32
In den nächsten Wochen senkte sich eine konzentrierte Stille über ganz Rosewood. Durch die nahenden Winterexamen verbrachten alle Schüler die meiste Zeit in den Bibliotheken und Studiersälen und wiederholten hektisch alles, was sie seit Beginn des Schuljahres gelernt hatten.
Shaha merkte deutlich, wie angenehm leicht es ihr viel, sich den Stoff zu merken. Auch ihre vorbereiteten Notizen und strukturieren Pläne halfen zusätzlich. Der große Vorrat an Tompkins Süßigkeiten und die Gesellschaft und Unterstützung ihrer Freunde waren jedoch bei weitem das Beste daran. Selbst Jamie ließ sich dazu herab, ihr bei der ein oder anderen Aufgabe zu helfen, was Shaha doch ziemlich überrascht hatte.
Nachdem alle die Prüfungen abgeschlossen hatten, bereiten sich viele Schüler darauf vor, über die Weihnachtszeit nach Hause zu fahren. Lottie, Ellie, Jamie und sie konnten ihre Nachforschungen damit vorerst einmal einstellen.
Trotzdem würde Shaha nicht Nachhause fahren, sie hatte einen Brief von ihrem Vater bekommen.
Er hatte ihr verkündet, er erwarte sie nicht daheim zu Weihnachten, sie wären ohnehin nicht zugegen. Übersetzt bedeutet dies soviel wie:
Du widersetzt dich meinen Anweisungen. Du verlässt deine Familie, dann sorge ich dafür, dass du sie so schnell nicht wiedersiehst.
Doch auch Rohana, ihre älteste Schwester hatte ihr geschrieben.
Ein warmes Lächeln ruhte auf Shahas Lippen, als sie den Brief noch einmal durchlas.
Hallo Schwesterherz,
hier Zuhause ist es eigentlich wie immer. Ziemlich schrecklich.
Aber uns allen geht es gut.
Dir hoffentlich auch.
Es ist schade, dass du nicht einmal über Weihnachten kommen kannst. Ohne dich ist es schrecklich langweilig. Du wirst aber sicherlich deine Gründe haben.
Die Veranstaltung die wir besuchen werden wird ohne dich wahrscheinlich noch unaushaltbarer.
Viel Glück in deinem weiteren Schuljahr und frohe Weihnachten.
Rohana.
Mit einem leisen Kichern strich sie über die krakelige Handschrift ihrer Schwester. Sie hatte sich noch nie viel aus Pflichten und Traditionen gemacht. Während Shaha seit sie laufen konnte Kalligraphie-Stunden genommen hatte, schrieb Rohana einfach so gut wie nie.
Vorsichtig schob sie den Brief zurück in ihre Mappe und steckte diese zurück in ihre Tasche.
»Saskia hat doch gesagt, es wäre nur eine kleine Zusammenkunft!«, spottete Ellie, während sie dem großen gläsernen Engel zuprostete, der über das Buffet zu wachen schien.
Saskia hatte sie, genau wie einige andere Schüler, die über Weihnachten in der Schule blieben, zu einer Feier nach Conch eingeladen.
Lottie, Ellie und sie waren bereits früher gekommen, um bei den Vorbereitungen zu helfen.
Gerade ging die Tür auf und Anastasia und Raphael kamen herein, mühelos vollbeladene Tablets balancierend.
Shaha warf einen nervösen Blick in Richtung der anderen Ivy Schülerinnen. Während den Prüfungen war es einfach gewesen, den beiden Conch Schülern aus dem Weg zu gehen, nun wurden sie auf die Probe gestellt.
Anastasia klopfte ihre Hände ab und wandte sich beiläufig an Ellie: »Hör auf, von den Häppchen zu naschen, sonst muss ich dich vergiften.«
Beinahe hätte sich Ellie an ihrem Würstchen im Schlafrock verschluckt, doch sie fasste sich rasch und nahm sich ein weiteres Würstchen.
»Du brauchst doch gar keinen Anlass, um jemanden zu vergiften.«, grinste sie spöttisch. Raphael prustete daraufhin los und kassierte prompt einen strafenden Blick von Anastasia.
Shaha schluckte, hätte Jamie das mitbekommen, wäre er bestimmt wütend. Doch der holte gerade den Weihnachtsbaum.
»Heute fällt der Giftmord aus«, tadelte Lottie die beiden, »Es ist schließlich Weihnachten.«
Ellie schnappte sich ein Schokobrötchen und Lottie platzte der Kragen. »ELLIE, UM HIMMELS WILLEN, JETZT HÖR ENDLICH AUF ZU NASCHEN!«
Shaha merkte, wie ihre Hände bebten. Sie war heute ohnehin schon angespannt genug.
Ellie jedoch blieb ruhig, bremste ihr Schokobrötchen auf halbem Weg zum Mund und legte es wieder zurück. »Wie ihr wünscht eure Hoheit.« Sie verneigte sich übertrieben tief und rannte zur Tür. »Ich muss sowieso noch meine Gitarre holen. Jamie und ich wollen euch ein kleines Ständchen bringen.« Ein süßes Lächeln zog über ihr Gesicht und sie klimperte mit den Wimpern.
»Jamie singt?«, fragte Lottie überrascht. Auch Shahas Augen hatten sich verwundert geweitet, doch rasch verpasste sie Lottie einen bedeutungsschweren Blick und ergänzte: »Obwohl er sich sonst immer ziert.« Ein schmales Lächeln lag auf ihren Lippen. »Scheinbar konnte ihn Ellie überzeugen.«
Saskia, die gerade den Raum betreten hatte, gluckste belustigt und stellte mit Leichtigkeit den Beistelltisch ab, den sie mit herein getragen hatte. »Es ist schon schwer vorstellbar, dass er singt.«
Shaha gluckste. Als würde irgendetwas an Jamie wirklich einen Sinn ergeben. Schmerzlich erinnerte sie sich wieder an seine Anschuldigungen zurück und schluckte schwer.
Ihr Blick schweifte hinüber zu Ellie, die Saskia anstarrte und beinahe sabberte.
»Was guckst du so?«, fragte die Jahrgangssprecherin kokett und warf ihre Haare nach hinten, als wäre sie eine Meerjungfrau, die gerade aus dem Wasser auftauchte.
Ellie entgegnete grinsend: »Ich genieße nur die Aussicht.«
Ein tiefes, kehliges Lachen drang aus Saskias Kehle, als sie eine Hand an ihre Hüfte hob und den Stoff ihres Kleides auf ihrem Oberschenkel glättete.
»Na los, hol deine Gitarre und sing dein Lied für uns – dann verzeihe ich dir vielleicht, dass du an unserem Essen herumgepickt hast, Chica.«
Shaha fühlte sich während der gesamten Konversation höchst unwohl und freute sich, als sie endlich mit den Dekorationen beginnen konnte. Auch wenn es ihr heute nicht so viel Spaß machte, wie gewöhnlich.
»Ihr macht das erstaunlich gut.« Bei Anastasias Kommentar hob Shaha eine Braue und antwortete mit einem stummen Lächeln.
Lottie musterte Anastasia und schien etwas in sich zusammen zu fallen. »Danke. Ich – «
»Du bist überhaupt nicht so, wie ich erwartet hattte.«, die Augen der Conch Schülerin verengten sich leicht und sie musterte Lottie aufmerksam. Shaha spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in ihrer Brust ausbreitete.
Anastasias Lippen öffneten sich, als wolle sie Lottie etwas sagen, sie wirkte entschlossen. »Lottie, ich weiß –«
»DIE SHOW BEGINNT!« schrie Ellie lauthals, als sie durch die Tür gestürmt kam und dramatisch ihre Gitarre in die Luft reckte.
Doch Shahas Augen ruhten weiterhin auf Anastasia. Sie wusste etwas und es hatte mit Lotties Rolle als Porterin zu tun. Beunruhigt wippte sie vor und zurück.
Kurz nach Ellie betrat ein besonders missmutiger Jamie den Raum. Auch in seiner Hand ruhte der Hals einer Gitarre und Shaha war aufs neue verwundert über seine vielfältigen Talente.
Seine Begleiterin verpasste ihm einen Tritt gegen das Schienbein, sodass er widerwillig eine Tröte an die Lippen hob und zögernd hineinpustete. Shaha warf ihm einen mitfühlend Blick zu, bevor sie leise gluckste, als Ellie versuchte zwei Conch Schüler von ihren Plätzen zu vertreiben. Murrend blickten diese zu Saskia, die lachte jedoch nur und gestikulierte ihnen, Platz zu machen.
»Manchmal überrascht es mich, dass du nicht in meinem Haus gelandet bist. Entschlossen bist du jedenfalls.«, rief sie Ellie über die Köpfe der Menge zu.
Alle sammelten sich um Jamie und Ellie, die beide kein Fünkchen Nervosität zeigten.
»Spielt was Weihnachtliches!«, quietschte ein weihnachtsmannmützentragendes Conch-Mädchen.
Ellie verzog ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein. Wir spielen was für Lottie.«
»Für mich?«, Lotties Stimme zitterte leicht, ob vor Glück oder Nervosität konnte Saha nicht sagen. Ein warmes Lächeln strich über ihre Lippen.
»Wir spielen ein Lied aus deiner Heimat. Weil du Weihnachten nicht Zuhause verbringen kannst, dachten wir, wir bringen Weihnachten zu dir.« Jamie betrachtete Lottie mit diesem durchdringen Blick, den er immer hatte, wenn er ganz sicher sein wollte, dass sie genau zuhörten.
»Danke.«, erwiederte die Blonde schüchtern.
Der Raum wurde in Schweigen geholt, als die beiden Musiker sich aufstellten. Jamie und Ellie wechselten einen kurzen, intensiven und zugleich vertrauten Blick, ehe die erste Note durch die Luft schwebte. Ihre Stimmen erklangen in perfekter Harmonie, zu einer bittersüßen Melodie.
Wie gebannt hing Shaha an ihren Lippen. Jamies Stimme war wie hypnotisierend, warm und kraftvoll zugleich.
Und vor ihrem geistigen Augen setzten sich die alten maradovischen Verse sich zusammen.
Ihr Name war Ester – sie war Porterin und Partistin zugleich – und ihre Prinzessin hieß Liana. Sie war die leidenschaftlichste und hingebungsvollste Porterin, die das Land je gesehen hatte und sie und die Prinzessin liebten einander von ganzem Herzen.
Shaha schloss ihre Augen und sofort erschienen ihr die beiden, wie verschwommene Erinnerungen aus einer fernen Welt. Leuchtend, weiß und schwarz, Ying und Yang. Wie Ellie und Lottie.
Wild und freigeistig wie sie waren wurden sie von allen verehrt, die sie kannten. Die Prinzessin verlangte jedoch, dass Ester bei offiziellen Veranstaltungen zu ihrer Assistentin ernannt würde, damit sie gemeinsam regierten. In der Nacht vor der Krönung jedoch wurde Ester von einem der feindlichen Nachbarreiche geraubt und als Druckmittel gegen Liana genutzt. Doch anstatt die Prinzessin vor eine unmögliche Entscheidung zu stellen, nahm sich Ester das Leben. Da der Akt von so großer Loyalität geprägt war, gewehrten ihr die Götter, eine letzte Nachricht in Form einer weißen Taube an ihre Prinzessin zu schicken.
Von blinder Wut und Verzweiflung getrieben und mit der Leidenschaft ihrer treuen Porterin zerstörte die Prinzessin das Nachbarreich.
Shaha zuckte zusammen und riss verschreckt ihre Augen auf, als die Flammen vor ihr aufloderten und nach ihr zu greifen zu schienen.
Ihr Gesicht war tränenfeutcht und ein schmerzlicher Ausdruck hatte sich darauf festgesetzt. So sehr sie auch gegen die Tränen ankämpfte, sie flossen einfach weiter.
Jamies dunkle Augen bohrten sich tief in die ihren und sie war froh, dass die Aufmerksamkeit aller anderen auf Lottie lag, die die Arme ausgestreckt hatte, wie um nach den Visionen zu greifen.
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