29
Die nächsten Tage verbrachte Shaha beinahe ausschließlich damit, für die bevorstehenden Prüfungen zu lernen und jeden Morgen mit Jamie zu trainieren.
So waren er und Vlada diejenigen, die sie wohl am meisten sah. Den anderen begegnete sie beim Essen, wenn sie denn überhaupt zum Essen ging.
Während alle sich unten im Frühstückssaal versammelten, war der Gemeinschaftsraum wie ausgestorben. Deswegen nutzte sie diese Zeit meist, um in Ruhe für die Prüfungen zu lernen.
Leider hatte Jamie sie während des letzten Trainings auf ihr Fehlen während der Essenszeiten angesprochen und sie schließlich gehörig getadelt.
»Wie sollst du deine Ausdauer steigern oder irgendwas von dem behalten, was ich dir versuche beizubringen, wenn du nicht einmal ordentlich isst?« Waren seine Worte gewesen.
So hatte sie sich beim nächsten Essen demonstrativ direkt neben ihn gesetzt. Er hatte sie erst überrascht angesehen, dann aber wieder seine undurchsichtige Mine aufgesetzt. Seine Mundwinkel zuckten jedoch kaum merklich, als würde er ein Lächeln unterdrücken.
Auch während des nächsten Essens hatte sie diesen Platz eingenommen. Warum auch nicht? Jamie war eine angenehme Gesellschaft und es schien ihm nichts auszumachen.
Außerdem sah sie Vlada bloß noch selten, seit diese die meiste Zeit mit ihrer Freundin verbrachte. Nuria war ein arabisch stämmiges Mädchen aus Stratus und so sehr sie sich auch für die beiden freute, etwas einsam war es manchmal doch.
Da konnte sie sich glücklich schätzen, dass sie sich Mithilfe des Trainings und Lernens so gut ablenken konnte.
Gerade saß sie zwischen Jamie und Lottie auf der Trebühne und wartete darauf, dass das Auswahlverfahren für die Fechtmeisterschaft begann. Nebenbei ging sie die Liste der schier unzähligen Clubs und außerschulischen Aktivitäten durch.
Altertumswissenschaften, Antiquitäten, Archäologie, Astronomie, Badminton, Bildhauerei, Chor, Debattierclub, Deutsch, Eiskunstlauf, Fechten, Feinbäckerei, Film – Theorie und Praxis, Französisch, Fotografie, Gartenbau, Gehobene Küche, Ingenieurwesen, Japanisch, Jura (Einführung), Kanufahren, Käseexpertise, Kickboxen, Latein (Einführung), Lyrik, Malerei und Skulptur (Einführung), Mandarin, Mode und Design, Philosophie, Programmieren, Reiten, Ringkampf, Schmuckherstellung, Schulorchester, Schwimmen (Bahn), Schwimmen (synchron), Teeexpertise, Tennis, Theater (Bühnenbild), Theater (Licht und Ton), Theater (Schauspiel), Tontaubenschießen, Veranstaltungsplanung ...
Auch wenn sie einige Dinge beinahe augenblicklich ausschließen konnte, so war es doch unwahrscheinlich schwer.
Sie hatte die für sie interessanten Angebote in verschiedenen Farben unterstrichen. Alles, was sie interessierte hatte sie in grün unterstrichen, alles praktische in blau und nochmal alles, was sie vielleicht irgendwie dazu verwenden könnte, um Lottie, Ellie und Jamie zu helfen in lila.
Insgesamt hatte sie vierzehn Angebote markiert, fünf davon wanderten jedoch recht schnell zurück auf die Liste der für sie uninteressanten Angebote. Sodass noch Lyrik, Altertumswissenschaften, Malerei und Skulptur und Philosophie grün, Deutsch, Latein und Japanisch blau und nur Eiskunstlauf in lila unterstrichen blieben. Doch das war bereits viel zu viel.
Genervt fuhr sie sich mit einer Hand durch die Haare und war kurz davor, einfach die Augen zu schließen und irgendwo ein Angebot anzukreuzen.
»Guten Abend, meine lieben Mitschülerinnen und Mitschüler!«, erklang plötzlich Binahs Stimme und Shaha zuckte zusammen.
So sehr sich auch alle anderen daran gewöhnt hatten, dass Binah mit einem Mal auf wundersame Weise auftauchte, ihr fiel es nicht ganz so leicht. Noch weniger nun, wo das Rätsel gelöst worden war und sie ständig Angst haben musste, dass das Eule-Mädchen eine von ihnen darauf ansprach.
Eben genannte ließ sich auf den freien Platz zwischen Lottie und Lola fallen. Sie schob ihre Brille zurück und wandte sich dann an die Erdbeerprinzessin: »Lottie!«
Diese spannte sich sichtlich an und so beugte Jamie sich vor und musterte sie misstrauisch aus schmalen Augen. Shaha seufzte, drehte sich zu ihm um und murmelte leise: »Sie ist bloß müde, lass sie einfach. Bitte.« Ein Schnauben war die einzige Antwort. Nervös rutschte sie auf ihrem Platz umher, er hatte schließlich durchaus Grund für sein Misstrauen. Doch Ellie, Lottie und letztendlich auch sie hatten beschlossen, Jamie vorerst nichts von Binah zu erzählen.
Auf einmal durchschnittlich der laute Schall eines Horns das leise Getuschel der Schüler und Shaha bemühte sich, so wenig wie nur möglich zusammen zu zucken. Angespannt ballte sie eine ihrer Hände zu Fäusten.
Hätte sie jedoch ihren Blick von Mrs Bolter abgewandt, die gerade nach vorn trat, hätte sie gesehen, wie Jamie eine Braue hob und einer seiner Finger leicht zuckte.
Shaha lehnte sich leicht zurück und musterte alle Anwesenden. Vorne stand Mrs Bolter und einige Schritte hinter ihr der Fechtkapitän der dreizehnten Klasse und Sprecher von Conch, Jacob Zee. Er war eine regelrechte Berühmtheit und wurde geradezu vergöttert.
Es war kaum zu glauben, dass Mrs Bolter und er zum selben Haus gehörten. Repräsentierte ihn das Wasser, so war sie Feuer.
»Guten Abend, verehrte Schüler von Rosewood.«, die Stimme der Hausvorsteherin hallte durch den Raum. »Heute Abend feiern wir den dreihundertsten Geburtstag unseres Auswahlverfahrens für die Fechtmannschaft. Und heute Abend werden fünf Schülerinnen und Schüler mit der Auszeichnung geehrt, dem Team von Rosewood Hall beitreten zu dürfen.« Mrs Bolter schwieg einen Moment und ließ ihre Augen über die Schülermenge schweifen.
»Ihr wohnt einem wichtigen Ereignis bei und ich erwarte von allen Zuschauern äußersten Respekt.« Sie drehte sich zu dem braungelockten Jungen hinter ihr, »Möchtest du unseren jungen Hoffnungsträgern noch ein paar Worte mitgeben?«
Jacob lächelte strahlend und verneigte sich leicht. Als er vortrat ertönte sofort Getuschel und Gekicher, beinahe so wie wenn Jamie einen Raum betrat.
Shaha verdrehte genervt die Augen und seufzte tief, doch sie richtete ihren Blick aufmerksam in Richtung des Captains. So sehr es an ihren Nerven zehrte, es wäre respektlos ihm nicht mit der selben Aufmerksamkeit zu zuhören, die sie der vorherigen Rednerin geschenkt hatte.
»Heute Abend geht es nicht darum, wer gewinnt. Es geht darum, wer das größte Potential zeigt. Es sind ein paar vielversprechende Kandidaten dabei und ich bedauere jetzt schon, daß ich nächstes Jahr nach meinem Abschluss nicht mehr euer Kapitän sein kann. Viel Glück!«
Shaha richtete genau wie er ihren Blick auf die zwanzig nahezu identischen Figuren.
Die Gesichter waren hinter Netzmasken verborgen und die Körper in weiße Uniformen gehüllt. Weder Geschlecht noch das Individuum war zu erkennen.
Doch eine der Gestalten verließ die Reihe seiner Mitstreiter, boxte in die Luft und drehte sich zu den anderen, bevor er rief: »Auf geht's, ihr Schwächlinge!«
Eindeutig Ellie.
Lottie und Shaha drehten sich zu Jamie. Der hatte sein Gesicht hinter der Hand versteckt und während Lottie und Raphael ein Kichern unterdrückten, tätschelte Shaha ihm sanft die Schulter. Wofür sie nur einen undeutbaren Blick erhielt, doch das kümmerte sie nicht weiter, denn er sich wieder besonnen zu haben.
Schallendes Gelächter ertönte aus der linken Seite der Halle, es war Professor Devine. Sie lehnte an der Wand und schaffte es auf wundersame Weise, allen Marmor um sie herum zu überstrahlen.
Zwei in weiß gehüllte Gestalten betraten die Bühne und somit begann die erste Runde. Sie verbeugten sich voreinander und der Kampf begann.
Schnell war klar, dass die Person auf der rechten Seite die Oberhand hatte. Sie bewegte sich so schnell, dass die andere Person nur noch parieren konnte und nach kurzer Zeit war der Kampf entschieden.
Lottie neben ihr blickte während des Kampfes in die Runde und Shaha merkte, dass sie nicht wirklich eine Ahnung vom Fechten hatte. Leise flüsternd erklärte sie ihr einige Kleinigkeiten, die sie selbst auch nur durch das Fechttraining ihrer Schwester wusste.
Nach einer Zeit, die sich im Nachhinein nur nach wenigen Minuten anfühlte, begann auch schon die letzte Runde.
Tatsächlich betrat die scheinbar unbesiegbare Gestalt aus der ersten Runde die Bühne und als sich diesmal die beiden Fechter voreinander verbeugten, schien das gesamte Publikum den Atem zu halten.
In dieser Runde bewegten sich die Fechter so schnell, dass Shaha kaum ausmachen konnte, wer einen Treffer gelandet hatte. Die Blonde zu ihrer Linken rutschte auf ihrem Sitz umher, sodass Shaha ihr einen besorgten Blick zuwarf.
In der kurzen Zeit, in der sie dem Kampf nicht gefolgt hatte, war er auch schon entschieden worden und die beiden Duellanten nahmen ihre Masken ab. Die Gestalt aus der ersten Runde entpuppte sich als Anastasia und der erste ebenbürtige Gegner als Ellie.
Die Erdbeerprinzessin lief tiefrot an, als sie Ellie erblickte, taumelte dann jedoch. Beunruhigt wendete Shaha sich zu ihrer Sitznachbarin und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Sie blendete die Verkündung der Namen komplett aus, doch das war momentan nicht wichtig.
»Lottie?«, Sorge schwang in Shahas Stimme mit und wurde nur noch größer, als die Angesprochene nicht reagierte, sondern aufstand und sich an Binah vorbei zur Treppe schob.
Shaha folgte ihr. Plötzlich drehte sich Lottie zu ihr um, fasste ihre Schultern und hauchte: »Irgendwas ist unter meiner Matratze ...«, bevor sie in ihren Armen zusammenbrach.
Rasch kniete sie sich zu Boden und richtete Lottie halb auf. Ehe sie einen weiteren Gedanken fassen oder etwas gegen Lotties Ohnmacht tun konnte spürte sie, wie sich jemand neben ihr zu Boden kniete. Ein Vertrauter Geruch nach Zimt umgab sie und die Erleichterung schwappte wie eine große Welle über sie.
Jamie war da.
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