Ich biss mir seitlich auf die Unterlippe und starrte ihn dann grinsend an. Sein Blick wirkte verlegen, aber er grinste zurück. Ich stand ganz hinten im Raum, neben einigen Tischen, also begrüßte er zuerst die anderen Mädchen. Er konnte doch nicht einfach geradewegs auf mich zulaufen. Dann wäre sofort aufgefallen, dass wir uns kannten.
Immer wieder trafen sich unsere Blicke während jedes der Mädels, jeden der Jungs einmal geknuddelt hatte. Auch ich begrüßte die anderen vier.
»Was machst du denn hier?«, fragte mich Liam leise, damit es keiner verstehen konnte.
»Eigentlich arbeiten«, sagte ich, mit einer Schulter zuckend. »Ich hatte keine Ahnung, dass ihr hier seid. Lucas hat mich hier her geschleppt.«
Auch Zayn und Louis drückten mich kurz und begrüßten mich, wurden dann aber ganz schnell von den anderen Mädchen wieder in Beschlag genommen.
Niall kam zu mir her, auch er drückte mich jetzt an sich. Nach unserem Zusammenprall hatten wir uns irgendwie gar nicht mehr richtig begrüßt. »So bescheuert wie vorhin, hat Harry schon lange nicht mehr ausgesehen«, teilte mir Niall mit und ging dann auch zu einem anderen Mädchen und posierte für mehrere Selfies mit ihr.
Dann stand Harry vor mir.
»Hi«, sagte ich und lächelte ihn an.
»Hi« sagte er und griff nach meiner Hand. Ich war irritiert. Vor all den Leuten?
Er schob meinen Ärmel einfach etwas nach oben und kritzelte mit einem dünnen Edding etwas auf meinen Unterarm. »Geht es dir gut?«, fragte er währenddessen. Louis und eines der Mädchen standen gerade nicht weit von uns.
Ich nickte. Es war alles nur ein Ablenkungsmanöver für die anderen. Ein netter Smalltalk-Versuch. Kaum hatte er fertig geschrieben, las ich: Ich würde dich gerne küssen. Daneben hatte er ein kleines Herzchen gemalt.
Wir sahen uns gegenseitig auf unsere Lippen und Harry berührte mich immer noch an meinem Handgelenk. Er biss sich sanft auf seine Unterlippe, ich war gezwungen und leckte über meine eigene. Es waren irrsinnige Qualen und tausend Tode, die wir hier gerade gemeinsam starben. Wir konnten uns nicht einfach um den Hals fallen, so wie jedes andere normale Paar auch.
Ich strich meinen Ärmel wieder über mein Handgelenk, damit sein Wunsch vor den anderen verborgen blieb. Kurz darauf schlang er unerwartet einen Arm um meine Schultern und zog mich einfach an sich heran.
Wir umarmten uns. Warum auch nicht, die anderen durften ihn schließlich auch umarmen. Mein ganzer Körper kribbelte. Er fühlte sich unbeschreiblich gut an und er roch noch besser als ich es in Erinnerung hatte. Viel besser als mein Joshi mit seinem T-Shirt je gerochen hatte. Ich versuchte es mir erneut einzuprägen und atmete tief ein. Harry war hier... er war da und hatte mich im Arm.
»Ich hab dich so vermisst«, flüsterte er mir heimlich ins Ohr und gab mir einen flüchtigen Kuss seitlich auf mein Haar. So, dass es keiner merkte. Harry hielt mich ganz feste, drückte mich an sich. »Das mit dem Küssen holen wir später nach«, raunte er mir ganz leise ins Ohr und vergrub sein Gesicht dabei in meinen Haaren.
Unsere Umarmung fiel recht kurz aus. Es hatte sich wirklich gut angefühlt, wenn auch etwas fremd. Wir hatten uns über eine Woche nicht gesehen und waren uns nicht mehr so vertraut, trotz Skype. Aber das hier war etwas anderes. Das hier war real. Außerdem mussten wir uns zurückhalten. Wir waren hier nicht alleine, so sehr ich es mir auch wünschte. Die anderen Mädchen waren mit den restlichen vier Jungs beschäftigt, ließen sich Schuhe und T-Shirts signieren und schossen Selfies mit ihren Idolen. Alles war ein wenig unromantisch, aber was konnte ich hier schon groß erwarten. Immerhin konnte ich ihn sehen.
»Du bist wirklich berühmt Harry«, sagte ich leise, und war etwas überwältigt davon, wie die ganzen Mädchen draußen auf ihn reagiert hatten. Leichte Ehrfurcht plagte mich und ich traute mich tatsächlich nicht so richtig, ihn zu berühren. Ich war tatsächlich schüchtern. Vielleicht auch wegen den andern. Auch wenn die sich allesamt mehr trauten als ich. Es war eine vollkommen merkwürdige Situation, begleitet von unterschiedlichen Gefühlen, die ich noch nie hatte.
»Ist es das, was ich für dich bin? Berühmt?«, flüsterte er fast. »Ich dachte du kennst mich mittlerweile besser. Oder anders.«
Ich war irritiert und wusste nicht wie er das gemeint hatte. Aber irgendwie nahm ich an, dass es ihm nicht passte, dass ich ihn schon wieder »berühmt« nannte. Für mich wollte er wohl nicht berühmt sein. Vielleicht war ihm das Wort auch einfach nur zu oberflächlich, denn Harry war wirklich mehr, als nur "berühmt".
Wie auch immer... Er fragte mich dann nach meinem Handy, drückte mir ein Kuss auf die Wange und schoss ein Bild von uns.
»Wir sollten uns unauffällig verhalten und ein paar Bilder für unser späteres Familienalbum machen«, meinte er nach dem nächsten Bild. Seine süßen Grübchen waren sofort wieder sichtbar.
Ich lächelte für das dritte Bild. »Kümmere dich lieber mal um deine Fans. Wir haben bestimmt später noch Zeit«, sagte ich und nahm ihm dann mein Handy aus der Hand.
»Aber du musst hier arbeiten, oder?«, fragte er geknickt.
»Jein. Eigentlich ha- «
Ich kam nicht mehr dazu mein Satz zu beenden, da ein Fan neben uns aufgetaucht war und Harry nach einem Selfie fragte. Sie war die Jüngste im Raum. Vielleicht gerade mal acht oder neun, und Harry war total süß zu ihr. Er beugte sich zu ihr runter, sie durfte einige Fotos schießen und er ließ sich knuddeln, redete mit ihr und signierte schließlich ein Bild, das sie von ihm Gemalt hatte.
Von den beiden abgewandt, knipste ich auch noch Fotos mit den anderen. Damit man mich wirklich für einen normalen Fan halten konnte. Aber ich ließ meinen Nebenbuhlerinnen dann den Vortritt, schließlich war dies höchstwahrscheinlich deren einzige Möglichkeit, den Jungs so nahe zu sein und wahrscheinlich hatten sie, oder deren Eltern, sehr viel dafür bezahlt, was aber alles in die Spendenkasse wanderte.
Zum Schluss gab es dann noch mal ein paar Umarmungen. Auch Harry und ich verabschiedeten uns auf diese Art. »Geh alleine und zuletzt hier raus«, flüsterte mir Harry dabei zu und die Jungs verschwanden aus dem Raum. Erst danach gingen wir Mädels.
In Begleitung mit einigen Sicherheitsleuten liefen wir aus dem Zimmer. Auch dieser Arne Pohl war mit von der Partie.
Ein Mädchen schwärmte immer noch total von diesem Treffen und verwickelte mich in ein Gespräch, sodass es mir unmöglich war das Schlusslicht zu bilden, so wie Harry es wollte.
»Wie kannst du so ruhig bleiben?«, fragte sie mich erstaunt.
»Das sieht nur so aus, schau.« Zur Demonstration hielt ich meine zitternde Hand vor mich hin. Und ich war wirklich am Zittern und alles andere als ruhig und relaxt.
»Voll lustig«, fing sie erneut an. »Als dich Harry umarmt hat, hat es so ausgesehen, als ob du gar nicht willst, oder dich nicht traust. Du hast voll komisch geguckt, und er drückt dich einfach an sich, das war so süß.« Sie lachte. »Also ich bin ihm ja sofort um den Hals gefallen«, quasselte sie weiter. Aber das brauchte sie mir nicht zu erzählen, das hatte ich gesehen. Unbeabsichtigt räusperte ich mich ein wenig.
Und ich grübelte nun, wie ich mich von allen hier absetzen konnte, ohne dass es auffiel. Diesen Arne-Obersicherheitsfachmann konnte ich nicht fragen, der war schon wieder am Telefonieren. Der hatte die ganze Zeit ein Bluetooth-Headset im Ohr hängen und brabbelte immer wieder mit irgendjemandem. Ganz leise... Ich verstand ihn nicht. Vielleicht komische Sachen mit seiner Frau, aber so genau wollte ich es auch gar nicht wissen.
»Oh Mist, ich hab meine Tasche in dem Raum vergessen!«, rief ich in den Gang hinein und blieb abrupt stehen. Woraufhin mich dieser Arne-Bodyguard zur Seite nahm und mit mir zurück lief. Den anderen Sicherheitskräften gab er vorher zu verstehen, einfach weiter zu laufen. Auch dem Mädchen, das auf mich warten wollte; sie durfte es nicht.
Wir liefen den Gang zurück. ‚Puhh, geschafft. Und was passiert jetzt?‛, fragte ich mich natürlich.
Ich hatte mit Harry keine weiteren Absprachen treffen können, weil ständig jemand neben uns war. Und jetzt hatte ich geflunkert und diesen Arne beim Telefonieren gestört. Sollte ich es ihm besser sagen, bevor wir wieder in dem Raum waren? Oder sollte ich dann einfach behaupten, dass sie wohl jemand geklaut haben musste?
Was genau wusste er von Harry und mir? War er auf meiner Seite? Konnte ich mit ihm über alles reden? Oder wartete Harry irgendwo um die Ecke auf mich? Ich wusste einfach nicht was tun. Aber es kam mir fast schon so vor, als ob dieser Arne ein guter Freund von mir war. Seit ich ihn heute das erste Mal gesehen hatte, hing er mir ständig am Hintern. Außer für die paar Minuten, die ich bei Harry auf der kleinen Bühne war.
»Ich, ähm, hatte gar keine Tasche dabei«, traute ich mich nun kleinlaut zu sagen.
»Ich weiß. Wir gehen auch nicht in den Raum zurück«, sagte er. »Deine Aktion eben hat es mir auch einfacher gemacht dich von der Gruppe weg zu bekommen, ohne dass jemand Verdacht schöpft. Aber in Zukunft bitte keine Alleingänge mehr.«
»Ohh, ok«, erwiderte ich darauf und zog meine Brauen leicht zusammen. »Keine Alleingänge...«, er klang so ernst.
»Hat dich die ganze Zeit über, auch als du zu Hause warst, irgendjemand auf das Foto angesprochen, dass von dir und Harry in Berlin entstanden ist und danach in der Klatschpresse war?«, wollte er plötzlich wissen.
‚Wie kommt er denn jetzt DA drauf und warum will er das wissen?‛ »Ehh, nein, wieso?«
»Gut. Dann hat dich bis jetzt wohl keiner erkannt. Du und Harry in einem Raum, nach dieser Schlagzeile... Wir wussten nicht was passieren würde.«
Es war nicht nötig, dass er weitersprach. Er war nicht nur an meiner Seite, damit ich mich nicht so einsam fühlte. Er war gerade tatsächlich mein persönlicher Wachhund und folgte mir unauffällig auf Schritt und Tritt. So, dass es keiner mitbekam. Jetzt war mir auch klar, warum ich nicht, mitten in der Masse, mit allen anderen Fans anstehen sollte. Was, wenn mich jemand erkannt hätte und vor Eifersucht auf mich losgegangen wäre? Er hätte mich da so schnell nicht raus holen können. Und ich hatte eben gesehen, wie viel die Jungs von One Direction ihren Fans bedeuteten. Hysterisches Kreischen, Weinkrämpfe, Mädchen, die der Ohnmacht nahe waren. Alles war dabei und alles nur weil sie meinen Freund und seine Kollegen sahen. Und Gott weiß, wozu eifersüchtige Frauen fähig gewesen wären. Wahrscheinlich hätten sie mich bei lebendigem Leibe zerfleischt. Für mich war das alles immer noch so unwirklich. Harry war tatsächlich berühmt und ich seine Freundin. Doch mein Kopf wollte sich jetzt nicht damit auseinandersetzen.
»Nein, ich glaube mich hat keiner erkannt. Wo gehen wir eigentlich hin?«, lenkte ich mich ab.
»Zur Bühne. Die Jungs haben heute einen straffen Zeitplan. Gleich ist Soundcheck.«
Und wie ich erfahren hatte, war die Bühne in der Halle direkt neben an. Es waren dennoch einige lange Gänge bis wir schließlich vor einer größeren, schweren Türe standen. Mein Begleiter öffnete diese und kurz darauf standen wir inmitten einer großen Halle. Nicht soooo groß... Wesentlich kleiner als das Hauptgebäude, in dem sich die Messestände befanden, aber größer als der Raum von der Autogrammstunde. Kein kleiner Saal in dem eine Schülerband auftreten würde, aber bei weitem auch kein Stadion.
Harry entdeckte ich auf der Bühne. Sie hatten mit dem Soundcheck bereits angefangen. Er saß, mit dem Rücken zu mir gewandt, auf einer kleinen Erhöhung, eine Kiste oder so was ähnliches, und fummelte sich am Ohr rum. Zayn sprach gerade in sein Mikro, es kam aber kein Ton aus den Boxen. Niall und Liam sprachen mit jemandem am Bühnenrand. Louis war dieses Mal der erste, der mich entdeckt hatte und Harry auf mich aufmerksam machte. In Windeseile drehte Harry den Kopf und seinen halben Oberkörper zu mir. Seine Grübchen erschienen und er winkte mir zu. Dann dröhnte Musik, die mir völlig fremd war, aus den Boxen. Jeder sang einen kurzen Part. Ich bekam Gänsehaut als Harry sang. Ich hatte keine Ahnung was das für ein Lied war, aber es war unglaublich schön. Es war das erste Mal, dass ich ihm dabei zusehen konnte, wie er auf einer Bühne stand, besser gesagt saß, und sang. Mein Herz klopfte wie wild. Er sah wirklich umwerfend, mit dem Mikro in der Hand, aus. Es gefiel mir. Harry nickte und schon verstummte die Musik. Etwas anderes ertönte jetzt aus den Boxen. Die Band spielte live. Nichts kam vom Band. Liam sang nochmal. Er zeigte auf sein Ohr und schüttelte mit seinem Kopf. Kurz darauf ging sein Daumen nach oben. Und dann gab es noch einige andere Probleme.
»Ok, kurze Unterbrechung, es liegt wohl am Kabel«, rief jemand. Harry sprang sofort von der Bühne und kam zu mir her gerannt, aber er hielt Abstand.
»Hi«, hauchte er und küsste mich nur freundschaftlich auf die Wangen.
»Ähm, hi Harry?«, begrüßte ich ihn und war überrascht über seine Distanz, die er wahrte.
»Sorry, aber wie du siehst, sind wir sind hier nicht alleine«, erklärte er die Situation.
Ich hatte gehofft, ihn hier, in die Arme schließen zu können, aber offenbar waren einige Leute hier, denen Harry nichts von unserer Beziehung gesagt hatte, oder sagen wollte. Ich nickte verständnisvoll und sah im Augenwinkel, wie dieser Arne Pohl zu Paul watschelte.
»Was war das eben für ein Lied, das du gesungen hast?«, fragte ich Harry.
Er grinste. »You and I.«
»Das von eurem Videodreh?«
Ich lächelte als er nickte.
»Kannst du dir später eigentlich unseren Auftritt ansehen? Niall sagt, du musst arbeiten?«
»Ich dachte nur, dass ich arbeiten muss, aber ich werde mir euren Auftritt natürlich anschauen. Das ist schon alles mit Lucas besprochen.«
Er nickte glücklich. »Dann wird das heute also dein erstes, kleines One Direction Konzert.« Seine Lippen, die ich gerade zu gerne küssen würde, verformten sich zu einem stolzen Lächeln.
»Du hast mich vorhin echt geschockt, als du mir gesagt hast, dass wir uns heute Abend nicht sehen werden«, sagte er. »Und noch mehr, als du dann plötzlich einfach vor mir gestanden bist. Aber warum nennst du mich Arsch?«, wollte er wissen.
»Weil du einer bist«, sagte ich kühl und meinte das auch so.
»Warum??« Seinem Blick nach, konnte er meine Meinung tatsächlich nicht nachvollziehen.
»Wusstest du nicht schon in Berlin, dass wir uns heute wieder sehen werden?«
Mit gesenktem Kopf schielte er mich verlegen an. Wie ein kleiner Junge der etwas ausgefressen hatte. »Ja«, gab er zu, »als du mir gesagt hast wo du wohnst. Was glaubst du, warum ich mich da so gefreut hab. Ich wusste bereits von diesem Event und auch von den Terminen die wir nächste Woche in Stuttgart haben. Bis auf dieses Event hier, war aber alles noch so unsicher. Ich wollte dir also keine falschen Hoffnung machen und hab erstmal nichts gesagt.«
»Aber irgendwann wusstest du es sicher, oder?«
Er nickte natürlich, und ich wusste nicht, ob ich eher wütend oder traurig war. Aber dann quollen mir einfach die Tränen aus den Augen. Alle Sehnsucht, die ganze Anspannung platze einfach aus mir heraus. »Harry, ich hatte so scheiß verdammte Sehnsucht nach dir.«
Ich heulte nun richtig und zeigte ihm meinen ganzen Schmerz, den ich vor Sehnsucht gespürt hatte. Den ganzen Schmerz, der sich angesammelt hatte, weil er nicht bei mir war. Ich fühlte mich wie die letzte Heulsuse und mir war es noch nicht mal peinlich.
Er zögerte nicht, und nahm mich jetzt, trotz neugieriger Blicke, in den Arm. Er drückte mich ganz feste an sich heran und wuschelte mir mit seinen Händen tröstend durch die Haare. Ich umklammerte ihn, als ob es jetzt nur noch uns beide gab und ließ seine heilende Wärme auf mich wirken.
»Ich weiß Angel. Mir ging es doch nicht besser. Und dein Bruder hat mir gestern gesagt, wie schlecht es dir wirklich ging. Er sollte dir verraten, dass ich dich heute besuchen komme, wenn er das Gefühl gehabt hätte, dass es dir zu schlecht geht. Er kennt dich immerhin besser als ich.«
Ich riss mich von Harry los und funkelte ihn fassungslos an.
»Wasss?!! Dieser... Auch-Arsch wusste Bescheid? Den ganzen Abend lang??? Das war es, was ihr mir nicht verraten habt? Ich sollte euch beide Ohrfeigen!«
»Wenn, dann schlag mich, und nicht deinen Bruder. Er kann doch nichts dafür.«
Seine Worte klangen beruhigend, aber ich war total aufgewühlt und wusste nicht was ich denken oder fühlen sollte. Wut, Trauer, Freude. Irgendetwas davon war zu viel in mir und wollte raus. Total aufgelöst hob ich meine Hände, und noch bevor meine Fäuste vor Verzweiflung auf Harrys Brust prallten, fing er den - sowieso nicht allzu kraftvollen - Schlag mit seinen Händen ab. Er umgriff nun meine beiden Handgelenke und zog sie langsam an seinen Körper heran. Sanft schob er dabei seine Daumen zwischen meine Finger, entfaltete meine Fäuste und legte meine flachen Hände, mit seinen zusammen, auf seine Brust. Da wo sie sowieso hin wollten, nur etwas sanfter, und von ihm gesteuert. Wie im Hotel, spürte ich sein aufgeregtes Herz.
»Aber...«, sagte er »viel schöner wäre es natürlich, wenn du mich später einfach küssen würdest, wenn es keiner sieht.«
Sein Blick besänftigte mich, aber seine Berührung machte mich gerade wahnsinnig. Ich wollte ihn küssen. Ich war sauer, aber ich liebte ihn. Ich wollte ihn wirklich küssen. Nicht später, sondern jetzt.
Wieder sahen wir uns beide auf die Lippen und wussten, dass dies hier nicht möglich war. Keine Küsse und keine Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit; so war es abgemacht. Dennoch zog er mich wieder eng an sich heran.
»Harry, wir sind nicht alleine«, versuchte ich ihn zu erinnern.
»Das ist mir egal. Ich werde mir jetzt nicht tatenlos mit ansehen, wie meine Freundin leidet. Ich möchte wenigstens jetzt für dich da sein, wenn es dir nicht gut geht. Und außerdem tröste ich doch nur eine gute Freundin, die hier gerade etwas ausflippt.« Er schmunzelte.
»Ach das bin ich für dich?«, sagte ich mit einem leisen Lächeln und löste mich etwas von ihm, damit ich ihn ansehen konnte.
»Duuu wolltest das so.« Er schaute mich mit großen Augen an. »Iiiich habe kein Problem damit, dich hier und jetzt zu küssen. Sag mir, wenn du bereit dazu bist und ich tue es.«
Für einen Moment schauten wir uns tief in die Augen und ich hätte seine Lippen nur zu gerne auf meinen gespürt.
Doch dann schniefte ich meine letzten Tränen weg und versuchte die Lage abzuchecken. »Wer sind denn die ganzen Leute hier überhaupt?«
»Keine Ahnung«, sagte er schulterzuckend. »Die meisten gehören zu unserer Crew, den Rest kenne ich nicht, deshalb sollten wir aufpassen... Das da drüben«, er zeigte auf einen Jungen, der am Bühnenrand saß, »ist übrigen Josh Devine, unser Drummer.«
Ich schaute ihn mir eine Weile an. Wahrscheinlich einen Augenblick zu lange, denn er winkte mir zu. Ich grüßte winkend zurück und meinte dann: »Er ist bestimmt nicht so weich und kuschelig wie mein Joshi.«
»Ich hoffe, du wirst keinen Vergleich starten«, lachte Harry.
»Nein... Nur wenn er nach dir riecht und deine T-Shirts trägt, so wie mein Joshi-Bär«, grinste ich.
»Heeeyy«, beschwerte sich Harry mit sanfter, leiser Stimme und kniff mir liebevoll in die Seite. »Dann werde ich Josh persönlich wieder ausziehen und unter die Dusche stellen, wenn er das irgendwann tun sollte.«
»Zieh doch lieber mich aus, Harry«, sagte ich mit einem leichten Augenzwinkern.
Harry schmunzelte vor sich hin: »Okaay... Nicht schüchtern, wenn du vor mir stehst.« Seine Worte klangen eher wie eine Notiz an sich selbst, und er spielte damit wohl auf unser erstes längeres Telefonat an.
»Warum habe ich eigentlich plötzlich das unanständige Gefühl, dass du gar nicht so schüchtern und unentspannt bist wie ich zuerst dachte? Habe ich dich wirklich so falsch eingeschätzt, oder traust du dich das alles nur am Telefon... Und wenn ich dann vor dir stehe, bist du total verklemmt und hältst dir wieder die Hand vor Augen?«, hatte er gesagt.
Ich schüttelte meinen Kopf. »Nein... nicht schüchtern«, wiederholte ich leise und es knisterte zwischen uns, während wir unsere Blicke nicht voneinander lösen konnten. Wir waren wohl beide in Gedanken, was passieren würde, wenn er mich ausziehen würde.
»Ok. Wo du heute bist, weiß ich ja jetzt, aber wann fährst du heute Abend nach Hause? Du hast geschrieben, es wird spät«, äußerte er sich auf einmal und holte mich damit aus meinen Träumereien heraus.
»Da sich der Tag etwas anders entwickelt hat, als geplant... Ich hab keine Ahnung Harry. Ich werde wohl nicht mehr arbeiten, aber Lucas. Und er ist bei mir mitgefahren, also muss ich zuerst mit ihm reden.«
»Ihr seid mit deinem Auto hier?«
»Ja warum?«
»Ahm.« Harry schaute mich wie ein schüchterner Junge an und zupfte sich verlegen an seiner Unterlippe. Er schien kurz überlegt zu haben. »Also vorausgesetzt, du willst überhaupt, dass ich mit zu dir nach Hause komme, kann ich dann bei dir mitfahren?«
»Harry ich...« Mir fehlten die Worte. Die Frage hatte mich überrascht.
Er hatte mein plötzliches Schweigen falsch ausgelegt. »Kein Problem. Ich kann auch ins Hotel und mit den anderen Jungs mit. Ich dachte nur, da- «
»Harry«
»...wir denselben Weg- «
»Harry«, unterbrach ich ihn erneut. »Ich würde mich freuen, wenn du bei mir mitfährst. Und noch mehr, wenn du bei mir übernachtest.«
Ich freute mich wirklich, dass er auf diese Idee kam und bei mir mitfahren wollte. So hatten wir mindestens drei Stunden mehr Zeit für uns.
Er schenkte mir ein erleichtertes Lächeln und es war eigentlich offensichtlich, dass wir uns nun total verliebt anschauten. Ich hoffte im Nachhinein, dass dies keiner bemerkt hatte.
Immer wieder spielte Musik und manchmal sang auch jemand. Das Ersatzkabel war eigentlich schnell ausgetauscht, aber wie ich am Rande mitbekommen hatte lag es wohl doch an etwas anderem und alles zog sich in die Länge. Gut für mich und Harry, aber nun war der Soundcheck wieder voll im Gange.
»Bevor dich Niall noch ein drittes Mal ruft, solltest du vielleicht zu den anderen Harry.«
»Ja sollte ich. Aber du bewegst dich hier nicht von der Stelle, hörst du?«
»Doch Harry. Du bist jetzt sowieso beschäftigt. Ich werde kurz zu Lucas gehen und mit ihm reden. Und vielleicht brauchen meine Kollegen auch Hilfe, aber ich denke eigentlich eher nicht.«
Er schaute mich schief an. »Angel, du Arbeitest zu viel. Außerdem brauchen wir gar nicht mehr so lange. Es sei denn, es geht noch mal was kaputt.«
»Dann schreib mir einfach, wenn ihr fertig seid.«
»Ok, aber nimm den hier mit«, sagte Harry und zeigte auf meinen selbsternannten Wachwauzi. Diesen Arne-Bodyguard, der gerade an uns vorbei gelaufen war und nun "bei Fuß" machen musste.
Ich verdrehte meine Augen. »Harry ich brauch keinen Babysitter.«
»Ich fühle mich wohler, wenn er bei dir ist. Und wenn es nur ist, damit du dich hier nicht verläufst und wieder zu mir findest.«
»Seh ich so hilflos und verpeilt aus?«, beschwerte ich mich gespielt entrüstet.
Harrys Blick war bettelnd.
Ich atmete tief ein und mit einem Seufzen wieder aus. »Jaaa, okay, wenn es dich glücklich macht.«
Und schon erschien sein linkes Grübchen wieder. Ich fragte mich, ob er eigentlich immer seinen Willen bekam.
Er schaute mir noch einmal hinterher, als er auf die Bühne stieg und ich zum Ausgang lief.
In der anderen Halle war schon richtig viel los. Der Andrang an unserem Stand war nicht gerade gering, sodass ich gar nicht lange fragen musste, ob meine Hilfe hier gebraucht wurde. Ich schmiss mich einfach in die Arbeit.
Mittlerweile war es schon nach Mittag und mein Handy machte brummend auf sich aufmerksam.
Harry: [Wo bist du? Hast du schon was gegessen?]
Hieß das jetzt, dass sie wirklich schon fertig waren mit ihrem Soundcheck? Ich hatte keine Ahnung und eigentlich auch keine Zeit.
Angelina: [Am Stand, arbeiten. Mein Magen knurrt. Ich bin noch nicht dazu gekommen mir was zu holen.]
Ich steckte mir gerade noch mein Telefon in die Hosentasche zurück, da wurde ich schon von der nächsten Interessentin angesprochen. Da mein Handy ohnehin nicht mehr vibrierte, ließ ich mir bei dem Gespräch Zeit.
Harry meldete sich nicht mehr und ich ging einfach meiner Arbeit nach.
Mit Werbematerial ausgestattet und gut informiert verließ die Frau nun unseren Messestand. Es war kurzfristig etwas ruhiger und ich hatte Gelegenheit, etwas mit einer Kollegin zu plaudern. Statt dass wir uns lieber was zum Essen holten, erzählte sie mir gerade von ihrem geplanten Urlaub, als ihre Gesichtszüge eine ganz eigenartige Form annahmen.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich sie. Ich schob meinen Kopf etwas nach links und wieder nach rechts. Begutachtete sie von allen Seiten, winkte langsam vor ihrem Gesicht, aber sie starrte durch mich hindurch.
»Kati, alles ok bei dir?«
»Oh mein Gott, meine Tochter würde mich lynchen, wenn sie das wüsste.«
Ich verstand nichts. So ganz und gar nichts.
»Deine Tochter? Die, die dieses Jahr in die zehnte Klasse kommt?«
»Ich hab nur eine Tochter Angie.«
Kati war eine der wenigen, die mich Angie nannte. Meine Brüder machten das ab und zu um mich zu ärgern. Ich hasste es.
»Warum? Wo ist dein Problem? Sie ist doch nicht hier.«
»Ja eben«, sagte sie nun, »sie wird mich umbringen, wenn sie erfährt, dass ich sie gesehen hab.«
»Wovon redest du Kati?«, hakte ich nach.
»Da drüben sind Niall Horan und Harry Styles.«
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