149. Sterbliches Leben
-Harrys Sicht-
»... Das Rettungsteam konnte aufgrund mehrerer Brandherde und der enormen Rauchentwicklung noch nicht zu der Unfallstelle vordringen. Nach Angaben der Rettungsdienste, bestünde Explosionsgefahr. Die nachfolgenden Züge konnten unbeschadet umkehren und wurden mittlerweile in der französischen Ortschaft Coquelle, nähe Calais, in Empfang genommen. Derzeit gibt es noch keinerlei Anhaltspunkte über den Unfallhergang. Wir werden Sie über die Geschehnisse vor Ort auf dem Laufenden halten. Bei dem betroffenen Shuttle, handelt es sich um die Fahrt...«
Die Stimme des Moderators wurde in meinem Kopf immer leiser. Wie in Watte gehüllt, nahm ich sie nur noch wahr. Doch die Nachricht überrollte meine Vorfreude auf Angelina wie eine zerstörende Dampfwalze.
»Angelina ist bestimmt schon lange in London«, hörte ich Ed sagen. Ich schaute auf meine Uhr und schüttelte den Kopf. »Oder der Unfall war sowieso in der Gegenrichtung. Die Tunnel sind doch voneinander getrennt«, versuchte er mir weiter Mut zu machen, dass ihr nichts passiert sei.
»Hast du eben nicht zugehört?! Die nachfolgenden Züge konnten umkehren und sind jetzt wieder in Frankreich!«, fasste ich für ihn zusammen. »Ed, es kann nur diese Richtung sein. Und das war genau ihre Zugverbindung!!«, teilte ich den beiden schreiend mit. Hier gab es keine Missverständnisse und sie brauchten auch gar nicht versuchen mir etwas anderes einzureden. Angelina hatte mir ihre Verbindung erst gestern noch mal mitgeteilt. Daran gab es keine Zweifel: Es war ihr Zug. Keiner früher. Keiner später. Und keiner in die andere Richtung.
Mein Inneres erschien plötzlich wie ausgestorben. Es war nur noch eine Hülle übrig. Ich konnte mich weder bewegen, noch einen klaren Gedanken fassen. Ich war leer, dennoch war mein Kopf voll mit schmerzhaften Vorstellungen.
»Halt an«, sagte ich, mehr als ruhig, zu Eds Kumpel und verfiel dann in eine emotionslose Starre.
Minutenlang...
-Neutrale Sicht-
Raum und Zeit verschworen sich in diesem Moment gegen Harry. Qualvolle Sekunden voller Stillschweigen vergingen. Gedanken, die keiner haben wollte, krochen empor. Wie gelähmt schien die Atmosphäre im Auto zu sein. Bis auf das Dudeln des Radios fiel kein einziges Wort.
Eds Kumpel steuerte sein Auto hinaus aus der belebten Innenstadt. Der Klang einer Hupe; hektische Autofahrer, die im letzten Moment noch waghalsig die Spur wechseln wollten; Menschen, die nicht abwarten konnten, bis die Fußgängerampel auf grün umschaltete; keiner hatte mitbekommen, was soeben auf dem Weg ins 100 Kilometer entfernten Folkstone geschehen war. Während im Südosten Großbritanniens die Menschen ums Überleben kämpften, ging das lebendige Treiben auf den Straßen Londons einfach weiter als wäre nichts gewesen. Zu unbedeutend war es für die Welt, wenn ein paar Menschen starben, doch das Schicksal, dies wollte es manchmal einfach so. Zu oft hatte man schon versucht es auszutricksen oder gar zu manipulieren. Wem dies gelang war ein Künstler.
Die drei jungen Männer hatte die Stadt inzwischen hinter sich gelassen. Doch wegrennen, von dem was geschehen war, das konnten sie vergessen. Offensichtlich folgte ihnen das Schicksal auf Schritt und Tritt. Wie ferngesteuert versuchte Harry immer wieder seine Freundin zu erreichen. Es war Zwecklos, doch das wusste er nicht. Immer wieder wählte er ihre Nummer, presste sich das Telefon ans Ohr und versuchte es mit der Lautsprecherfunktion, doch das Klingeln lief jedes Mal ins Leere. Mal laut, mal leise.
Der Wagen rollte nur noch, als erneut eine Meldung zu dem Unfall aus dem Radio ertönte. »...Nach Angaben eines Sachverständigen, konnten bislang keine technischen Mängel im Stellwerk festgestellt werden. Die Unfallursache ist weiterhin unbekannt. Das Unglück soll sich kurz vor dem britischen Folkstone ereignet haben. Mehrere Rettungsmannschaften sind dabei, die eingesperrten Passagiere über den Servicetunnel zu evakuieren. Zur aktuellen Stunde gibt es aber noch keine Information über das tatsächliche Ausmaß des Unglücks. Betroffen ist nur der Haupttunnel von Frankreich Richtung England, doch auch die Röhre in die Gegenrichtung, wurde aus Sicherheitsgründen gesperrt. Sollten Sie Tickets gebucht haben, können Sie sich üb- «
»NEINNNNNN!!!!!!«, schallte es kraftvoll durch den Wagen. Harry schrie voller Verzweiflung und bekam kaum noch Luft. Das Internet hatte er sich zu Nutze gemacht, um an weitere Informationen zu gelangen. Ohnmachtsnahe ließ er sein Handy auf die Oberschenkel sinken. Was der Nachrichtensprecher im Radio verschwiegen hatte, war das Gerede einiger Passanten. Sie waren sich sicher, mehrere Explosionen gehört zu haben. Alle überlebend zu bergen, war praktisch aussichtslos.
»Harry..! Harry!«, versuchte Eds Kumpel ihn zu beruhigen. Er hatte sich zu ihm gebeugt und versuchte Harrys Blicke auf sich zu lenken. Aber Harry wollte ihn jetzt nicht anschauen. Sein Körper zitterte und bebte, durchzogen von krampfartigen Heulanfällen. Und er war nicht zu bremsen, als er fluchtartig aus dem Auto hechtete, um Kopflos durch die Straßen, Richtung Park zu rennen. Doch diesen Wettlauf hatte er gegen sich selbst verloren.
»Harry!«, rief Ed. »Harry bleib stehen!! Wo willst du denn hin?!«, plärrte er, erfüllt von Angst. Er hatte Angst, Harry könne sich etwas antun. Hinter ihm herjagend, konnte er seinen Freund erst einholen, als dieser kraftlos zusammenbrach und an einer Hauswand entlang zu Boden glitt. Harry heulte, sein Handy immer noch in der Hand. Ed nahm es an sich und sah erst jetzt, welche Informationen sich sein Kamerad geholt hatte.
»Harry komm«, verlangte Ed. Am Arm stützend, half er ihm wieder auf die Beine. Er zeigte keinerlei Mitleid und ging auch nicht gerade behutsam mit ihm um, als er ihn zurück zum Auto schleppe. »Du hast gehört, was sie gesagt haben. Es ist nicht bekannt ob es überhaupt Verletzte gib. Du weißt, dass Schaulustige alles schlimmer darstellen, als es wirklich ist.«
»Im Radio haben sie gesagt, es besteht Explosionsgefahr! Wer soll da noch überleben?!«, schrie Harry seinen Kumpel mitten ins Gesicht und schaute zum ersten Mal wieder jemanden an.
-Harrys Sicht-
Ed brachte mich nach Hause. Meine Hände zitterten, ich war noch nicht einmal fähig meine eigene Haustüre aufzuschließen. Sein Kumpel nahm mir die Schlüssel aus der Hand, um es für mich zu übernehmen. Kaum in meiner Wohnung angekommen, sah ich Angelinas Halstuch über eine Stuhllehne hängen und brach in Eds Armen zusammen. Mühevoll hievte er mich auf einen Stuhl, sein Kumpel stellte mir ein Glas Wasser vor die Nase.
»Versuch sie noch mal anzurufen«, bat er mich, aber es war zwecklos. Nach wie vor meldete sie sich nicht.
»Hast du andere Telefonnummern von ihr?«, fragte Ed, aber ich konnte nicht antworten. Angelinas Parfüm von dem Halstuch, strömte durch meine Nase. Der Duft war kaum wahrnehmbar, aber er war da. Meine Gedanken drifteten dahin. »Harry!! Sieh mich an«, forderte Ed und drehte mein Kopf vor sein Gesicht. Jetzt roch ich sein grausames Aftershave. Wofür benutzte er es? Er rasierte sich nicht. »Hast du andere Telefonnummern? Kannst du jemanden von ihrer Familie anrufen?«, fragte er mich. Mir war noch nie aufgefallen, wie lustig sein Bart eigentlich aussah. Ich musste ihn einfach auslachen. Ed griff an meine Schultern und schüttelte mich leicht. »Harry?!«, fragte er mich erneut, aber meine Augen fielen einfach zu.
»Ruf besser den Notarzt«, sagte Ed, aber ich wusste nicht zu wem. Blinzelnd versuchte ich jemanden zu erkennen. »Harry sackt uns gerade wieder weg. Seine Nerve spielen nicht mehr mit.«
»Ich bin ok«, murmelte ich.
»Harry dann sprich mit uns.« Erneut wurde ich an der Schulter gerüttelt.
Wieder zur Besinnung kommend, sagte ich ganz leise: »Ja, ich hab noch die Nummer von ihrer alten Arbeit.«
»Ok gut«, schnaufte Ed, sich aufrichtend. »Dann gib sie mir. Ich werde dort anrufen.«
»Vergiss es«, sagte ich hoffnungslos. »Was soll das bringen? Wenn da überhaupt jemand ran geht, dann sind das ihre alten Kollegen.«
»Egal, ich versuch es trotzdem. Vielleicht weiß irgendjemand was«, versuchte er mir Hoffnung zu machen. Aber das Gespräch klang nicht sonderlich erfolgreich. Ed hatte jemanden erreicht, aber die Person kannte Angelina noch nicht mal. »Harry, wir brauchen aktuelle Nummern. Von ihren Eltern, oder keine Ahnung- «
»Tom«, sagte ich schnell. Mir fiel ein, dass ich doch noch die Nummer von ihrem Bruder hatte. Für alle Fälle.
Aber weder Ed, noch ich hatten Erfolg. Auch nach mehreren Wahlwiederholungen nicht. Tom ging einfach nicht ans Telefon. Bei Jaycee wusste ich, dass ich es gar nicht erst zu versuchen brauchte, da sie einen neuen Job hatte und tagsüber nicht an ihr Telefon gehen konnte. Ihr schrieb ich nur, dass sie bei mir vorbeikommen sollte.
Inzwischen lief ein Nachrichtensender im Fernseher, damit wir keine Neuigkeiten verpassten.
»...noch immer unklar wie sich das Unglück zugetragen hat, aber mittlerweile konnten die ersten Passagiere mit teils schweren Rauchvergiftungen in Sicherheit gebracht werden...«
Ich bekam Hoffnung. »Bringt mich nach Folkestone«, verlangte ich von Ed und seinem Kumpel, da ich mich nicht in der Lage sah, selbst zu fahren. Mir liefen immer wieder Tränen die Wangen hinunter, und ich schaffte es kaum mich zu beruhigen. Und wenn, dann fing ich sowieso gleich wieder an zu heulen. Es waren nur kurze Zeiträume, in denen ich einigermaßen gefasst war.
»Harry, wir können jetzt nicht zum Tunnel fahren. Wir wissen nicht wo Angelina ist und würden dort nur die Rettungsarbeiten behindern«, versuchte mich Eds Kumpel von meinem Vorhaben abzubringen. Trotzdem wollte ich unbedingt zu dem Bahnhof. Ich wollte zu dieser Unglücksstelle. Wenn sie noch da drin war, dann wollte ich in ihrer Nähe sein. Und wenn sie gerettet wurde, dann hätte ich jedes Krankenhaus abgeklappert, bis sie sicher in meinen Armen war.
»Wenn sie überlebt hat, und wenn sie dort mit einer Rauchvergiftung in irgend einem Krankenhaus liegt, dann möchte ich zu ihr!«, klärte ich die beiden energisch auf. Doch bevor jemand etwas erwidern konnte, klingelte es an der Türe. Ich sprang sofort auf und rannte hin, um sie zu öffnen. Ich hoffte so sehr, dass Angelina jetzt einfach vor mir stehen würde, um mir gleich darauf um den Hals zu fallen, auch wenn ich wusste, dass dies nicht geschehen würde.
»Was macht ihr denn hier?«, fragte ich enttäuscht, als ich Gemma und meine Mutter vor der Türe stehen sah.
»Ahm... Konzert..? Heute Abend..? Harry was ist los?«, fragte mich meine verwirrte Schwester.
»Was ist passiert Harry?«, fragte nun auch meine Mutter und nahm mich in den Arm, als ich wieder anfing zu heulen.
Ich hatte gar nicht mehr dran gedacht, dass die beiden heute kommen wollten. Und ich hatte total verdrängt, dass wir heute Abend noch einen Gig hatten. Unsere Tour war noch nicht zu Ende. »Muum... Ich kann heute Abend nicht singen«, schluchzte ich vor mich hin und klammerte mich an meiner Mutter fest.
»Was ist passiert, mein Junge?«, fragte sie und wischte mir fürsorglich die Tränen weg, die ohne Unterlass meine Wangen hinabliefen.
»Angelina...«, schaffte ich nur zu sagen und japste mühsam nach Luft.
»Was ist los? Habt ihr euch gestritten?«, fragte meine Mutter.
»Mum, nein... Sie ist...« Ich fing wieder an zu heulen, nachdem ich mich kurz beruhigt hatte. »Sie ist vielleicht...«, startete ich ein weiteres Mal, schaffte aber nicht, es auszusprechen, wovor ich am meisten Angst hatte. Davor, dass sie wirklich ums Leben gekommen war.
»Harry sie lebt bestimmt«, mischte sich Ed mit ein, und in dem Moment hörte ich eine neue Meldung.
»... sind schwerverletzt. Angehörige können sich unter der unten eingeblendeten Hotline melden. Wir halten Sie auf dem Laufenden...«
Bevor ich überhaupt handeln konnte, hörte ich, wie Gemma leise mit Eds Kumpel sprach. Sie hatte bereits die Nummer gewählt, die nun dauerhaft am unteren Bildschirmrand angezeigt wurde. Doch erst nach mehreren Versuchen und langem Warten, fing Gemma an, mit jemandem zu reden. Wir fieberten gespannt den Neuigkeiten entgegen, die sie uns zu überbringen hatte, doch sie schüttelte ihren Kopf. »Über eine Angelina Dorsen konnten keine Angaben gemacht werden«, sagte sie. »Bisher konnte sie noch nicht gerettet werden.«
»Hast du nach ihrem zweiten Namen gefragt? Elisa. Sie wurde doch nach ihrer Großmutter Elisabeth benannt. Vielleicht- «
»Harry, ja hab ich. Was denkst duu denn?«, teilte mir meine Schwester mit.
Sie war noch im Tunnel. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie da unverletzt raus kam, wurde mit jeder Minute geringer. Das war es, was ich gerade dachte. Ich, sowie jeder andere auch.
Ich bekam ein Taschentuch über die Schulter gereicht und schnäuzte erst einmal. »Harry«, sagte meine Mutter liebevoll und versuchte mich zu trösten. »Ihr ist bestimmt nichts passiert. Hast du mal an die Möglichkeit gedacht, dass sie vielleicht einen späteren Zug genommen hat?«
»Mum...«, schluchzte ich, »...sie hätte sich bei mir gemeldet, um mich zu beruhigen, wenn sie nicht in diesem Zug gesessen wäre. Sie hätte mich angerufen, wenn sie da heil raus gekommen wäre oder noch lebt. Sie hätte mir Bescheid gesagt, Mum. Sie weiß, welche Sorgen ich mir um sie mache... Sie hätte es mir gesagt... Sie hätte mir gesagt, dass es ihr gut geht«, erklärte ich verheult.
»Mein Baby«, sagte sie sanft und strich mir beruhigend über den Hinterkopf, während sie mich beschützend in ihren Armen hielt. »Ich kenne keine anderen zwei Menschen, bei denen die mentale Bindung so stark ist, wie bei euch beiden. Was sagt denn dein Herz?«
Sie wollte mir nur Mut machen. Sie wollte nicht, dass ich litt, bevor wir nicht 100 prozentig wussten, was mit ihr passiert war. Sie wollte nicht, dass ich die Hoffnung aufgab, daran zu glauben, dass ihr nichts passiert war. Aber das wäre ein Wunder gewesen und das wusste meine Mum. Inzwischen wurden Tote geborgen.
Mir wäre es egal gewesen, wenn Angelina, bei dem Unfall, ihr Gedächtnis verloren hätte und sich nicht mehr an mich erinnern konnte. Ich wollte nur, dass sie diesen Unfall überlebt hatte und dass es ihr, den Umständen entsprechend, gut ging.
»Mein Herz sagt gar nichts Mum. Ich weiß noch nicht mal, ob es überhaupt noch schlägt«, schniefte ich. »Aber ich hatte gestern Morgen ein ungutes Gefühl, als ich bei ihr weg gefahren bin. Ich musste einfach wieder umdrehen, um sie noch einmal zu sehen. Es hat sich anders angefühlt als sonst. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe so Angst um sie«, heulte ich wieder los. »Muuum... sie kann nicht einfach weg sein. Ich hätte sie nicht alleine fahren lassen dürfen. Ich wollte doch mit ihr mit fahren. Ich hätte jetzt bei ihr sein können.«
»Harry! Wenn du mit ihr mit gefahren wärst, dann wärst du jetzt auch...« Die Worte meiner Mutter verstummten plötzlich. Sie sprach einfach nicht mehr weiter. Sie dachte genau das, was hier gerade alle dachten. Sie war ganz ruhig und traute sich kaum, mich anzusehen.
Ich nahm Abstand von meiner Mutter, damit sie mich ansehen konnte.
»Dann wäre ich jetzt was, hm?!«, fuhr ich sie barsch an. Meine Körpersprache und auch mein Blick forderten von ihr: "Komm, sprich aus, was du gerade gedacht hast!! Sag, dass ich dann tot wäre, genau wie sie!"
Sie fing an zu weinen. Bis jetzt war sie stark und wollte mir Kraft schenken. Aber der Gedanke daran, dass sie ihren Sohn verlieren könnte, so wie ich Angelina verloren hatte, ließ ihre Fassade bröckeln. Im nächsten Moment tat es mir auch schon wieder furchtbar leid, dass ich sie so angefahren hatte. Aber meine Nerven machten mir einfach einen Strich durch die Rechnung. Ich konnte mich nicht beherrschen.
Ich schloss sie in meine Arme. »Es tut mir leid Mum.« Ich konnte meine Mutter einfach nicht so leiden sehen und vergaß darüber meinen eigenen Schmerz für einen kurzen Moment.
Mittlerweile trafen auch meine Cousins Ben und Matty hier ein, die mich mal wieder auf der Bühne sehen wollten, die mich überhaupt mal wieder sehen wollten. Ed hatte meine Kollegen informiert. Auch darüber, dass sie heute wohl ohne mich auf die Bühne mussten, weil ich das nicht packen würde. Natürlich trudelte einer nach dem anderen, total aufgelöst, hier ein. Eine Hand nach der anderen spürte ich stärkend meine Schulter tätscheln. Ich bekam Umarmungen. Alle versuchten für mich da zu sein.
»Ihr müsst ohne mich auf die Bühne. Ich kann heute nicht singen«, entschuldigte mich.
»Keiner verlangt von dir, dass du dich so auf die Bühne stellst«, erklärte mir Liam.
»Entweder wir gehen alle, oder es geht keiner von uns auf die Bühne«, sagte Louis kameradschaftlich. Obwohl wir auch schon mal ohne ihn auf die Bühne mussten, weil er krank gewesen war. Genau wie Zayn kurze Zeit später, aber der war sowieso nicht mehr bei uns. Er fehlte mir immer noch auf der Bühne, aber er fehlte mir nicht so sehr wie Angelina.
»Bevor wir nicht wissen, ob Angelina verletzt ist oder nicht, geht keiner von uns auf die Bühne«, erklärte Niall, und hatte die Sache somit, klipp und klar, für uns alle beschlossen.
Niall konnte mittlerweile Jaycee erreichen, die später total verheult bei mir vor der Türe stand. Sie bekam hier Zuflucht gewährt, wie alle anderen. Ed, der in der entgegengesetzten Zimmerecke von Niall saß, sah sie zum ersten Mal. Und ich war ihr dankbar dafür, dass nicht Fangirl-kreischend auf ihn zu gerannt war, wie sie es wahrscheinlich in einer anderen Situation getan hätte. An Angelinas Handy ging immer noch keiner ran und ihren Bruder bekam man auch nicht ans Telefon. Auf Nachrichten reagierte er nicht. Jaycee versuchte gerade Angelinas Eltern zu erreichen, aber alle waren wie vom Erdboden verschlungen.
Louise gesellte sich auch irgendwann zu uns, aber ohne Lux. Dafür hatte sie eine gute Freundin von uns allen dabei. Mittlerweile waren so viele Menschen hier, dass man meinen könnte, es wäre vor Lärm nicht auszuhalten gewesen. Aber kein einziger sagte etwas. Nicht ein einziges Wort. Es war die Stille, die mich fertig machte, und wie alle gespannt auf den Bildschirm starrten und auf eine erlösende Nachricht warteten..
Die meisten erschraken, als mein Telefon klingelte. Erwartungsvoll griff ich danach. »Angelina?«, fragte ich voller Hoffnung. Alle Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich sprach ein paar Worte mit dem Anrufer und drückte mein Handy schließlich Jaycee in die Hand. »Dein Cousin«, teilte ich ihr mit. Ich hatte es kaum fertig gebracht, Tom zu schildern, was passiert war. Zusammen mit seinen und Angelinas Eltern, war er den ganzen Tag ohne Handy in seinem Garten und hatte noch keine Ahnung, was passiert war. Dementsprechend geschockt war er, als ich ihm das ansatzweise erzählte. Jay schluchzte nun in mein Telefon. Ich konnte mir das nicht mit anhören und ging einfach nach oben in mein Schlafzimmer.
Louis war mit hinterhergelaufen und saß nun, neben mir, auf dem Bettrand. Tröstend schloss er mich in seine Arme und trocknete meine Tränen.
»Harry- «, fing er an. Er wollte sicherlich etwas Trostspendendes zu mir sagen, aber das wollte ich nicht.
»Was ist nur aus uns geworden, seit dem wir nicht mehr unter einem Dach wohnen?«, unterbrach ich ihn. Wir hatten uns früher so gut verstanden. Doch unsere Freundschaft war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Ich fing an, mir über alles Gedanken zu machen. Mein Leben, die letzten Jahre... Und ich wusste, dass Louis gerade verstand, wie es in mir aussah. Ich wollte nicht darüber reden, das spürte er sicherlich. »Legst du dich einfach zu mir, so wie früher?«, fragte ich ihn. Er war oft bei mir, wenn ich mich einsam fühlte. Auch jetzt, war er einfach nur hier.
Wortlos folgte Louis meiner Bitte. Er legte sich hinter mich und schloss mich in seine beruhigenden Arme. Unter meiner Bettdecke zusammengerollt, vegetierte einfach nur vor mich hin. Noch nie hatte ich mich so hilflos gefühlt. Ich war fertig mit meinem Leben und fertig mit dieser Welt.
War es nun der schmerzhafte Beweis dafür, wie weit man in einem menschlichen Leben kommen konnte, und wie tief man hinterher fallen konnte? Der Beweis dafür, dass aller Erfolg, alles Geld der Welt und die größte Liebe des Universums einen vor nichts im Leben bewahren konnten? Nicht vor dem größten Schmerz, den man empfinden konnte, und schon gar nicht vor einem sterblichen Leben. Ich war dankbar für mein Leben und sah nichts als selbstverständlich. Hatte ich bisher vielleicht zu viel Glück gehabt? War es aufgebraucht und einfach nichts mehr davon übrig? Hatte ich so viel Glück verbraucht, dass es für meinen Engel nicht mehr reichte? War meine Liebe zu Angelina einfach zu intensiv? Hätte ich sie weniger lieben sollen? Hätte ich sie dafür länger lieben dürfen? Ich bezweifelte, dass es mir damit besser gegangen wäre. Ich konnte nicht verstehen, warum ich nun so bestraft wurde. Wofür?! Ich begriff nicht, warum sich mein Leben plötzlich gegen mich stellte; was es mir damit sagen wollte, und warum die Liebe meines Lebens nicht weiterleben durfte. Sie war so ein großartiger Mensch. Und ich war mir sicher, sie war nicht nur ein großer Verlust für mich und mein Herz, das sie weiterhin lieben würde, und in dem sie trotzdem weiterleben würde, bis in die Unendlichkeit... wie die beiden Nullen aus unserer Rechnung - eine liegende Acht.
Fata viam invenient - Das Schicksal findet seinen Weg, ob es mir nun passte oder nicht. Und wie schmerzhaft es auch war, ich konnte nichts daran ändern.
War es erst der Tot, der unsere Liebe nun unsterblich machte? Welch Paradoxie. Ich begriff das alles einfach nicht. War es wirklich das, was unser Schicksal für uns wollte? Den einzigen Trost, den ich dabei verspürte, war, dass sie ihre Großmutter nun endlich wieder sah. Gleichzeitig hasste ich diese Frau dafür, dass sie Angelina nun zu sich gebeten hatte. Nicht nur für ein Kaffeekränzchen, sondern bis in alle Ewigkeit. Ich wusste: Angelina kommt nie mehr zu mir zurück. Dabei wurde ich doch nur für sie geboren. Ich erkannte den Sinn dahinter einfach nicht.
Still und heimlich fällte ich für mich den Entschluss, nie wieder auf eine Bühne zu gehen. Wie sollte ich je wieder singen können, wo ich mich gerade sogar unfähig sah, zu sprechen? Selbst das Denken fiel mir äußerst schwer. Und ich fühlte mich mies, da ich unsere Liebe nie öffentlich gemacht hatte. Einer von uns hatte immer Bedenken, und wir schoben es vor uns her und her. Wir konnten nie einfach so, verliebt und unbefangen, die Straße entlang schlendern. Zumindest nicht Hand in Hand, nicht Arm in Arm... nur wenn es keiner sah. Ich konnte sie nicht küssen, wann ich es wollte. Wenn wir zusammen unterwegs waren, mussten wir so tun, als ob wir gute Freunde wären. Selten waren wir für uns alleine. Wenn wir etwas unternahmen, dann meist mit Freunden, damit es nicht auffiel. Unser Versteckspiel hatte uns zu viel kostbare Zeit gestohlen. Zeit, die wir jetzt nicht mehr miteinander hatten. Zeit, die uns keiner zurückholen konnte.
Dicke Tränen liefen lautlos über mein Gesicht. Zu gerne hätte ich ihr nochmal gesagt, wie sehr ich sie liebte. In aller Öffentlichkeit. Und jetzt war sie weg. Ich schwelgte in Erinnerungen an Angelina und wollte ihre liebevolle wärme spüren. Nur noch ein einziges Mal, um Abschied zu nehmen, aber sie war nicht da. Wie in Trance hüllte ich mich in meine Decke ein und träumte vor mich hin. Plötzlich spürte ich ihren Körper hinter mir. Es fühlte sich so real an und es tröstete mich ein wenig über meinen Schmerz hinweg. Ich wollte nie wieder aufwachen aus diesem schönen Traum. Es fühlte sich so gut an, wie sie sich unter die Decke zu mir kuschelte und mich sanft umarmte.
»Harry ich bin hier«, flüsterte sie Engelsgleich in mein Ohr und küsste sanft meinen Hals. Ich liebte es so sehr, wenn sie das tat - getan hatte.
»Ich wünschte, du wärst es«, murmelte ich leise, als sie mir gerade einige Haare aus dem Gesicht strich, die mir durch halbtrockene Tränen an der Wange festklebten. Wenn ich jetzt doch nur bei ihr sein könnte. Ich würde alles dafür geben.
»Harry, nicht weinen... Ich bin hier«, tröstete sie mich. Sie flüsterte fast, aber ich konnte sie ganz genau hören. Auf Ewigkeit, konnte ihre Stimme zu meinem Herzen sprechen. Immer, würde ich sie darin erhören.
Ich wollte es so sehr glauben... Ich wollte so sehr glauben, dass sie tatsächlich bei mir war und kuschelte mich halb schlafend, enger an sie heran. Doch dann wachte ich auf und riss meinen Körper schweißgebadet nach oben. Aus meinem Delirium erwachend, fiel mir ein: Es war nur Louis, der hinter mir lag. Geist und Seele trennten sich schmerzlich von meiner äußeren Statur. Eine furchtbare Leere blieb zurück, als ich wieder realisierte, was passiert war und dass alles nur ein wunderschöner Traum gewesen war.
Nun saß ich im Bett, mein Herz pochte. Doch es schlug nur noch, weil es daran gewöhn war, zu schlagen. Aber atmete ich? Ich wusste es nicht. Alles was ich wusste, war, dass Angelina nicht hier war, und ich wünschte mir wenigstens diesen Traum zurück, in dem ich sie gerade eben noch spüren konnte. Doch meine Gedanken wurden unaufhaltsam leerer. Ich versuchte mich zu erinnern wie sie roch, wie ihre Stimme klang, aber mein Kopf war inhaltslos. Zu groß war der Schmerz. Sicherlich wolle mich mein Gehirn nur davor beschützen, durchzudrehen. Doch was hatte ich noch ohne sie? Was brachte es mir, von zigtausenden geliebt zu werden, wenn der Mensch, den ich am meisten liebte, weg war? Meine Welt war hoffnungslos zerstört. Ich wollte einfach nur zu ihr.
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