2. | R Y L E R
V E R G A N G E N H E I T
the night we met
-Lord Huron
Wieso hatte ich mich dazu überreden lassen?
Ich kam mir absolut fehl am Platzt vor, als ich mich auf Jonathan Deccers Party umsah. Es waren so unfassbar viele Menschen hier, dass das Haus wahrscheinlich inzwischen drohte aus allen Nähten zu platzen, trotz seiner Größe. Wenn man diesen halben Palast überhaupt noch Haus nennen konnte. Eigentlich durfte es mich nicht wundern, wie Jon lebte, da er der Sohn von Richter Deccer war und nicht wirklich ein Geheimnis daraus machte, mit welchem Wohlstand er aufgewachsen war. Dennoch traute ich mich kaum etwas von dem Mobiliar anzufassen, das wahrscheinlich mehr Wert war als mein ganzes Zuhause. Ich konnte gar nicht mit ansehen, wie andere der Partygäste darauf herum sprangen, es mit ihren Drinks bekleckerten und nicht unbedingt jugendfreien Dingen besudelten. Allerdings schien ich da der Einzige zu sein, denn nicht einmal Jon schien es zu stören, wie seine Gäste das Haus auseinandernahmen.
Aber wahrscheinlich war er viel zu sehr damit beschäftigt, irgendeinem Mädchen an die Wäsche zu gehen oder einen neuen Rekord bei irgendwelchen Trinkspielen aufzustellen.
Jetzt wo ich wieder hier stand und mich umsah, wurde mir wieder klar, warum ich für gewöhnlich Partys mied. Eigentlich ging es hier nicht darum Zeit mit seinen Freunden zu verbringen und Spaß zu haben, sondern sich zu betrinken, mit irgendwelchen Fremden rumzumachen und sein Image bei den anderen Schülern aufzupolieren. Und ich mochte weder mich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, noch mich mit Herpes anzustecken oder geschweigenden mir Hoffnungen zu machen, etwas an meinem Ruf ändern zu können. Vielleicht machte mich das zu einem Langweiler, aber da ich eigentlich nichts zu verlieren hatte, konnte ich damit leben.
Ich betrachtete das abgestandene Bier in meinem Becher, den man mir in die Hand gedrückt hatte, sobald wir das Haus betreten hatten und schnitt eine angewiderte Grimasse.
„Hör endlich auf so ein Gesicht zu ziehen und hab ein bisschen Spaß", meinte Cole plötzlich und klopfte mir in einer ermutigenden Geste auf die Schulter.
Ich zog fragend eine Braue hoch, aber Cole grinste nur. „Ich bin mir sicher, die Mädels dort drüben wären dir gerne dabei behilflich. Die beobachten dich schon die ganze Zeit", fügte er hinzu und deutete mit einem Nicken zu zwei Blondinen, die kichernd beieinander standen und mir vielsagende Blicke zuwarfen.
Aber ich schüttelte den Kopf und sah wieder zu meinem besten Freund. „Ich passe. Nicht mein Typ", sagte ich und nippte vorsichtig an meinem Getränk, nur um festzustellen, dass es genauso widerlich schmeckte wie es roch. Cole rollte mit den Augen. „Wenn ich nicht wüsste, dass du es nicht bis vor ein paar Monaten noch mit Savannah getrieben hast, könnte man glatt meinen, du wärst noch Jungfrau", brummte er. Ich boxte ihn in die Seite.
„Entschuldige, dass ich kein Interesse daran habe, Chlamydien zu bekommen, weil ich andauernd Frauen aufreiße wie du."
Cole lachte. „Also soweit ich weiß habe ich keine Geschlechtskrankheiten, obwohl ich viel Sex habe. Dass kannst du nicht von dir behaupten", erklärte er. „Wann hast du diese Sache mit Savannah beendet? Vor vier Monaten? Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du seit dem kein Sex mehr hattest."
Savannah und ich hatten bis vor kurzem noch etwas miteinander am Laufen gehabt. Wir kannten uns schon ziemlich lange und waren Freunde, als das ganze angefangen hat und hatten uns auf etwas Lockeres, Ungezwungenes geeinigt. Aber als sie vor einigen Monaten Andeutungen gemacht hat, sie würde mehr wollen, hatte ich den Schlussstrich gezogen. Denn für mich war sie nun einmal nachwievor einfach eine Freundin, mit der ich gelegentlich geschlafen hatte und ich wollte ihre Gefühle nicht für meine körperlichen Bedürfnisse ausnutzen, wenn ich überhaupt nicht dasselbe empfand. Das kam mir nicht fair vor. Weder ihr, noch mir gegenüber. Besonders wenn ich insgeheim seit Jahren für ein ganz anderes Mädchen schwärmte, auch wenn meine Chancen ziemlich schlecht standen.
„Und das bedeutet nicht den Weltuntergang", seufzte ich.
„Nein, aber ich habe einfach Mitleid mit deinem Schwanz, der sich seitdem mit deiner rechten Hand begnügen muss."
Ich versetzte ihm einen Stoß. „Können wir bitte aufhören über meinen Schwanz zu reden?"
Cole zuckte mit den Achseln, bevor er einen großen Schluck von seinem Drink nahm, wobei ich mich ernsthaft fragte, wie er dieses Gesöff überhaupt herunter bekam.
„Wenn du unbedingt weiter die Spaßbremse sein willst, werde ich mich jetzt um diese beiden reizenden Damen kümmern. Wir wollen ja nicht, dass sie sich einsam vorkommen." Er zwinkerte mir zu, bevor er hinüber zu den beiden Mädchen schlenderte, die mir noch immer hübsche Augen machten. Ich schüttelte amüsiert den Kopf über ihn.
Obwohl wir aus zwei völlig unterschiedlichen Welten stammten und uns in vielen Dingen unterschieden, waren wir beste Freunde seit der fünften Klasse. Und das alles nur weil ich dämlicher Idiot etwas beweisen wollte.
An jenem Tag hatte ich zwei Siebtklässler dabei beobachtet, wie sie sein Zwillingsschwester Charlie herum geschubst hatten. Ich, der schon damals schrecklich verknallt in sie gewesen war, hatte eine Chance gesehen, den Helden spielen zu können, und hatte mich ihnen in den Weg gestellt. Damals kam ich mir unfassbar mutig vor. Rückblickend war es wohl ziemlich dämlich gewesen, auch nur eine Sekunde zu glauben, ich hätte auch nur die geringste Chance gegen zwei Jungs, die nicht nur zwei Jahre älter, sondern auch mindestens einen halben Kopf größer als ich gewesen waren. Aber ich hatte einfach keine Sekunde länger mit ansehen können, wie sie dem Mädchen, für das ich seit der vierten Klasse insgeheim schwärmte, weh taten.
Aber als Cole mitbekam, dass ich seine Schwester verteidigte und dafür nun die Schläge einsteckte, stürzte er sich auf einen der Kerle. Dennoch hatten wir nicht geringste Chance, aber wir kamen mit einem blauen Augen, zahlreichen Prellungen und einer Woche Nachsitzen davon. Seither waren wir beste Freunde.
Damals hatte ich nicht glauben können, dass er mit mir befreundet sein wollte. Kinder wie er, die aus gutem Haus kamen, wollten für gewöhnlich nichts mit einem armen Jungen wie mir zu tun haben. Aber ihn hatte nie interessiert woher ich kam, wer meine Eltern waren oder was andere von ihm denken könnten, wenn er sich mit mir blicken ließ. Sein Vater, der Polizei Chef von Evenwood, war nicht begeistert gewesen, als er von unserer Freundschaft erfuhr. Man konnte es ihm angesichts meiner Herkunft und der kriminellen Vergangenheit meiner Eltern nicht verübeln, aber selbst das hatte Cole nie davon abgehalten, mit mir befreundet sein zu wollen.
Für seine bedingungslose Loyalität war ich ihm unglaublich dankbar. Ehrlich gestanden wüsste ich nicht, wo oder geschweigenden wer ich heute ohne ihn wäre.
Seufzend sah ich mich um. Während Cole sich den beiden Blondinen widmete, konnte ich mich zumindest mal umsehen. Ich bahnte mir einen Weg durch den langen Flur, wobei ich mich an einem wild knutschenden Pärchen vorbei schob und die schmatzenden Geräusche versuchte zu ignorieren. Ich verschwand lieber, bevor die sich noch vor meinen Augen die Klamotten vom Leib rissen und auf den polierten Fliesen Babys machten.
Ich kam an einem Raum vorbei, der das Esszimmer zu sein schien. Der riesige Esstisch war umfunktioniert worden zu einem provisorischen Bier-Pong- Feld. Es wunderte mich nicht, Jon und ein paar seiner hirnverbannten Freunde aus der Defense unseres Teams dort zu sehen. Aber ich wand mich ab, bevor sie mich entdecken konnten. Ich hatte wirklich keine Lust darauf mich mit ihnen, ihrer herablassenden Art oder den feindseligen Sprüchen auseinandersetzen zu müssen.
In der großzügigen Küche, die wahrscheinlich so groß war wie unser halbes Apartment, stapelten sich Plastikbecher, zahlreiche Flaschen, Bierkisten und ein paar Schüsseln mit Snacks. Erleichtert meinen stinkenden Drink loszuwerden, warf ich ihn in den Mülleimer und schnappte mir stattdessen eine Cherry Coke vom KüchentRylern, als ich den Hinterausgang entdeckte. ‚Ein bisschen frische Luft dürfte nicht schaden', dachte ich, als ich die kühle Klinke herunter drückte und schließlich hinaus ins Freie schlüpfte.
Die eisige Luft Mitte Januar schlug mir entgegen und zerrte an meiner erhitzten Haut, aber mich störte die Kälte nicht. Nicht einmal, als sie sich durch den flauschigen Stoff des Hoodies fraß und eine Gänsehaut überall dort hinterließ, wo sie mich streifte. Stattdessen sog ich sie mit einem tiefen Atemzug in mich auf, bis meine Lungen zu brennen begannen.
Ich sah mich um. Im Garten glitzerten im fahlen Mondlicht vereinzelte Rest des letzten Schnees, während sich vom sternenklaren Nachthimmel nur die Silhouetten der Bäume abhoben. Das Gelächter, die Stimmen und die Musik aus dem Inneren des Hauses waren nur gedämpft zu hören, als der Wind leise pfiff und mir eine paar dunkle Strähnen in die Stirn wehte. Bis mein Blick plötzlich an der kleinen Gestalt auf den Stufen der Verander hängen blieb.
Bei dem Anblick der rotbraunen Locken, die in sanften Wellen über ihren Rücken fielen, wäre mir beinahe das Herz in die Hose gerutscht. Ich hatte nicht damit gerechnet Charlie hier anzutreffen. Überhaupt hatte ich sie nicht auf der Party erwartet. Gerade, als ich überlegte wieder zu gehen und sie allein zu lassen, drehte sie den Kopf in meine Richtung und blinzelte verdutzt, als sie mich dort stehen sah. Ich schluckte. Damit hatte sich die Frage, ob ich wieder unbemerkt verschwinden sollte, von selbst geklärt.
Ich atmete ein letztes Mal tief durch, bevor ich mich ihr langsam näherte und bei ihr stehen blieb, wobei sie mich nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Ich deutete mit einem Nicken neben sie.
„Ist der Platz noch frei?", fragte ich hoffnungsvoll. Sie rutschte ein Stück beiseite, was ich als stille Aufforderung auffasste, mich zu ihr zu setzen. Also hockte ich mich wie sie auf die kalten Stufen und winkelte die Beine an. Ich verzog meine Lippen zu einem schiefen Grinsen.
„Hey", murmelte ich und ein scheues Lächeln erschien in ihrem Gesicht.
„Hi", erwiderte sie leise, bevor sich eine seltsame Stille über uns ausbreitet und wir verlegen den Blick abwandten. Anscheinend wussten wir beide nicht so recht, was wir jetzt sagen oder machen sollten.
Seltsam, dass wir uns schon so lange kannten und trotzdem in all der Zeit kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Dabei wünschte ich mir so sehr, dass es anders wäre. Umso fieberhafter überlegte ich, was ich zu ihr sagen könnte. Als Junge hatte ich mir oft Situationen wie diese ausgemalt und mir vorgestellt, sie mit irgendeinem verdammt coolen Spruch beeindrucken zu können.
„Also, was macht ein hübsches Mädchen wie du so allein hier draußen?", fragte ich und würde mir im nächsten Moment am liebsten mit der Hand vor die Stirn schlagen, weil das wie ein schlechter Anmachspruch klang. Bei der Grimasse, die ich dabei unmerklich schnitt, entlockte ich ihr ein kleines Lachen.
„Ich schwöre, ich meinem Kopf hatte sich das nicht so abgedroschen angehört." Das brachte sie anscheinend noch mehr zum Lachen, was mich schließlich ansteckte. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf.
„Ich war noch nie gut darin zu flirten", sagte ich, bevor ich großartig darüber nachdachte, was ich eigentlich sagte. Erst als Charlies Lachen verebbte und sie mich stattdessen geschockt aus großen, blauen Kulleraugen ansah, wurde mir klar, was ich da gesagt hatte.
Ich raufte mir die Haare. „Ich sollte am besten einfach meine Klappe halten und aufhören zu reden, bevor es noch peinlicher wird. Ich glaube, dass wäre für alle Beteiligten das Beste", beschloss ich und presste die Lippen fest aufeinander.
Als ich vorsichtig zu Charlie schielte, verbiss die sich allerdings ganz offensichtlich ein Lachen, bevor sie den Blick senkte. Sobald ihre Schultern verdächtig zu zucken begannen, warf ich ihr einen fassungslosen Blick zu. „Lachst du mich gerade aus?", fragte ich gespielt empört.
Sie setzte ein unschuldiges Lächeln auf, als sie den Kopf schüttelte. „Das würde ich doch nicht mal im Traum wagen", schwor sie mir, aber das freche Glitzern in ihren Augen verriet sie. Ich hob eine Braue. „Sicher? Du würdest mich doch nicht anlügen, oder?", neckte ich sie. „Niemals", sagte sie feierlich und hob ihre Hand. „Indianerehrenwort."
Ich schüttelte amüsiert den Kopf über sie, während ihre Mundwinkel verdächtig zuckten, als sie sich die rostfarbenen Strähnen hinters Ohr strich.
„Also, was machst du hier draußen in der Eiseskälte?", kam ich auf meine eigentliche Frage zurück. „Das könnte ich dich genauso gut fragen", erwiderte sie.
„Stimmt, aber ich habe zuerst gefragt."
Sie zuckte seufzend mit den Achseln, bevor sie wieder die Augen aufschlug und hoch zu den Sternen sah. Sie schien nach etwas am Himmel zu suchen und ich hätte zu gern gewusst wonach genau. Vielleicht nach Antworten, aber worauf? Was wohl in ihrem Kopf vorging?
Aber während sie den Kopf in den Nacken legte und die kleinen, funkelnden Lichter über uns bewunderte, bewunderte ich sie. Sie war auf so eine unkomplizierte Art schön, dass man einfach nicht anders konnte, als sie andauernd anzustarren. Oft ertappte ich mich in der Schule dabei, wie ich ihr unverhohlen nachsah oder sie heimlich von meinem Platz in der Cafeteria aus beobachtete. Ich tat es nicht absichtlich, aber es passierte mir immer wieder, ohne dass ich etwas dagegen ausrichten konnte. Es war fast so als würde ihre bloße Anwesenheit meine Aufmerksamkeit wie ein Magnet auf sich ziehen. Inzwischen kam ich mir selbst schon ziemlich unheimlich vor.
Aber was sollte ich sagen, immerhin war ich seit der vierten Klasse schwer verknallt in sie, ohne das sie davon etwas ahnte. Peinlich genug, dass ich selbst nach all den Jahren noch immer nicht den Mut aufbrachte, sie endlich nach einem Date zu fragen und offen über meine Gefühle für sie zu sprechen. Dabei könnte man nach all der Zeit denken, ich wäre endlich reifer und erwachsener in dieser Hinsicht geworden, aber das war ganz offensichtlicher ein Irrtum. Ich kam mir nämlich immer noch vor, wie der kleine, ängstliche Junge, der zwar bereit war, sich mit zwei Siebtklässlern ihretwegen zu prügeln, aber es nicht einmal im Traum wagte, sie direkt anzusprechen. Inzwischen redeten wir zwar miteinander, da das nach all den Jahren, die Cole und ich schon Freunde waren, unumgänglich war, dennoch bestanden diese Konversationen oft aus nicht mehr als formellen Floskeln. Doch selbst diese kurzen, bedeutungslosen Augenblicke schwirrten oft noch stundenlang in meinem Kopf herum. Denn manchmal sind die scheinbar kleinsten Augenblicke, gar nicht so klein, wie es scheint.
Allerdings setzte ich nie das um, was ich mir meistens daraufhin vornahm. Lange ich hatte ich deswegen Ausreden gesucht, warum ich es nicht tat. Entweder schob ich es darauf, dass sie die Schwester meines besten Freundes war oder behauptete, dass ich bei der Tochter des Sheriffs allein wegen meiner Herkunft nicht die geringste Chance hätte. Vielleicht war etwas Wahres daran, aber schlussendlich wusste ich, dass es nur Ausreden waren.
Wenn man so lange für jemanden schwärmte wie ich für Charlie, war es noch schlimmer zurück gewiesen zu werden. Und davor hatte ich Angst, was mich wahrscheinlich zu einem Feigling machte, aber ich brachte einfach nicht den nötigen Mut auf, endlich über meinen Schatten zu springen.
„Ich bin wohl einfach nicht der Typ für Partys und schaue mir lieber die Sterne an, als anderen dabei zu zusehen, wie sie sich hemmungslos betrinken", sagte sie plötzlich und sah zu mir. Als sie merkte, dass sie mich dabei erwischt hatte, wie ich sie anstarrte, errötete sie unwillkürlich und biss sich auf die Unterlippe. Ein Tick, den ich schon öfters bei ihr beobachtete hatte, wann immer sie nervös wurde. Da es ihr unangenehm zu sein schien, wenn ich sie so ansah, blickte ich hinunter auf die Cherry Coke in meiner Hand. Ich zupfte an dem Etikett, um meine Hände zu beschäftigen, die bei dieser Kälte inzwischen fast taub waren und räusperte mich, bis mein Atem in kleinen Wölkchen vor mir aufstieg.
„Ich mag Partys auch nicht besonders. Es stinkt nach abgestanden Bier, es ist übertrieben laut, sodass man kaum sein eigenes Wort versteht, die Musik ist grauenvoll und man muss ständig anderen dabei zusehen, wie sie Trockensex haben. Da sitze ich lieber Zuhause und sehe mir das Spiel im Fernsehen an", murmelte ich und fuhr die geschwungene Schrift des Coca Cola Logos mit dem Finger nach.
„Aber das erklärt trotzdem nicht, warum du hier draußen sitzt und dir deinen Arsch abfrierst, wenn du auch Zuhause sein könntest. Mir blieb ja keine Wahl, sonst hätte dein Bruder mir wahrscheinlich ewig Vorhaltungen gemacht, was für ein Langweiler ich wäre und du weißt, wie nachtragend er bei sowas sein kann." Charlie nickte und ich meinte so etwas wie ein Lächeln zu erkennen, als ich ihren Zwillingsbruder erwähnte.
„Also, warum bist du hier, anstatt es dir Zuhause mit deinen Büchern über Astrologie bequem zu machen?"
Solange ich Charlie kannte, hatte sie ihren Kopf in sämtlichen Büchern vergraben, die von Sternen, Himmelsbildern und dem Universum handelten. Cole hatte sie immer damit aufgezogen und sie Nerd genannt. Ich dagegen war immer beeindruckt gewesen, dass ich sie sich schon in so jungem Alter für solche Dinge interessierte, wo andere Mädchen noch mit Puppen spielten und ich, wie die meisten Jungs, außer Football nichts anderes im Kopf hatte. Wenn sie nicht mit ihrem besten Freund Ethan White in der Cafeteria zu Mittag aß, war sie vermutlich in der Schulbibliothek und las.
„Ich schätze, ich wollte mal raus und diese typischen High School Erfahrungen machen, von denen alle immer so viel erzählen. Aber ehrlich gestanden, habe ich keine Ahnung was daran"-, sie deutete hinter sich auf das Haus -„so toll sein soll."
Ich zuckte mit den Achseln. Das konnte ich ihr auch nicht sagen.
„Bist du allein hier her gefahren oder bist du mit Cole gekommen?", fragte ich.
„Mit meinem Bruder, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob der überhaupt noch fahren kann oder ob er es nicht gerade mit irgendeinem Mädchen auf der Rückbank seines Wagen treibt. Zutrauen würde ich es ihm und ich weiß nicht, ob ich im selben Raum sitzen könnte, wo er kurz zuvor noch Sex hatte", gestand sie und verzog das Gesicht, während ich leise in mich hinein lachte. „Das kann ich verstehen", gab ich zu und schüttelte mich, wenn ich daran dachte, welche und wie viele Körperflüssigkeiten schon alle in seinem Wagen ausgetauscht worden waren.
Plötzlich kam mir eine Idee und bevor ich wusste was ich tat oder mir wie üblich den Kopf zerbrach, platzte ich damit einfach so heraus.
„Da wir beide nicht wirklich hier sein wollen, aber ich zumindest wirklich keine Lust habe, mir länger den Hinter hier draußen abzufrieren, könnten wir doch wo anders hinfahren?", sagte ich und legte fragend den Kopf schief, wobei mein Herz aus unerklärlichen Gründen bis zum Hals schlug.
Sie begann wieder an ihrer Unterlippe zu knabbern. „Und wo schlägst du vor fahren wir hin?", bohrte sie nach. „Kommt darauf an, was du gerne machen würdest", entgegnete ich achselzuckend.
Als sie immer noch ratlos begann sich eine Strähne um den Finger zu wickeln, überlegte ich was wir machen könnten. „Wir könnten zu Rosies Diner fahren und ich lade dich auf eine heiße Schokolade ein. Natürlich nur wenn du überhaupt heiße Schokolade willst. Du kannst natürlich auch was anderes nehmen, es gibt dort nämlich auch eine große Auswahl an Milchshakes und ziemlich leckere Waffeln", schlug ich vor und begann mit einer Hand nervös meinen Nacken zu kneten. Wahrscheinlich wollte sie einfach nur Nachhause, ein Buch lesen und es sich in ihrem gemütlichen Zimmer bequem machen, anstatt mit dem besten Freund ihres Bruders in irgendeinem alten Diner zu hocken und eine heiße Schokolade zu trinken. Ganz zu schwiegen davon, dass ich mich aufführte wie ein verliebter Zwölfjähriger, der noch nie ein Wort mit einem Mädchen gewechselt hatte und irgendeinen Schwachsinn vor sich hin brabbelte.
„Das klingt gut", sagte sie auf einmal. Meine Augenbrauen schossen in die Höhe, als ich sie überrascht ansah. „Wirklich?", fragte ich verwundert und wohl etwas zu schnell, denn sie lächelte vergnügt.
„Wieso nicht? Ich liebe heiße Schokolade und wie oft kommt es schon vor, dass ich von Shapiro, dem geheimnisvollen Star-Quaterback der Evenwood High, eingeladen werde?", zog sie mich auf und entlockte mir ein schiefes Grinsen.
Dass ich gar nicht so geheimnisvoll war, sondern es einfach - im Gegensatz zu den meisten in unserer Gesellschaft - nicht für nötig hielt, alles was ich tat oder dachte zu tweeten, behielt ich für mich. Mein eher ereignissloser Alltag schien mir es einfach nicht wert zu sein, denn selbst wenn ich wollte, was hätte schon Interessantes zu erzählen, außer dass ich nach der Schule und neben dem Training die meiste Zeit bei meinem Vater in der Werkstatt aushalf?
Ebenso übertrieben erschien es mir, mich Star-Quaterback zu nennen. Zwar hatte ich die vergangene Saison zur Überraschung aller den Highschool State Record als All-time Leading Passer geknackt, aber das machte mich weder zu einem Star, noch erklärte es die plötzlich Aufregung um meine Person. Ich wusste, dass ich ein gewisses Talent und einen guten Wurfarm besaß, aber dennoch verstand ich nicht, warum einige so ein Theater deshalb machten.
Ich trainierte hart, um so spielen zu können, weil ich mir irgendwann ein Stipendium erhoffte. Das wäre für mich die einzige Chance an einem College studieren zu können, denn alles andere konnten wir uns nicht leisten. Auch wenn mein Dad mir versuchte all die Dinge zu ermöglichen, die ich mir wünschte, wusste ich, dass ein Stipendium in dieser Hinsicht meine einzige Hoffnung war. Also tat ich alles, um die Scouts auf mich aufmerksam zu machen und möglichst Bestleistungen abzuliefern, denn hierbei stand meiner Zukunft auf dem Spiel. Aber das machte mich noch lange nicht zu einem Star, sondern höchstens zu einem sehr engagierten Spieler.
Wenn das zu verheimlich allerdings bedeutete, dass ich etwas Zeit allein mit Charlie verbringen konnte, behielt ich das für mich. Auch wenn mich der Gedanke, ganz allein mit Charlie zu sein, schrecklich nervös machte, ließ er gleichzeitig mein Herz aus lauter Vorfreude Luftsprünge vollführen. Denn trotz all der Jahre, die wir uns inzwischen kannten, konnte ich mich nicht daran erinnern, mal wirklich allein mit ihr gewesen zu sein und mich ernsthaft mit ihr unterhalten zu haben. So ganz unter vier Augen.
Ich sprang so ruckartig auf, dass sie verdattert blinzelte, als ich ihr meine Hand reichte, um ihr aufzuhelfen. „Na dann, komm. Du siehst schon durchgefroren genug aus", sagte ich, obwohl ich wahrscheinlich mehr befürchtete, sie könnte ihre Meinung ändern oder ich verlor doch noch den Mut. Ihre kleine, eiskalte Hand legte sich in meine und sie stand auf. „Und was machst du mit deiner Cherry Coke? Die hast du nicht einmal angerührt", fragte sie und deutete auf die Flasche in meiner Hand, die ich fast vergessen hätte in der ganzen Aufregung. Ich dachte lieber nicht darüber nach wie seltsam ihr mein Verhalten vorkommen mochte und winkte stattdessen lässig ab, bevor ich sie einfach auf das Geländer der Verander stellte.
„Ist mir egal, denn wir werden jetzt eine heiße Schokolade trinken gehen. Wer will da etwas von einer Cherry Coke wissen", sagte ich, zwinkerte ihr zu und zog sie an ihrer Hand weiter zu meinem Pickup.
Der rote Ford Pickup hatte bereits seine besten Jahre hinter sich, wie nicht schwer zu erkennen war. Der Lack war an manchen Stellen gerostet und aufgeplatzt, die Türen klemmten, eine nicht zu übersehende Delle zierte die Beifahrerseite und die alten Polster der Sitzbank waren eingesessen. Allerdings war das nicht zu vergleichen, wie er gewesen war, bevor ich ihm für einen Spottpreis vor dem Schrottplatzt gerettet und so gut ich konnte wieder auf Vordermann gebracht hatte.
Ich beeilte mich, die Tür zu öffnen, wie es ein Gentleman tun würde, bevor sie es konnte. Sie schüttelte amüsiert den Kopf, als sie sich von mir in den Wagen helfen ließ und begann sich anzuschnallen, nachdem die Tür wieder zugeschlagen hatte. Ich joggte um die Motorhaube herum und schlüpfte neben sie in das Wageninnere, ehe ich den Schlüssel ins Zündschloss schob und der Motor leise aufheulte. Ein vertrautes Geräusch, dass wie immer diese seltsame, beruhigende Wirkung auf mich hatte.
Während ich ausparkte und schließlich die Straße entlang fuhr, die gesäumt war von überdimensionalen Häusern und zwanghaft perfekten Vorgärten, kratzte eine alte Melodie in den Boxen und füllte die Stille, begleitet von dem gleichmäßigen Surren der Belüftung.
„Ich liebe diesen Song", seufzte sie und schloss lächelnd die Augen, als sie den Kopf gegen die Lehne sinke ließ. Ihre Finger trommelten neben ihr auf dem Sitz den Rhythmus des Songs, während ich glaubte sie leise summen zu hören. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, bevor ich meine Hand nach dem kleinen Rädchen an dem veralteten Radio ausstreckte und die Musik lauter machte. Schweigend genoss sie die Musik, als die niedlichen Häuser an uns vorbei zogen und das pulsierende Licht der Laternen ihre zarten Züge erhellte.
Ich dagegen musste mich anstrengen, nach vorne zu sehen, anstatt sie andauernd anzustarren. Es schien fast so, als würde ein Teil von mir fürchten, sie könnte verschwinden und das alles wäre bloß einer meiner dämlichen Tagträume, wenn ich den Blick zulange von ihr abwand. Schwachsinnig, ich weiß.
Charlie schien diese Stille zwischen uns nichts auszumachen, während sie lauschte, wie ein Song in den anderen überging. In meinem Kopf allerdings drehte sich irgendwie alles.
Als schließlich eine viertel Stunde später das leuchtende Neonschild zwischen den Bäumen auftauchte und uns den Weg wies, setzte sich Charlie augenblicklich auf und lehnte sich ein Stück nach vorne, um besser sehen zu können. Ich bog auf den Parkplatzt und fand ganz vorne eine freie Parklücke. Um diese Zeit trieben sich nur noch wenige soweit vom Zentrum in dieser Gegend der Stadt herum.
Rosies Diner lag quasi direkt auf der Grenze zwischen Graham, dem armen, von Verbrechen gezeichneten Viertel in dem ich groß geworden war, und der East Side. Und vielleicht war es genau das, was diesen Ort so besonders machte. Hier interessierte es keinen aus welchem Teil der Stadt man kam, wieviel Geld man verdiente, was man tat oder verbrochen hatte. Hier trafen alle möglichen Gesellschafts- und Einkommensschichten zusammen, aber niemanden interessierte das hier. Man wurde nicht komisch angesehen, weil sich ein Typ aus dem verdreckten Graham in ein schickes Restaurant verirrte oder ein Kerl wie Jon oder Cole plötzlich in einer alten Bikerkneipe auftauchten.
Hier war das egal.
Die Musik verstummte, als ich den Schlüssel zog und hinüber zu Charlie sah, die neugierig das kleine Diner musterte. „Bereit?", fragte ich, was sie mit einem kleinen Nicken abtat und wir schließlich ausstiegen.
Als ich die Tür des Diners aufzog und hinter Charlie eintrat, seufzte ich zufrieden bei dem Duft von Waffeln, Käse überbackenen Sandwiches und gebratenem Speck, den man zu jeder Tageszeit hier bekam. Ich ließ meinen Blick durch das Lokal schweifen. Über die kleine Theke, an der lediglich ein älterer Mann mit einer Zeitung saß und seine Pommes geistesabwesend in dem Ketchup versenkte, während eine dampfende Tasse Kaffee vor ihm stand. Außer ihm, saß lediglich ein kicherndes Pärchen weiter abseits in einer Sitznische und teilte sich einen Milchshake und ein Mädchen, das konzentriert auf ihrem Smartphone herum tippte.
Hinter der Theke schwang plötzlich die Tür zur Küche auf und Rosie, ganz offensichtlich die Besitzerin, erschien mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, sodass sich kleine Fältchen um ihre grauen Augen bildeten und stemmte die Händen in die runden Hüften. Wie üblich trug sie eine quietsch bunte Schürze, die in denselben Mint und Rosa Tönen, wie der restliche Laden gehalten war.
„Na sieh einer an, wer hier zu später Stunde erscheint. Ryler Ripley!", rief sie erfreut, was allerdings keinen der Anwesen zu interessieren schien. „Ich freue mich auch sie zu sehen, Rosie", begrüßte ich sie höflich. Sie legte den Kopf schief und musterte mich mit gerunzelter Stirn, wobei eine silbern durchwirkte Strähne sich aus ihrem Dutt löste. „Sag mal, bist du schon wieder gewachsen? Du siehst anders aus", meinte sie.
Ich schüttelte grinsend den Kopf. „Nein, ich bin genauso groß wie letztes Mal, als ich hier war."
Sie seufzte melancholisch. „Wahrscheinlich hast du recht, aber du wirst für mich immer der kleine Junge mit der riesigen Zahnlücke, den aufgeschürften Knien und dem alten Football unterm Arm sein, der damals hier herein spaziert kam."
Charlie sah interessierte zwischen uns hin und her, als sich die nette, alte Dame plötzlich an sie wand. „Er war damals schon ein kleiner Herzensbrecher, aber wer könnte diesem Lächeln auch widerstehen, nicht wahr?" Rosie zwinkerte ihr zu, während sie errötete und sich ertappt auf die Unterlippe biss. Mit schief gelegtem Kopf musterte ich sie von der Seite, bevor ich wieder zurück zu der niedlichen, alten Dame sah, die uns gespannt beobachtete.
„Wie geht es deinem alten Herren? Er hat sich lange nicht mehr blicken lassen", fragte sie, während sie mit einem Lappen über die Theke wischte. „Gut, aber im Augenblick haben wir ziemlich viel mit der Werkstatt zu tun", erklärte ich. Wir konnten wirklich jeden Auftrag gebrauchen, aber das behielt ich für mich. „Verstehe, aber es ist schön zu hören, wenn es momentan so gut bei euch läuft. Grüß ihn lieb von mir."
Rosie war eine alte Freundin meines Dads, der bereits zu seiner Jugend hier Milchshakes geschlürft und fettige Pfandkuchen verdrückt hatte.
„Nun gut, bevor ihr noch Wurzeln schlagt, sucht euch doch ein Platz und schon mal was zu Trinken aus. Ich komme gleich zu euch, um eure Bestellungen aufzunehmen", sagte sie, bevor sie wieder hinter der Schwingtür in die Küche verschwand.
Ich sah Charlie fragend an, bevor ich in einer ausholenden Geste auf die freien Tische wies. „Such dir aus, wo wir sitzen sollen." Sie sah sich kurz um, ehe sie eine Sitznische weiter hinten an einem der Fenster ansteuerte, von wo aus man einen guten Blick über das Diner und auf den Parkplatz hatte. Dieser wurde von den großen Neonschildern, die an der Außenfassade befestigt waren, hell erleuchtet und in ein grelles Pink und Blau getaucht.
Ich rutschte in die Bank gegenüber von Charlie und machte es mir auf den alten Sitzgarnituren gemütlich, während Charlie sich die Karte schnappte und die verschiedenen Angebote studierte.
„Du hast nicht gelogen, als du meintest, hier gäbe es eine große Auswahl an Milchshakes", meinte sie, als sie die unzähligen Sorten überflog, ehe sie die Karte wieder zu klappte. „Du kannst dir gerne einen bestellen, wenn du einen probieren möchtest. Die sind wirklich lecker", bot ich ihr an, aber sie schüttelte den Kopf, während sie die Karte in den dafür vorgesehenen Halter schob und schließlich die Hände vor sich auf dem Tisch faltete.
„Keine Chance. Ich will jetzt einen großen Kakao mit extra viel Schlagsahne und diesen kleinen Marshmallows." Ich grinste.
„Bekommst du, ich wollte nur, dass du weißt, dass du auch gerne etwas anderes nehmen kannst, wenn du das möchtest", erklärte ich, als ich begann mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln.
„Gut, dass merke ich mir fürs nächste Mal", erwiderte sie daraufhin nur und grinste diebisch. Ich hob eine Braue. „Nächstes Mal?", neckte ich sie, aber sie lächelte nur verschwörerisch, als auch schon Rosie an unseren Tisch trat.
„Also, was darf es für euch zwei Turteltäubchen sein?"
„Zweimal eine heiße Schokolade, mit extra viel Schlagsahne und kleinen Marshmallows, bitte."
Als ich das sagte, zwinkerte ich Charlie grinsend zu, woraufhin eine niedliche Röte ihre Wangen färbte. Ich meinte zu sehen, wie ein kleines Grinsen ihre Lippen umspielte, ehe sie den Blick abwandte und durch das Fenster hinaus auf den menschenleeren Parkplatz sah.
„Kommt sofort", flötete Rosie, ehe sie sich wieder entfernte und hinter der Theke begann unsere Getränke zu zubereiten. Der Mann, der bis eben noch in der Zeitung gelesen hatte, bat um einen weiteren Kaffee und wickelte sie in ein Gespräch ein. Er sagte irgendetwas, dass sie zum Lachen brachte, ehe ich den Kopf abwand und wieder zu Charlie sah. Als ich ihrem forschenden Blick begegnete, hob ich fragend eine Augenbraue und legte den Kopf schräg. Eine stumme Frage.
„Du scheinst sie gut zu kennen, mhm?", fragte sie und begann sich gedankenverloren eine rotbraune Locke, um den Zeigefinger zu wickeln. Ich rutschte tiefer auf meinem Platz und legte einen Arm über die Lehne, während ich mit einem knappen Nicken antwortete.
„Mein Dad und ich sind so etwas wie Stammkunden. Solange ich denken kann, hat mich mein Dad alle paar Wochen hier her gebracht und dann haben wir uns mit Bergen von Waffeln, Eiscreme, Rührei mit Speck und Sandwiches vollgestopft, bis wir fast geplatzt sind", erklärte ich und musste bei der Erinnerung daran lächeln.
„Wir haben immer genau dort drüben gesessen." Ich deutete auf eine Sitznische eine paar Meter weitere. „Inzwischen machen Dad und ich das, wenn wir ein wichtiges Spiel gewonnen oder einen besonderen Auftrag abgeschlossen haben", fügte ich hinzu.
„Ein Ritual zwischen Vater und Sohn", murmelte sie.
„Hast du irgendwelche Rituale mit deinen Eltern?"
Sie überlegten einen Augenblick schweigend.
„Nicht wirklich, aber als Cole und ich kleiner waren und unser Grandpa zu Besuch war, hat er uns an schönen Tagen raus aus der Stadt gebracht. Es gibt oben, in Wildfox Dawn, versteckt im Wald, einen besonderen Platz. Er ist ziemlich weit abgelegen von den Wanderwegen und ich habe nicht die geringste Ahnung, woher Grandpa ihn kannte. Aber von dort hatte man eine fantastische Aussicht auf das Tal und die Stadt", erzählte sie und ihre Augen begannen bei der Erinnerung daran zu funkeln.
„Wir haben uns immer den Sonnenuntergang angesehen, während er uns immer Geschichten und alte Legenden über die Sterne erzählt hat. Wenn wir dort oben standen, sah alles andere so winzig aus und ich hatte immer diesen komischen Gedanken, dass wenn ich zum Horizont gesehen habe, dahinter die ganze Welt auf mich warten würde. Darauf wartete von mir entdeckt und erforscht zu werden. Zumindest habe ich mir das immer so vorgestellt", murmelte sie und begann nervös mit der Servierte vor ihr zu spielen. „Aber damals kam es mir auch noch so vor, als könnte ich dort die Sterne vom Himmel holen und sie wie Muscheln am Strand sammeln. Albern und ziemlich dämlich, aber als Kind war ich von diesem Gedanken total fasziniert gewesen."
Ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln, als sie mich mit türkisblauen Augen durch ihre langen Wimpern hindurch ansah. „Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für ziemlich bescheuert, falls du das nicht schon vorher getan hast."
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, aber selbst wenn ich es tun würde, sollte dir das egal sein, was andere über dich oder deine Träume denken. Es zählt nur, was du darüber denkst, denn letztendlich bist du die Einzige, die sie wahr werden lassen kann", sagte ich und fühlte mich dabei wie ein schlechter Lebensratgeber. Die, in denen irgendwelche pseudo therapeutische Weisheiten standen, die man dann als Poster an seine Wände hingen um eine positive, optimistische Atmosphäre zu schaffen. Nur, dass ich aus eigener Erfahrung wusste, wie wichtig der Glaube an sich selbst auf dem Weg zu seinen Zielen sein kann, so schrecklich kitschig, dass auch klang.
Rosie kam mit zwei riesigen Bechern mit heißer Schokolade und einem gewaltigen Berg Sahne an unseren Tisch und stellte unsere Getränke vor uns ab.
„Danke", murmelte Charlie leise und umklammerte mit ihren kleinen Händen die riesige Tasse, um sich daran aufzuwärmen. „Lasst es euch schmecken. Wenn ihr noch etwas wollt, sagt einfach bescheid", erklärte Rosie, ehe sie wieder verschwand und uns allein ließ.
Ich räusperte mich.
„Zumindest, würde ich darauf hören, was andere sagen, hätte ich deinen Bruder nie kennengelernt, wäre niemals Quaterback geworden oder hätte mich getraut auch nur übers College nachzudenken. Denn, seien wir ehrlich, wenn es nach den anderen geht, bin ich in ihren Augen meistens krimineller Abschaum, der wie alle anderen, die in Graham groß geworden sind, es nie zu etwas bringen, Verbrecher werden und eines Tages in der Gosse enden werde", fügte ich hinzu und spürte wie sie mich aufmerksam studierte, als ich das sagte. Sie schien etwas einwenden zu wollen, aber ich redete einfach weiter. „Klar, ich bin längst nicht so selbstbewusst, wie dein Bruder, aber wegen Menschen wie ihm und meinem Dad habe ich gelernt zumindest zu meinen Träumen und meiner Meinung zu stehen, egal wie absurd oder abwegig sie andere finden. Was zählt ist was du willst und nicht was andere von dir erwarten", beendete ich meine Rede und wir schwiegen einen Augenblick,
„Das klingt toll, aber es ist leichter gesagt, als getan, wenn es darum geht, nach den Sternen zu greifen", gestand sie, wobei ich mir sicher war, Letzteres meinte sie metaphorisch, und wirkte dabei irgendwie niedergeschlagen, während sie abwesend den Berg Sahne beim Schmelzen zusah. Offensichtlich steckte mehr dahinter.
„Manchmal braucht es nur den richtigen Menschen, der dich auf seinen Schultern trägt, damit du die Sterne erreichen kannst", erwiderte ich und legte den Kopf schief, in der Hoffnung sie von den traurigen Gedanken abzulenken, die in ihr aufkeimten. Tatsächlich gelang es mir, denn sie hob den Kopf und sah mich mit diesen atemberaubenden, türkisblauen Augen neugierig an.
„Und würdest du für mich dieser Mensch sein?" Sie schien scherzen zu wollen, die angespannte Stimmung zu lockern, doch etwas an der Art wie sie mich ansah, verriet mir, dass sie so jemanden brauchte. Jemand, der ihr half, ihr Mut machte und an sie glaubte, selbst wenn sie es nicht mehr tat, sowie es ihr Bruder für mich getan hatte. Und ich wollte dieser Mensch für sie sein.
Meine Stimme klang rau, als ich ohne den Blick abzuwenden sagte: „Ich würde für dich sogar die Sterne stehlen, Charlie Ashbeern."
„Versprochen?", fragte sie leise. Ein kleines, aufrichtiges Lächeln zupfte an ihren Lippen, das etwas in ihrem Blick aufleuchten ließ, während wir scheinbar immer tiefer in den des anderen versanken und die Welt um uns herum allmählich zu verblassen schien.
„Versprochen."
• ☆ •
Mein Wagen kam eine gute Stunde später vor dem butterblumengelben Haus zum stehen. Ich war diesen Anblick vertraut und hier zu sein, dürfte für mich nichts ungewöhnliches sein, doch dieser Abend war anders. Ich holte nicht Cole ab oder besuchte ihn, damit wir in seinem Zimmer zockten und Pizza aßen, bis sein Vater nach Hause kam. Dieses Mal brachte ich das Mädchen nach Hause, das seit Jahren meine Gedanken und vielleicht auch schon einen gewisses Teil meines Herzens beherrschte, wenn auch unwissend.
„Du hättest wirklich nicht alles zahlen müssen", entgegnete sie erneut. Ich schüttelte vehement den Kopf. „Ich hatte gesagt, ich würde dich einladen", wandte ich ein und löste den Gurt, allerdings schien sie das nicht überzeugen. „Du hast gesagt, du würdest mich auf eine heiße Schokolade einladen. Nicht vier!"
Ich schüttelte amüsiert den Kopf. „Erstens wäre ich mich ziemlich dämlich vorgekommen, darauf zu bestehen, dir nur ein Getränk zu bezahlen und zweitens würde mir mein Vater ordentlich die Ohren langziehen, wenn er erfahren würde, dass ich dich deinen Teil der Rechnung hätte bezahlen lassen", erklärte ich ihr. „Und Drittens, schien es mir das Mindeste dir die Getränke zu bezahlen, nachdem ich dich entführt habe und du mich tatsächlich über eine Stunde ertragen hast"
Ich zwinkerte ihr zu, aber sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich abschnallt und die Tür öffnete. „Ist es überhaupt noch eine Entführung, wenn ich von dir entführt werden wollte?", hakte sie nach und biss sich lächelnd auf die Lippen.
„Sag du es mir, mein Vater ist immerhin nicht der Sheriff."
Bei der Erwähnung ihres Vaters verrutschte ihr Lächeln leicht. Ich wusste nur zu gut, dass ihr Vater kein einfacher Mann war. Er liebte seine Frau und seine Kinder mehr als alles andere auf der Welt. So sehr, dass er manchmal etwas überfürsorglich und Fremden - besonders Leuten wie mir - gegenüber unglaublich misstrauisch war. Genug, um seinen Kindern diesbezüglich Vorschriften machen zu wollen, welche es allerdings, zumindest was den Umgang mit mir betraf, nicht zu interessieren schienen. Ihnen war im Gegensatz zu ihrem Vater egal, woher ich kam oder wie meine Vergangenheit aussah.
„Wenn er davon wüsste, würde er das wahrscheinlich wirklich so sehen", schnaubte sie.
„Na dann, komm, ich bring dich lieber schnell zur Haustür, bevor er mich noch festnimmt und aufs Revier bringt", scherzte ich.
Ich persönlich hatte das Misstrauen ihrem Vater nie zum Vorwurf gemacht, denn selbst ich vertraute niemanden, der aus Graham kam. Wenn meine Kinder sich mit jemanden wie mir, bei meiner familiären Vorgeschichten, herumtreiben würden, wäre ich auch beunruhigt. Denn ich sah jeden Tag, was in unserer Nachbarschaft geschah und was dieses Viertel der Stadt aus den Menschen machte. Wie sie von Drogen, Gewalt und zwielichtigen Geschäften verzerrt und allmählich aufgefressen wurden. Ganz zu schweigen davon, dass ich selbst wusste, wozu diese Dinge Menschen treiben konnten. Wie weit manche bereit waren dafür zu gehen und wie viel sie dafür aufgaben. Wie kaputt es einen Menschen machte.
„Du musst mich nicht zur Haustür bringen. Das sind vielleicht 15 Meter und die schaff ich schon allein", versicherte sie mir, aber ich überging das einfach und schlüpfte aus dem Wagen.
Ich hatte gerade den Wagen umrundet und machte bereits Anstalten, ihr wieder die Tür zu öffnen, aber sie kam mir zuvor und kletterte selbst heraus. „Du bist ziemlich stur, was?", fragte sie und stemmte die Hände fast schon herausfordernd in die Hüften, was mir ein dämliches Grinsen entlockte. „Ich bin eben sehr entschlossen, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe", meinte ich daraufhin nur achselzuckend und deutete schließlich mit einem Nicken zu ihrem Haus.
„In dieser Hinsicht sind mein Bruder und du euch sehr ähnlich, weißt du das?", schnaubte sie, aber ich war mir sicher ein Lächeln herauszuhören, während sie sich bereits an mir vorbei schob und auf das kleine, einladende Häuschen zusteuerte.
Mit ein paar großen Schritten holte ich sie wieder ein und lief direkt neben ihr den kleinen Pflasterweg entlang, der sich durch den kleinen Vorgarten, vorbei einer alten Eiche, bis zur Verander des Hauses schlängelte.
Ich zog die Schultern an, um mich etwas gegen den eisigen Wind abzuschirmen, der durch die kahlen Äste des Baums pfiff. Früher waren Cole und ich oft daran empor geklettert, wo wir von der Baumkrone aus die gesamte Nachbarschaft überblickt und das rege Treiben beobachtet hatten. Zumindest solange bis ein Ast unter Cole abbrach, er herunterfiel und sich dummerweise seinen Arm brach. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie finster mich Mr. Ashbeern deshalb angesehen hatte, als wäre ich daran schuld gewesen und tatsächlich hatte ich das damals auch angenommen. Einen Augenblick hatte ich sogar befürchtet, Cole könnte mir deswegen böse sein, aber nachdem er mir am nächsten Tag stolz seinen Gibbs präsentierte und wir gemeinsam witzige Cartoons darauf kritzelten, war ich unglaublich erleichtert gewesen.
Bei der Erinnerung daran musste ich lächeln, während ich die Eiche einen Augenblick lang betrachtete. Mit ihren Wurzeln, die hier und da wie Tentakeln aus der Erde ragten, den knochigen Ästen, die im Sommer so viele saftig grüne Blätter trugen, dass sie sich unter ihrem Gewicht verbogen und der rissigen Rinde, die Geschichten über verheerende Stürme, brutalen Frost und trockene Sommer erzählte. Und während ich so da stand, meine tauben Hände in die Taschen meiner Jeans geschoben, spürte ich Charlies Blick auf mir. Sie stand auf der untersten Stufe der Verander und hatte sich zu mir umgedreht, als sie bemerkt hatte, dass ich stehen geblieben war.
„Danke", sagte sie mit einem Mal, während ihre Silhouette von dem warmen Licht der Außenleuchte eingehüllt wurde, die neben der Haustür brannte. Sie hatte ebenso wie ich die Schultern angezogen und die Arme um sich geschlungen, als würde sie sich selbst wärmen wollen.
Ich wandte mich ihr nun ganz zu und kam mich langsamen Schritten näher, bis ich direkt vor ihr stehen blieb und mich schließlich an das Geländer lehnte, wo bereits an manchen Stellen die weiße Farbe abblätterte.
„Wofür?", fragte ich mit leiser Stimme.
Sie sah zwischen ihren langen Wimpern hindurch zu mir auf. „Für heute Abend."
Mein linker Mundwinkel zuckte. „Obwohl ich gegen deinen Willen alles bezahlt habe?"
Sie biss sich lächelnd auf ihre Lippe, während ihre Augen im Licht des Mondes zu glühen schienen. Keine Spur mehr von der seltsamen Schwere, die in ihnen gelegen hatte. „Ich frage mich, warum wir das nicht schon früher gemacht haben. Ich meine, wir kennen uns schon so lange und trotzdem weiß ich erst seit heute Abend, was für ein Mensch du bist", sagte sie nachdenklich. Ich runzelte die Stirn.
„Was für ein Mensch bin ich den?", hakte ich ebenso neugierig wie vorsichtig nach, da ich nicht wusste, ob ich die Antwort hören wollte. Aber sie lächelte nur. „Einer, dem die Versprechen, die er gibt, etwas bedeuten."
Diese Antwort ließ mich stutzen. Ich hatte vieles erwartet, aber sicherlich nicht so etwas.
Einen Augenblick musterte ich sie einfach nur. Wie sie vor mir stand. Ihre rostfarbenen Haare vom Wind zerzaust, die von der Kälte rote Nasenspitze, auf der ich elfeinhalb Sommersprossen zählte, die strahlend blauen Augen, die mich forschend ansahen und die fast schon unmerklich zitternde Unterlippe. Ich wusste, es wäre der perfekte Zeitpunkt, sie um ein Date zu fragen und über meinen Schatten zu springen. Der heutige Abend war so gut verlaufen und Charlie hatte nicht eine Sekunde den Anschein gemacht, als würde sie lieber woanders sein. Also worauf zum Teufel wartete ich eigentlich noch?
Aber ich hörte wieder diese leise Stimme des kleinen, zurückgewiesenen Jungen in meinem Kopf, der sich fürchtete. Sich fürchtete, diesen wundervollen Abend zu zerstören und jede Illusion zunichte zu machen. Was wenn es zu früh war? Was wenn sie dann an meinen Motiven zweifelte und dachte, ich hätte alles heute Abend nur getan und gesagt, um sie rum zu bekommen? Was wäre, wenn sie es abstoßend finden würde, dass ich mich an die Schwester meines besten Freundes ran machte?
Also schluckte ich die Worte, die mir bereits auf der Zunge lagen, wieder herunter und schwieg. Wieder einmal.
Worauf immer Charlie gewartet hatte, anscheinend war dieser Augenblick vorüber. Stattdessen presste sie die Lippen zusammen, etwas unsicher, wie sie sich verabschieden sollte und schien sich bereits abwenden zu wollen. Doch anscheinend überlegte sie es sich doch anders, drehte sich wieder um und lehnte sich zu mir herüber.
Ich war so überrumpelt, dass ich erstarrte, als sie mir einen sanften, warmen Kuss auf die Wange hauchte. „Gute Nacht, Ryler", wisperte sie in mein Ohr, bevor sie sich mit hochrotem Kopf zurück zog und mit eiligen Schritten die Stufen der Verander hoch eilte.
Sie kramte ihre Schlüssel aus ihrer Hosentasche hervor, bevor sie die Tür aufschloss und ins Innere schlüpfte. Einen letzten Blick, ein letztes, zaghaftes Lächeln warf sie mir über ihre Schultern hinweg zu, bevor sie verschwand und sich die Tür hinter ihr schloss. Ich dagegen stand immer noch wie hypnotisiert da und starrte auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte. Geistesabwesend fuhr ich mir mit dem Finger über meine Wange, an der noch immer ihr unschuldiger Kuss kribbelte, bevor ein breites, dämliches Grinsen auf meinen Lippen erschien.
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