48 Misstrauen
Die Luft war kalt und feucht hier unten. Und die Düsternis bereitete ihm zusätzlich Angst. Wieso tue ich das überhaupt?!, fragte er sich. Die Antwort war Matt klar, doch es war ihm trotzdem nicht ganz schlüssig, weshalb er sich darauf eingelassen hatte. Nur ein paar Meter vor ihm schlich Alessandro ebenfalls die Stufen hinab. Es gab keinen Lichtschalter. Welcher Ingenieur hatte sich so einen Schwachsinn ausgedacht? Ein Keller ohne Licht? War das deren Ernst?! Im Vergleich zu dem restlichen Haus war der Keller ziemlich verwahrlost. Doch wo sollte ein Mörder, der nicht wollte, dass seine Mutter von seinen Machenschaften erfährt, seine Pläne sonst aufbewahren? Während Scarlett geklingelt hatte, haben er und Alessandro die Hintertür aufgebrochen und waren nun dabei Scarletts Anweisungen auszuführen. Diese bestanden darin, Kanes Pläne zu finden und zu stehlen und gleichzeitig Samantha zu retten. Scarlett hatte sie mehrmals angerufen, hatte sie erzählt. Natürlich ohne Erfolg. Vermutlich hat Kane ihr Handy ohnehin zerstört. Matt war zwar dafür gewesen, dass sie erst in Kanes Zimmer suchten - weil er schlichtweg keine Lust hatte, den gruseligen, dunklen Keller eines Mörders zu betreten -, jedoch hatte Alessandro es geschafft, ihn zu überreden, hier hinabzusteigen.
Matt erreichte das Ende der Treppe. Hier war es nun zu düster, als dass auch nur ein wenig Licht bis hierher reichen würde. Dementsprechend konnte er Alessandro nicht mehr erblicken.
»Alessandro?«, fragte er in die Dunkelheit. Niemand antwortete. »Wo bist du?«
Erneut Stille. »Das war eine scheiß Idee.«, murmelte er. Dieser Keller machte ihm Angst. Dieser Ort war einfach nur furchteinflößend.
Plötzlich spürte er eine Berührung an seiner linken Schulter. Vor Schreck zuckte er zusammen. Was war das?
»Seit wann bist du so ein Schisser?«, hörte er Alessandro schmunzeln.
»Das war nicht lustig!«, erwiderte er. »Seit wann machst du bitte gern Späße auf Kosten Anderer? Sonst mache ich das doch…«
»Du hast recht.«, gab er zu. »Jetzt ist der falsche Zeitpunkt. Scarlett verlässt sich auf uns.«
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Dann erleuchtete Alessandros Smartphone Taschenlampe den Weg. Die erste Erkenntnis, die Matt hatte, war, dass der Keller absolut leer war. Auf den zweiten Blick erkannte er jedoch, dass in jede freie Wand jeweils eine Tür aus dunklem Holz eingefügt wurde. Vier Wände, drei Türen, eine Treppe.
»Vielleicht sollten wir eine davon öffnen.«, schlug Matt vor.
Statt einer Antwort sah er, wie Alessandro mit dem Licht in der Hand auf eine der Türen zuging. Matt folgte ihm mit schnellen Schritten.
»Die ist mit einem Code geschützt.«, stellte Matt fest. Er setzte sein Kairé ein, doch nichts geschah. »Und Magie geschützt ist sie auch noch…«
»Kennst du das Passwort?«
»Nein.«, erwiderte Matt. »Woher denn?«
»Dann mach ich das.« Mit einem Geräusch von zersplittertem Metall riss Alessandro die Tür auf.
»Wie…«
»Lass es.«, unterbrach Alessandro ihn.
Matt hinterfragte dies nicht weiter und lugte vorsichtig in den Raum hinein. Hinter der massiven Holztür befand sich ein weiterer, jedoch weitaus größerer, leerer Raum. Allerdings befand sich in der Raummitte ein seltsames Leuchten. Wie eine Kugel aus Licht, die in der Luft schwebte.
»Was ist das?«
»Ich habe keine Ahnung.«, antwortete Alessandro. »Aber es sieht wichtig aus und irgendwie magisch.«
»Ja, aber woher hat Kane sowas?«
»Ich weiß es nicht.« Immer noch gebannt starrte Alessandro die Leuchtkugel an. »Aber er ist genial…Wahnsinnig, aber genial.«
»Vielleicht sollten wir es mitnehmen.« Schließlich wusste niemand von ihnen, was Kane damit anrichten konnte.
»Und wie bitte willst du ›Licht‹ klauen?«
Er überlegte kurz, ließ dann jedoch ratlos die Schultern hängen. »Keine Ahnung.«, seufzte er. »Und was machen wir jetzt?«
»Ich mache Fotos.«, schlug Alessandro vor. »Vielleicht wissen die Hüter ja, was das ist.«
Matt zuckte die Achseln, jedoch hatte Alessandro bereits begonnen Fotos zu knipsen. Als er genug Bilder hatte, verließen sie den Raum und schlossen die Tür wieder, die dies nur noch mäßig tat. Dann widmeten sich die beiden der nächsten Tür. Diese war ebenfalls durch ein Code-Schloss gesichert. Erneut öffnete Alessandro sie auf unerklärliche Weise. Matt versuchte dies zu ignorieren. Er wusste, dass Alessandro nicht darüber sprechen wollte. Er stieß die Tür auf. Ein verdorbener Geruch stieß Matt entgegen. Vorerst herrschte nichts als Dunkelheit, aber schnell fand Alessandro einen Lichtschalter. Sobald das grelle Licht ihn nicht mehr blendete, erkannte Matt, was so streng roch. Leichen. Und zwar eine beachtliche Menge davon. Übereinander gestapelt, wie Schlachtvieh, lagen etwa dreißig Leichen in diesem Zimmer. Und jedem dieser Menschen klaffte ein Loch in der Brust. Schlagartig knallte Alessandro die Tür wieder zu. Jedoch traf diese mit so viel Kraft auf, dass sie aus den Angeln flog.
»Ich weiß nicht, was das soll, aber es ist widerlich.«, äußerte Matt und hielt sich die Nase zu. »Und respektlos gegenüber den Toten ist es auch.«
Alessandro schien ihm nicht zuzuhören. Stattdessen stieg er über die Leichen hinweg in dem Raum, auf einen Schreibtisch mit Unterlagen zu.
»Was machst du da?!« Matt war erschüttert vor Entsetzen.
Es schien Alessandro gar nicht zu kümmern, worüber er da lief… Oder er blendete es einfach aus.
»Wonach sieht es denn aus?« In diesem Moment trat Alessandro auf etwas, aus dem geronnenes Blut schoss. »Ich besorge uns diese Papiere.«
Schon jetzt war Alessandro von oben bis unten mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten bespritzt. Als er den Schreibtisch erreicht hatte, sah er die Blätter darauf stirnrunzelnd an. Dann schüttelte er langsam den Kopf, faltete die Papiere und stopfte sie in seine Hosentasche. Danach kletterte Alessandro ein weiteres Mal über den Leichenhaufen, bis er wieder vor Matt stand. Blutgetränkt und…
»Du brauchst unbedingt eine Dusche.«, sagte Matt angewidert. »Dieser Gestank nach Verwesung und Tod ist ja nicht auszuhalten!«
»Ach was. So schlimm ist es jetzt auch nicht.«, widersprach Alessandro ihm.
»Was steht auf diesen Unterlagen überhaupt so wichtiges, dass du so einen Mist durchziehst?«
»Nicht viel.«, erwiderte er. »Aber vielleicht können die Hüter damit etwas anfangen.«
»Lass mich mal sehen.«
»Du weißt dabei auch nicht mehr als ich. Wir sollten uns lieber ansehen, was sich hinter der letzten Tür verbirgt.«
»Ich will es trotzdem sehen.« Matt streckte die Hand aus, um die Blätter entgegen zu nehmen.
Alessandro gab sie ihm jedoch nicht. »Nein.«
»Warum?«
Alessandro antwortete nicht und brach stattdessen das nächste Türschloss auf. Somit zog Matt die Blätter einfach aus Alessandro Hosentasche.
»Hey!«, rief dieser zornig.
Matt begann zu lesen…
Forschung Tag 1:
Leiche gefunden. Eingeweide nicht entrissen. Herz scheint entfernt. Proben ergeben nichts ungewöhnliches.
Forschung Tag 2:
Weitere Tests gemacht. Künstliche Installation des Mordes an einem Menschen als Vergleich. Unauffällig.
Forschung Tag 3:
Bluttest. Ähnliche Ergebnisse.
Forschung Tag 4:
Weitere Vergleichs-Exemplare wurden hinzugezogen. Keine Auffälligkeiten.
Forschung Tag 5:
Interessanter Fund. Blutfleck an Kleidung des Opfers.
Forschung Tag 6:
Blut unter Mikroskop betrachtet. Faszinierende Feststellungen. Das Blut…
»Gib die mir zurück!« Alessandro riss ihm die Blätter aus den Händen, sodass sie zerissen.
»Na klasse…«
»Das ist deine Schuld, nur damit du's weißt.«, beschuldigte Alessandro Matt und warf ihm finstere Blicke zu.
»Eben nicht.«, gab er zurück. »Ich weiß nicht, wieso du nicht möchtest, dass ich diese Forschungen lese. Aber wenn du sie mir jetzt nicht gibst, habe ich keinen Grund mehr dir zu vertrauen!«
Alessandros Gesichtszüge zuckten nicht einmal, als er sein Kairé aufblitzen ließ und die Blätter in lodernde Flammen aufgingen. »Ups.«, meinte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Ich glaube Asche wirst du wohl nicht lesen können.«
Er klopfte sich rasch die Hände aus, während Matt sich vor Frust die Hände vors Gesicht schlug und ein genervtes Seufzen von sich gab.
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte Matt, das Gesicht abgewandt.
»Wie meinst du das?«, vernahm er Alessandros Stimme.
»Argh. Im einen Moment willst du uns helfen und wichtige Papiere von Kane mitgehen lassen. Und im nächsten, enthältst du sie mir vor und lässt sie zu Asche verbrennen!«
»Ich weiß immer noch nicht, was du jetzt von mir willst.«, sagte Alessandro unbeteiligt.
»Verdammt!«, fluchte Matt. »Hilfst du Kane? Arbeitest du mit T. S. O. M. zusammen?!« Jetzt wandte er sich um. Er wollte ihm in die Augen sehen, der einzige Weg, um irgendwie die Wahrheit von einer Lüge unterscheiden zu können.
»Denkst du zu sowas wäre ich fähig?«, fragte er. Gegenfragen waren gut… Wenn man etwas zu verheimlichen hatte.
»Das weiß ich nicht!« Er ging auf die letzte verbliebene Tür zu und legte die Hand auf den Knauf, um die bereits geöffnete Tür aufzuziehen. »Aber, ich will wissen, ob wir, falls es dazu kommt, gemeinsam oder gegeneinander kämpfen werden.«
»Ich würde mich niemals gegen dich oder Scarlett stellen wollen.«
»Das hoffe ich.« Dann stieß er die Tür auf.
Den Raum dahinter, der größer als die vorherigen war, säumten Regale zu allen Seiten. Doch Matts Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das an einen Stuhl gefesselt und geknebelt war. Samanthas Kopf war zur Seite geneigt und ihre Augen, von denen eines zugeschwollen war, waren gerötet. Auf ihrem Gesicht und ihren Armen waren überall Blutergüsse.
»Dieses verflixte Dreckschwein!« Matt eilte auf sie zu.
Schnell zog er den Dolch aus der unsichtbaren Scheide und durchtrennte die Kabelbinder an ihren Händen und Füßen. Dann löste er den Knoten an dem Knebel. Erst jetzt konnte er hören, wie schwer ihr Atem ging.
»Warum hilfst du mir nicht, verdammt!«, rief er Alessandro zu.
Diesen hingegen schien es gar nicht zu kümmern, wie Kane Samantha misshandelt hatte. Stattdessen sah er konzentriert durch die Regalreihen. Als hätte er eine Erkenntnis, zuckte er plötzlich zusammen.
»Ach du…«, murmelte er leise. »Diese ganzen Regale sind gefüllt mit magischen Artefakten. Hunderten davon…«
Matt blickte sich um. »Das meinst du nicht ernst, oder?«
»Und ob ich das tue. Das hier ist der Grund, wieso wir keine mehr finden konnten.«
»Dieser Sije… Er hat sich ›Jäger‹ genannt. Vielleicht meinte er Jäger von magischen Artefakten.«, überlegte Matt.
»Diesem dreckigen Bastard hab ich zum Glück den Gar ausgemacht! Aber vermutlich gibt es noch mehr wie ihn…« Matt konnte Alessandro seine Wut nicht verdenken.
Schließlich war er ebenso wütend auf diesen Kerl. Er war skrupellos und kalt gewesen, er hatte nichts besseres als den Tod verdient. In diesem Augenblick schnappte Alessandro sich einen Beutel, der über einem Haken neben der Tür hing und fing an, die Regale zu leeren und alles mögliche dort hinein zu füllen.
»Was tust du da? Raubst du ihn aus?«
»Was sonst?«, fragte Alessandro. »Er hat es ebenso gestohlen, also würde ich es nicht als Raub bezeichnen… Ich nehme mir viel mehr, was mir nicht gehört.« Alessandro drehte sich nicht einmal herum, während er sprach. »Aber ihm auch nicht.«
Matt redete ein wenig beruhigend auf Samantha ein und drängte sie zum gehen, doch sie stöhnte bei jeder Bewegung vor Schmerz auf.
»Warum hat er dir das angetan?«, forderte Matt zu wissen.
»Er… Er wollte, dass ich ihm sage, was ich über die Hüter und Auserwählten weiß. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts weiß, bis auf die Magie. Aber er bestand darauf zu erfahren, wo die Hüter irgendeinen Gegenstand aufbewahren… Ich weiß nicht mehr genau, was es gleich war, aber es schien ihm wichtig zu sein.«, meinte Samantha, bevor sie fortfuhr. »Als ich ihm sagte, dass ich nie davon gehört habe, hat er mich geschlagen und mir dieses Ding in den Mund gestopft… Als er mich erneut fragte und meinen Mund freigab, habe ich geschrien. Ich habe gehofft, jemand würde mich hören, aber das war wohl nicht so… Aufgrund dessen hat er mir dann wieder den Knebel in den Mund gesteckt und einen seiner Leute geholt, um…um…« Sie ringte um Fassung. »Um mich zu bestrafen. Es war dieser Sije, von dem ihr eben gesprochen habt.«
»Was?!« Alessandro wandte sich blitzschnell zu ihnen um. »Sije lebt?! Wie ist das möglich… Ich habe ihn getötet. Ich habe gesehen, wie er gestorben ist!«
»Vor ein paar Stunden war er jedenfalls noch quicklebendig.«
»Wie ist…« Plötzlich schien Alessandro wie gelähmt. Seine Augen zuckten seltsam hin und her, während er völlig blass wurde. Dann sah er Matt und Samantha wieder an.
»Ich muss zu Scarlett.«, sagte er. »Matt, kümmer dich bitte um Samantha und die Artefakte. Ich muss ihr helfen, bevor er sie umbringt.«
Etwas überrumpelt blickte Matt Alessandro an, als dieser ihm den Beutel in die Hand drückte und in einer unfassbaren Geschwindigkeit aus dem Raum stürmte.
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