
30 Wie der dichteste Nebel
»Wo warst du?«, fuhr Matt Alessandro an, nachdem er und Scarlett in die Station zurückgekehrt waren.
Sie saßen in Matts Zimmer und Matt starrte Alessandro wütend an.
»Es tut mir leid. Sienna hat angerufen. Ich war bei ihr.« Seine Worte klangen aufrichtig, doch in seinen Augen erkannte Matt die Lüge.
»Du lügst.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Warum?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich war bei Sienna.«, bestand er.
»Nein warst du nicht.« Matt stützte sich auf seinen Schreibtisch und musterte Alessandro, der auf seinem Bett saß. »Deine Augen verraten dich. Sie sind wie eine Pforte zu deiner Seele.« Er seufzte, als er ihn mit zusammengezogenen Brauen anblickte.
»Schwachsinn.«, murmelte er.
»Okay.« Er räusperte sich. »Von mir aus, glaub was du willst. Aber…« Er machte einen Schritt auf Alessandro zu. »WO ZUM HENKER WARST DU?!« Matt wusste nicht, wie Alessandro darauf reagieren würde.
Doch er zuckte nicht einmal. In seinen Augen lagen weder Furcht noch Einsehen. Nur Wut. Harte, kalte Wut.
»Es hat dich nicht zu interessieren, verstanden?!« Er stand auf und schritt auf die Tür zu.
Diese Situationen machten Matt in letzter Zeit des Öfteren zu schaffen. Er verstand nicht, weshalb er sich so distanzierte und niemanden an sich heran ließ. Vor wenigen Monaten war er noch ganz anders gewesen. Er war offen, freundlich, höflich gewesen. Nun…war er nicht mehr die Person, die erkannte. Die Person, die sein bester Freund war. Er fragte sich wirklich, was so verheerendes Geschehen sein konnte, was ihn komplett verändert hatte. Und dass er es anscheinend zu Anfang nicht wahrgenommen hatte, frustrierte ihn nur noch mehr.
»Doch, das tut es.«, entgegnete er und wollte Alessandro den Weg versperren, indem er nach vorn lief und sich vor der Tür postierte.
Allerdings schien Alessandro damit gerechnet zu haben, stieß blitzartig die Tür auf und hinter sich mit einem ohrenbetäubenden Knall wieder zu.
Matt war zu überrascht, um ihm hinterher zu laufen. Doch damit würde er Alessandro sowieso nur in die Karten spielen. Es würde ihm nur noch mehr Selbstsicherheit geben, wenn er sah, wie ergeben Matt ihm war.
Mit diesem Gedanken verbrachte er den restlichen Tag in seinem Zimmer und grübelte darüber, was Alessandro ihm verschweigen wollte.
...
»Hey.«, stammelte sie mit zittriger Stimme.
»Was ist los?« Kanes Ton klang besorgt, aber auch irgendwie verständnislos, während er Scarlett mit einem warmen Kuss zum Zerschmelzen brachte. Als er wieder von ihr abließ, entdeckte sie einen Silberring an seiner linken Hand, der mit einem bläulichen Edelstein besetzt war.
Sie standen in dem kleinen Vorgarten vor dem Haus seiner Eltern. Seine Mutter hatte vor kurzem eine Leidenschaft fürs Gärtnern entdeckt und kümmerte sich seitdem um die Zierbüsche, die zwischen dem gepflasterten Gehweg auf einem kleinen Fleck Erde wuchsen. Vermutlich war es das, was ihr half den Tod ihres Mannes zu verarbeiten. Kane hingegen ließ sich nichts anmerken. Seit jener Nacht hatte er kein einziges Wort mehr darüber verloren.
»Können wir drinnen reden?« Ihre Stimme klang leise und vorsichtig, während sie gegen die strahlende Mittagssonne blinzelte.
»Komm rein.«, meinte er und hielt ihr die Tür auf.
Als sie sein Zimmer erreicht hatten, ließ Scarlett sich auf sein Bett fallen.
»Was ist passiert, Scar?«, fragte er wieder.
»Scar?« Sie schmunzelte.
»Wieso nicht?«, fragte er unverhohlen.
»Niemand nennt mich so.« Sie stützte sich auf die Ellbogen, um ihn ansehen zu können.
»Ich schon.«, sagte er und zwinkerte ihr verschmitzt zu.
Er setzte sich neben sie und Scarlett erhob sich aus den Kissen. Zärtlich legte er einen Arm um ihre Taille. In seinen hellen Augen funkelte sein Verlangen. Vorsichtig entfernte sie sich ein Stück von ihm.
»Wir müssen wirklich reden.«
Widerwillig richtete er seine Konzentration wieder auf seine Worte.
»Gut.« Sein Blick huschte einen Moment lang lustvoll über ihren Körper. »Aber später…« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«, setzte sie an. Erst vor kurzem hatte sie ihn ähnlich hoffnungslos angesehen, als sie ihm von den T. S. O. M. erzählt hatte. »Sie…Sie hatten Matt.« Ihr fielen kaum Worte ein, die das, was geschehen war, annähernd beschreiben könnten. »Er hat versucht, Alessandro und mich umzubringen!«
Sein Blick war kurz geschockt, wurde dann aber schnell wieder ruhig. »Bist du dir sicher?«
»Ob ich mir sicher bin?! Natürlich bin ich mir sicher!« Es war verletzend, dass er ihr nicht vertraute.
»Ich wollte dich nicht beschuldigen, in irgendeiner Form zu lügen.«, sagte er beschwichtigend. »Ich wollte nur wissen, ob es keine Zweifel gibt.«
Besänftigend fuhr er mit seinen Fingerspitzen über die nackte Haut an ihrem Hals. Verführerisch zog er kreisende Formen darauf und süße Schauer jagten ihr über den Rücken. Trotz der Lust, die sie verspürte bei seinem Anblick, seinen Berührungen, setzte sie dieses Gespräch fort.
»Ich wollte wissen, ob du mir sagen kannst, wie sowas möglich ist?« Sie fing an zu zittern, als er näher kam und sie seinen warmen Atem über ihre Haut streicheln spürte.
Verheißungsvoll ließ er seine Hand weiter an ihrem Körper hinabgleiten. Sie erkundete sie, wanderte unter ihren Pullover und machte sich an ihrem BH zu schaffen. Normalerweise liebte sie es, wenn er das tat. Langsam und verlockend. Doch jetzt stieß sie seine Hand von sich und rutschte ein Stück von ihm, auf der federnden Matratze, fort.
»Versuch nicht abzulenken.« Ihre Stimme wurde scharf. »Du bist mir eine Antwort schuldig.«
»Du hast ja recht.« Sein schelmisches Zwinkern war nicht zu überbieten. »Aber was meinst du?«
»Wie könnte jemand es schaffen, die Gedanken eines anderen so stark zu kontrollieren?« Ihre Frage war ganz offen, sie hatte selbst keine Idee. »Und dann auch noch über so lange Zeit.«
Zügig erzählte sie ihm, was genau passiert war, und er staunte nicht schlecht, als sie geendet hatte.
»Ich habe absolut keine Ahnung.« Seine Stimme klang leise und nachdenklich.
»Aber…Wir schaffen das schon.« Dem angedeuteten Lächeln auf seinen Lippen gelang es kaum, Scarlett zu beruhigen. »Dir wird nichts passieren. Nie mehr.«, versicherte Kane mit solch einer Sicherheit in der Stimme, dass sie ihm einen Moment lang glauben schenkte.
Doch dann kehrten ihre Gedanken zu T. S. O. M. zurück und sie wusste, dass es nicht vorbei war. Die vielen Toten, das, was Matt widerfahren war… Es war noch nicht vorbei. Ganz sicher nicht.
Bevor diese Gedanken weiter in ihrem Kopf kreisen konnten, kam Kane jedoch auf sie zu und nahm eines ihrer Handgelenke in die Hand und umfasste es mit den Fingern. In seinen Augen lag dieses Leuchten und sie sah die Funken darin sprühen. Nein, keine Funken. Es war Feuer. Heißes, aufflammendes Feuer.
»Ich liebe dich, Scar.« Diese Worte aus seinem Mund gaben ihr den Rest.
Einen Moment lang konnte sie vergessen, was geschehen war. Einen Moment lang konnte sie aufhören, nachzudenken. Einen Moment lang konnte sie glücklich sein.
Als er vorsichtig mit seinen Lippen die Ihren berührte, stürzte sie sich geradezu in den Kuss. Seine Lippen drückten sanft auf ihre. Sie fühlte die Wärme, die er ausstrahlte. Langsam öffnete sie den Mund, um ihn ein zu lassen. Neckend spielte seine Zunge mit der ihren und zugleich legte er eine Hand an ihre Wange und streichelte zärtlich darüber. Seine Finger drückten sanft gegen ihre Haut. Ungehalten fuhr sie mit ihren Fingern durch sein Haar und zerzauste es. Darauf ließ er seine Hand zu ihrem Kinn gleiten, wobei sie den Silberring an seinem Finger, kühl über ihre Haut streichen spürte.
»Dir wird nichts passieren.«, nuschelte er leise zwischen zwei Küssen, wobei seine Worte trotzdem nicht an Eindringlichkeit verloren.
Dann machten seine Finger sich an ihrem Oberteil zu schaffen, womit sie vorhin unterbrochen wurden. Sanft ließ Kane seine Hände unter ihrem Pullover verschwinden. Bei jeder Berührung seiner Finger auf ihrer nackten Haut jagten kleine Blitze durch ihren Körper. Gleichzeitig zog sie ihm das T-Shirt, das er trotz der kalten Jahreszeit trug, über den Kopf.
In diesem Moment klingelte Scarletts Handy. Mit einem Seufzen und eine Entschuldigung murmelnd wandte sie sich von Kane ab und widmete sich dem Anruf.
»Hallo?«
»Scarlett, wo bist du?«, fragte der Anrufer.
»Alessandro?« Sie war überrascht, dass ausgerechnet er sie anrief.
»Ja.«, bestätigte er. »Aber wo bist du? Ich dachte wir holen das Training von letztens nach.«
Nach einem raschen Blick auf die Uhr merkte sie, wie spät es geworden war.
»Müssen wir trainieren?« Mit einem sehnsuchtsvollen Blick bedachte sie Kane. Wie er da saß und sie mit seinen freundlichen, hellen Augen ansah.
»Wenn du nicht sterben möchtest.« Sie sah sein Grinsen geradezu vor sich.
Sie verdrehte die Augen, auch wenn er sie nicht sehen konnte. »Gut, ich bin auf dem Weg.« Mit genervter Miene legte sie auf.
...
Schon von weitem sah Scarlett ihn vor der Tür des Trainingsraumes stehen. Wie immer lehnte er vermeintlich lässig gegen die Wand und überkreuzte die Beine. Sie hatte sich bei Kane entschuldigt und war kurz darauf gegangen. Sie war genervt. Von Alessandro. Wieso konnte er sie nicht einfach in Frieden lassen? Weshalb trainierte er sie, wo er sie doch offensichtlich nicht ausstehen konnte?
»Du bist gekommen.«, sagte er mit wahrhaftiger Überraschung in der Stimme.
»Du wolltest doch, dass ich komme.«, entgegnete sie mit Bitterkeit. Sie hatte sich nur einen schönen Tag - und vielleicht auch eine Nacht - mit Kane gewünscht. Und nun stand sie hier. Mit der Person, die sie hatte vergessen wollen.
Er erwiderte nichts, sondern öffnete nur die Tür und schritt hindurch. Mit einer hochgezogenen Augenbraue folgte sie ihm.
Sie schloss die Tür hinter ihnen und wartete in der Halle, während Alessandro in der Waffenkammer verschwand.
Als er wieder in den Trainingsraum trat, trug er nicht so viele Waffen wie beim letzten Mal bei sich. Nur zwei Khanjar Dolche hielt er in den Händen. Und einen davon schleuderte er in diesem Moment auf Scarlett. Sie war zu perplex, um sich zu ducken. Sie stand einfach nur da, während die metallene Klinge auf sie zuraste - und in ihrer Schulter stecken blieb. Der Schmerz zog durch ihren ganzen Arm, sodass sie sich nicht länger aufrecht halten konnte und auf den Kunststoffboden sank. Bevor sie jedoch auf dem Boden aufkam, war Alessandro zur Stelle. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie er so schnell von der anderen Seite des Raumes nach hier gekommen war. Das einzige, was sie wahrnahm, war der pochende Schmerz in ihrer linken Schulter, in der immer noch der Khanjar hing. Sie spürte, wie Alessandro das Heft des Dolches packte und erst vorsichtig und dann mit voller Kraft daran zog. Der Druck in Scarletts Schulter verschwand, der Schmerz wurde jedoch nur schlimmer.
»Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«, flüsterte Alessandro vor sich hin.
Seine Augen leuchteten golden auf, heller als sie es in Erinnerung hatte. Mit der Zeit ebbte der Schmerz ab, bis er schließlich ganz versiegte. Behutsam strich er über ihren Arm und blickte sie mit einem Funkeln in den Augen an.
Bevor sie allerdings etwas sagen konnte, verschwand das Funkeln und die Kälte kehrte in seinen Blick zurück.
»Wieso hast du ihn nicht gefangen?« Verständnislos und verachtend klangen seine Worte.
Sie antwortete nicht, denn wie naiv diese Frage auch war, sie hatte keine Erwiderung darauf. Er hatte recht, mit seiner Verständnislosigkeit, sie wusste ja selbst nicht, weshalb sie nichts unternommen hatte.
Er seufzte. »Lass uns trainieren.«
Er säuberte die mit Blut besudelte Klinge mit einem Stofftuch und reichte sie ihr. Ohne etwas zu sagen fasste sie das Heft.
Sie wusste, dass er angreifen wollte, doch da machte sie ihm einen Strich durch die Rechnung. So schnell sie konnte, lief sie auf ihn zu, um ihm die Klinge ins Fleisch zu rammen. Doch Alessandro wich ihr mit beachtlicher Mühelosigkeit aus.
»Du musst schneller sein!«, rief er ihr mit einem frechen Grinsen auf den Lippen zu.
»Nein, muss ich nicht.«, meinte sie. Denn während Alessandro damit beschäftigt war, sie seine Überlegenheit spüren zu lassen, schlich sie sich von hinten an ihn heran und drückte ihm das kalte Metall ihrer Waffe gegen den Hals. »Gibst du auf?«, fragte sie mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Um ihren Worten etwas Nachdruck zu verleihen, übte sie etwas Druck auf ihre Klinge aus. Während seine Haut riss, packte er pfeilschnell ihren Khanjar. Mit roher Gewalt entriss er ihr den Dolch. Jedoch entfernte er die Klinge nicht von der Wunde an seinem Hals und ließ sein Kairé aufleuchten. Im Bruchteil einer Sekunde erschien ein Portal vor ihm. Und bevor sie auch nur noch einen Laut von sich geben konnte, war Alessandro verschwunden. Völlig irritiert starrte sie an den Fleck der Halle, an dem eben noch Alessandro gewesen war. Nach einiger Zeit warten wurde Scarlett ungeduldig. Würde er wieder kommen?
Nein. Erkannte sie, nachdem eine weitere Viertelstunde verstrichen war. Mit verschränkten Armen starrte sie wütend in die Luft, als würde er dort immer noch stehen.
»Vielen Dank auch!«, sagte sie mit finsterer Miene in die Leere.
Dann verließ sie den Raum, ohne auch nur noch einen Blick zurückzuwerfen.
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