?«
Der Rabe schüttelte den Kopf.
»Dann sind sie sicherlich im Osten.«
»Nicht mehr.«
»Nicht? Was ist ...?« Kematians Blick sagte Eugene, dass er besser keine Fragen stellen sollte. »Wenn das so ist, dann sind sie sicher unter dem Haus in der Stadt. Und ... wie schnell braucht Ihr die Informationen?«
Ejahl seufzte. »Er hat dich tagelang mit sich geschleift, ohne dir einen Augenblick der Rast zu gönnen, nicht wahr?«
»Er hat mir nicht einmal etwas zu essen gegeben«, sagte Eugene und schniefte leise. »Und er hat mich immer gehauen, wenn ich ihm zu laut gejammert habe. Ich dachte wirklich, er würde mich umbringen wollen. Er war die ganze Zeit über so ... so unfreundlich.«
»Mein armer Junge.« Ejahl schloss ihn in seine Arme und strich ihm über das blonde Haar. »So kann er sein, aber jetzt bist du doch bei mir und in Sicherheit.«
Kematian ertrug die Szene nicht länger und räusperte sich.
Ejahl entließ den jungen Mann daraufhin aus seinen Armen. »Dann lass mich dir ein Zimmer und eine Mahlzeit geben. Und eine warme Decke.«
Bei allen Punkten nickte Eugene. »Und – nur wenn Ihr habt – vielleicht auch Kekse?«
»Das lässt sich arrangieren.« Ejahl durchquerte den Raum und riss die Tür auf. »Jeanne!«, rief er in den Flur.
In der Ferne ertönte ein Poltern und kurz darauf tauchte die Diebin auf – selbstverständlich mit V im Schlepptau. »Was?«, bellte sie ihn an.
»Du bist doch sicherlich so freundlich, unserem kleinen Welpen hier ein Zimmer und eine warme Mahlzeit zu geben. Und Kekse.«
Sie runzelte die Stirn und betrachtete Eugene abschätzig. »Wenn es denn sein muss«, murmelte sie und griff ihn am Arm.
»Warte kurz.« Ejahl warf dem jungen Mann einen Beutel mit Gold zu, dem er ihm nur wenige Sekunden zuvor abgenommen hatte. »Pass nächstes Mal besser auf«, sagte er und schickte ihn mit einer Handbewegung fort.
Kematian hatte sich in der Zeit nicht von seinem Platz fortbewegt und auch jetzt wartete er, bis Ejahl die Tür geschlossen hatte, ehe er das Wort ergriff. »Ihr kennt euch besser, als ich erwartet hatte.«
»Ich habe viele alte Bekannte.«
Der Rabe stieß ein Schnauben aus.
»Ich weiß schon, du bist eifersüchtig.« Ejahl trat einen Schritt näher und nahm Kematians Gesicht in seine Hände. »Aber wollen wir wirklich neu aufrollen, wer vor wessen Schwelle saß und um Einlass bat? Ich sage nur so viel: Meine Tür war für dich stets geöffnet.«
Kematian brummte nur etwas Unverständliches als Antwort. Er beugte sich zu Ejahl und drückte seine Lippen auf dessen. Obwohl der Kontakt nur sanft war, wallte die Gier in ihm auf, die seine Kehle austrocknete und seine spitzen Zähne hervorbrechen ließ.
Zu leicht wäre es, sich in der Wärme des Meisterdiebes zu verlieren, der Berührung in seinem Gesicht, dem Herzschlag, der zwar ruhig ertönte, aber hier und da kleine Hüpfer machte. Doch gerade jetzt war die Gefahr zu groß, dass er den Hunger nicht kontrollieren konnte. Seit er aufgebrochen war, hatte er nichts mehr zu sich genommen.
Als Bilder in seinem Kopf auftauchten – wie er seine Hände an Ejahls Kehle legte, wie er dessen leblosen Körper in seinen Armen hielt – schob er Ejahl von sich und wandte sich ab, ehe die Gedanken noch die Überhand bekommen konnten. »Ich werde mir etwas zu essen suchen«, sagte er, seine Stimme glich einem kehligen Knurren.
Ein schiefes Lächeln legte sich auf die Lippen des Meisterdiebes. »So ein bisschen küssen und schon kommen die Zähne raus?«
Kematian warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Ich nehme es als Kompliment«, sagte Ejahl. »Aber wenn du zurückkehrst, dann darfst du direkt in mein Zimmer kommen. Ich würde gern etwas mit dir ... ausprobieren.«
Kematian schluckte schwer. Er wusste, was der Dieb meinte, schließlich hatte er schon mehrfach danach gefragt. Ihm schien es weiterhin keine gute Idee zu sein, aber er musste dem, was Ejahl schon so oft angemerkt hatte, recht geben: Sooft sie zusammen waren, kämpfte er mit seinem Hunger, aber – so viel Nähe sie auch miteinander geteilt hatten – er war ihm noch nie so weit nachgegangen, dass Ejahl Schaden davon getragen hatte.
»In Ordnung«, sagte er. Er musste nur zuvor etwas essen, um die Stimme der Gier, so weit es ihm möglich war, zum Schweigen zu bringen.
»Du weißt doch noch gar nicht, was ich möchte«, sagte Ejahl.
»Das ist nicht so schwer zu erraten.«
»Aber ...« Ejahl stockte. »Oder ... Du würdest mich wieder ... oh. Das bringt mich jetzt doch in Versuchung.«
Kematian bezwang das Gefühl, dass er direkt in eine Falle gelaufen war.
»Nein, nein, das meinte ich nicht«, sagte Ejahl. »Oder eher: Ich meinte es so halb.« Er holte die Phiole hervor, die er vor einigen Wochen schon von dem Erzähler erhalten hatte, und drückte sie dem Raben in die Hand. »Das hier wird dafür sorgen, dass dein Herz für eine Weile schlägt. Aber wir können es natürlich machen, wie du möchtest. Ich werde mich ganz deiner Entscheidung fügen.«
Kematian brummte nur.
»Du brummst, weil du nicht weißt, was du dazu sagen sollst?«
Ein weiteres Brummen kam von Kematian.
»Du kannst ein wenig überlegen, wie du dich entscheiden möchtest«, sagte Ejahl. »Ich warte auf dich.« Er drückte dem Raben noch einen Kuss auf die Lippen und verschwand aus der Tür.
Kematian betrachtete die Phiole in seiner Hand und steckte sie dann weg. Es war eine schlechte Idee, ihm einen Herzschlag zu geben, aber ... Er schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Sobald er erst einmal seinen Hunger gestillt hatte, könnte er klarer denken.
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