14. | R Y L E R
V E R G A N G E N H E I T
„Und du bist sicher, dass du nicht vorbei kommen willst?"
Ich seufzte, als Cole mich dass schon zum widerholten Mal fragte und warf meinem Handy einen genervten Blick zu. Es war Freitagabend und die Jungs aus dem Team hatten sich zum Zocken verabredet. Nur wir Jungs, ein paar Drinks und Evans Playstation. Ein richtiger Männerabend, wie Sean es nannte.
„Komm schon, Ryler. Das wird lustig. Nur wir Jungs, ein paar Bier und Call of Duty", redete er weiter auf mich ein, während ich mit den Fingern über das Lenkrad meines Wagens fuhr. Doch als ich aus dem Seitenfenster zu dem kleinen, butterblumengelben Haus sah, das im Schatten der Dämmerung lag, wurde ich wieder daran erinnert, warum ich abgesagt hatte.
Ich überlegte kurz, ihm zu erklären, dass ich mit seiner Schwester einige Dinge klären musste, verwarf den Gedanken jedoch. Ehrlichgestanden ging es ihn das hier nichts an, weil es etwas zwischen seiner Schwester und mir war. Und ich wollte mir nicht schon wieder diese ganzen Fragen anhören müssen, sobald ich Charlie auch nur erwähnte. Cole war erstaunlich neugierig, wenn es um uns ging. Dabei gehörte er sonst nicht zu solchen Traschtaschen, die überalles genauestens Bescheid wissen wollten.
„Nein, ich kann wirklich nicht. Ich muss noch ein paar Dinge klären", murmelte ich. Zumindest hatte ich nicht gelogen.
Cole stieß einen ergebenen Laut aus. „Na gut, wenn du meinst, du Eremit."
Ich rollte mit den Augen und griff bereits nach der Tür. „Es ist wirklich wichtig", betonte ich. „Ja, ja. Wichtiger als dein bester Freund, also?", brummte er beleidigt, als würde er mich damit umstimmen können.
„Nein, aber wichtig genug, dass ich einen Männerabend ausfallen lassen muss."
Er knirschte hörbar mit den Zähnen. „Und willst du mir immer noch nicht sagen, was du so wichtiges zu erledigen hast?" „Nein."
„Arsch", grummelte er. „Ich weiß, dass ich einen habe, Cole. Danke, dass du mich noch einmal daran erinnerst", erwiderte ich schmunzelnd, während er beleidigt vor sich brummte. „Klugscheißer."
Das entlockte mir ein Lachen. „Ich muss Schluss machen. Melde dich, wenn du dich wieder eingekriegt hast." Er grummelte eine Verabschiedung, bevor er dann auflegte. Mit einem Blick auf mein Handy schüttelte ich amüsiert den Kopf, bevor ich es in meine Hosentasche schob und schließlich ausstieg.
Nach dem ersten, wirklich sonnigen Tag war die Luft noch aufgeheizt und hüllte mich in eine sanfte, warme Umarmung, als ich die Fahrertür hinter mir zuwarf. Die Straße lag ganz still und friedlich da, als ich meinen Blick über die benachbarten Häuser schweifen ließ. Zu dieser Uhrzeit war es bei uns in der Gegend noch lange nicht still. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal, ob es bei uns irgendwann wirklich zur Ruhe kam. Wenn es nicht die aufgemotzten Autos waren, die durch unsere Straße bretterten oder die Halbstarken, die laut mitten in der Nacht herumgröllten, waren es irgendwelche streunende Katzen, die sich lautstark bei den Mülltonnen um irgendwelche Abfallreste fetzten.
Doch in einer Gegend wie dieser kam das nicht vor. Hier war es bloß das helle Lachen irgendwelcher Kinder, die noch im Garten spielen durften, bis sie zum Essen rein gerufen wurden oder das leise Quietschen der veralteten Scharniere der sich im Wind wiegenden Schaukel. Ansonsten war es still.
Ich sog den Duft des sich nähernden Frühlings in mich auf, bevor ich die Straße überquerte und mich dem butterblumengelben Häuschen näherte, das mindestens genauso ruhig und unberührt dalag, wie die restliche Straße. Die Auffahrt war leer und auch sonst schien beinahe nichts darauf hinzudeuten, dass jemand Zuhause war. Bloß hinter dem Erkerfenster zur Straße brannte noch Licht. Und genau dort saß Charlie auf der Fensterbank und war wieder einmal ganz in irgendein Buch vertieft, dass aufgeschlagen in ihrem Schoß lag.
Anscheinend war sie allein und irgendwie war ich froh, dass ich mich nicht noch Mr. Ashbeern oder Charlies Mom erklären musste, was ich zu dieser Zeit bei Ihnen suchte, wenn Cole doch gar nicht da war.
Ich drehte den Schirm der alten Baseballkappe auf meinem Kopf nach hinten, bevor ich die Stufen der Verander nach oben ging und an der Tür schließlich zaghaft klingelte. Angespannt rieb ich mir meine schweißfeuchten Hände an dem rauen Stoff meiner Jeans ab, während ich unruhig auf und ab ging.
Seit Charlies Besuch bei uns in der Werkstatt und der Begegnung mit Sawyer, seinen Jungs und seinem ekelhaften Sohn Julian, hatten wir nicht mehr gesprochen. Und das war mittlerweile fast zwei Wochen her. Ich war ihr in der Zeit ausgewichen. Nicht weil ich ihr böse war oder dergleichen. Ganz im Gegenteil. Ich schämte mich. Dafür, dass sie gesehen hatte, mit was für Menschen wir uns abgaben und dass ihr einer davon auch noch deutlich zu nahe gekommen war. Das war ein Teil meines Lebens, den ich in ihrer Gegenwart nur zu gerne verdrängte und von dem ich insgeheim gehofft hatte, dass sie nie davon erfahren würde. Er machte nur wieder einmal zu deutlich aus was für verschiedenen Welten wir stammten und das ihr Vater wohl nicht unrecht hatte, wenn er sie vor Jungen wie mir warnte. Selbst wenn ich keine Unruhe stiftete, so bedeutete allein mein Umgang nichts als Ärger.
Die Angst, dass sie das nach dieser Begegnung womöglich auch so sehen könnte, machte mir irgendwie Angst. Ich wollte nicht, dass sie mich mit anderen Augen sah. Dafür liebte ich die Art, wie sie mich bisher angesehen hatte, viel zu sehr.
Ich stand gerade an den Stufen der Verander und blickte nachdenklich hinüber zu der alten Eiche neben dem Haus, als ich hörte wie die Tür hinter mir einen Spaltbreit geöffnet wurde und ein schmaler Streifen Licht über die alten Dielen der Verander fielen. Ich drehte den Kopf und erkannte Charlie verdutzt im Türrahmen stehen.
„Ryler, was machst du denn hier?"
Ich lehnte mich gegen einen der weiß gestrichenen Balken, die das Vordach stützten und legte den Kopf schief. „Ich wollte mit dir reden."
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf mir einen skeptischen Blick zu. „Wirklich? Die letzten Tage hast du mich nämlich ziemlich erfolgreich ignoriert."
Beschämt schob ich die Hände in die Hosentaschen. „Ich weiß. Dafür wollte ich mich auch noch entschuldigen", murmelte ich schuldbewusst und sah sie schließlich hoffnungsvoll an. „Bitte, gib mir nur zehn Minuten, um dir das zu erklären und mich für mein idiotisches Benehmen zu entschuldigen. Danach kannst du gerne immer noch sauer auf mich sein."
Sie seufzte ergeben, zog die Tür hinter sich ran und kam zu mir. Wie damals auf der Party setzten wir uns auf die Stufen der Verander nebeneinander und schwiegen einige Sekundenlang völlig in Gedanken versunken. Dann räusperte ich mich.
„Es tut mir leid, wie ich dich damals weg geschickt habe und mir tut leid, dass ich dir aus dem Weg gegangen bin in letzter Zeit. Ich habe mich wie ein Idiot benommen und dabei hast du doch überhaupt nichts falsch gemacht", begann ich mich zu entschuldigen. Ich lehnte mich nach vorne und stützte mich mit den Ellbogen auf den Knien ab, während ich meine unruhigen Finger vor mir faltete.
Doch dann bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie sie den Kopf schüttelte und die Knie fest an ihre Brust zog. „Doch, habe ich, als ich dich nach deiner Mom gefragt habe. Dabei geht es mich doch gar nichts an und ich hatte kein Recht solche Fragen zu stellen. Das war unsensibel und das tut mir leid."
„Sicher, du hast dich nicht gerade diplomatisch zu dem Thema vorgearbeitet, aber ehrlich gesagt, kann ich vollkommen verstehen, warum die Frage aufkam. Glaub mir, dein Bruder war damals unsensibel, als er mich das zum ersten Mal gefragt hat", erzählte ich und schüttelte amüsiert den Kopf.
Neugierig sah Charlie mich an. „Er hat mich gleich bei unserem ersten Treffen gefragt, ob meine Mom tot sei. Dass hat er mich einfach so gefragt, mitten ins Gesicht und ich war damals gerade mal zehn."
Charlie sah mich fassungslos an, doch ich sah das Zucken ihrer Mundwinkel. „Oh Gott, dass hat er nicht wirklich gemacht."
„Oh doch, und wie. Ich sag's dir, einfühlsam wie ein Stein."
Das brachte uns beide zum Lachen und schien die Anspannung zu lösen, die zwischen uns in der Luft hing. Als wir uns wieder beruhigt hatten, strich sich Charlie ein paar der im Licht der abendlichen Sonne feurig rot glühenden Haare aus dem Gesicht. „Darf ich dich trotzdem etwas fragen?"
Ich nickte. „Dafür bin ich hier."
„Was hat es mit diesen zwielichtigen Typen auf sich? Ich weiß, wahrscheinlich geht mich das gar nichts an, aber du schienst besorgt zu sein, als sie aufgetaucht sind. Fast schon ängstlich irgendwie."
Ich nahm die Kappe von meinem Kopf und drehte sie in meinen Händen. „Ich hatte keine Angst um mich, wenn es das ist, was du denkst. Ich habe mir viel mehr Sorgen um dich gemacht, Charlie."
Sie blinzelte verwirrt.
„Für Kerle wie die sind Mädchen wie du ein gefundenes Fressen. Sie haben keinen Respekt und behandeln Frauen wie Spielzeug, mit dem sie tun und lassen, was sie wollen. Glaub mir, diesen Kerlen willst du abends nicht allein begegnen", versicherte ich ihr und spürte wie allein bei dem Gedanken daran, was sie Charlie wohl antun würden, das Bedürfnis aufwallte, sie zu beschützen. „Man sollte solchen Leuten niemals seine Schwächen zeigen, weil sie dieses Wissen gnadenlos gegen dich benutzen. Und ich will unter gar keinen Umständen, dass sich dich in ihr krankes Spiel mit reinziehen und dich als Druckmittel gegen uns verwenden."
„Druckmittel wofür?"
„Um ihren Willen zu bekommen. Du weißt schon, Geld."
Sie runzelte die Stirn. „Wenn sie anscheinend so sind, wie du sagst, warum macht ihr dann Geschäfte mit denen und lasst euch von denen erpressen?"
Ich seufzte und kickte mit der Schuhspitze einen kleinen Stein weg, der am Rand der Stufe lag. „Weil uns nichts anderes übrig bleibt."
„Man hat immer eine Wahl", beharrte sie, aber ich schüttelte den Kopf. „In diesem Fall nicht."
„Warum denn nicht?"
„Das ist eine lange, ziemlich komplizierte Geschichte, Charlie", murmelte ich.
„Dann erklär es mir. Ich habe Zeit."
Sie sah mich entschlossen und abwartend an. Aus irgendwelchen Gründen schien es ihr wirklich wichtig zu sein, unsere missliche Situation zu verstehen. Irgendwie fand ich es süß, dass sie das anscheinend so beschäftigte, wo es doch überhaupt nicht ihr Problem war. Dennoch rumorte mein Bauch bei dem Gedanken ihr von diesem Teil meiner Vergangenheit erzählen zu müssen. Ein Teil für den ich mich lange geschämt hatte und worüber ich heute noch ungern redete.
„Weißt du, um das ganze zu verstehen, solltest du wissen, dass mein Dad keine leichte Kindheit hatte. Sein Vater war mehr weg, als dass er da war. Manchmal verschwand er monatelang, saß zwischendurch im Knast oder vergnügte sich sonst wo. Und meine Großmutter hat sich einen feuchten Dreck um ihren Sohn gekümmert. Für sie waren Drogen und Alkohol immer wichtiger. Sie war dafür sogar bereit, sich den ekelhaftesten Kerl ins Haus zu holen. Kerle, die gewalttätig, pervers und kriminell waren. Kerle, von denen eine Mutter einen eigentlich beschützen sollte, anstatt sie mit nach Hause zu nehmen in die Nähe ihres Kindes", begann ich zu erzählen.
„Und zu allem übel hat seine Mutter das wenige Geld, das sie hatten, eben für Alkohol und Drogen ausgegeben, sodass mein Dad schon früh angefangen hat zu klauen. Anfangs war es eben nicht viel mehr als Brot oder irgendetwas zu Essen. Aber desto älter er wurde, desto größer wurde sein Diebesgut. Irgendwann mit 17 oder 18 klaute er ganze Autos und verdiente sich sein Geld damit die Einzelteile auf dem Schwarzmarkt zu verticken. Es schien ein guter und leichter Weg an schnelles Geld zu kommen. Solange bis er erwischt wurde."
Ich fuhr das eingestickte Logo auf der Kappe nach und dachte daran zurück, wann mir mein Dad zum ersten Mal von den zwei Jahren Gefängnis erzählt hatte, die er wegen Autodiebstahls abgesessen hatte.
„Naja, im Knast lernte er ein paar Typen kennen, die wegen ihres Handels mit Drogen eingebuchtet worden war. Einer davon war Sawyer. Er war ein paar Jahre älter als mein Dad. Er war Anführer einer kleinen Gang, die hier in Graham ihre Geschäfte abwickeln und nahm meinen Vater in seine Obhut. Rettete ihm im Knast quasi das Leben, denn wenn du im Knast auf dich allein gestellt und noch so jung bist, bist du ziemlich am Arsch."
„Und Sawyer war vorletzten Mittwoch auch da gewesen?"
Ich nickte langsam. „Ja, er war der Vater von Julian. Dem Typ, der dich angepackt hat", erklärte ich und ballte meine Hand zur Faust, als ich an Julian dachte.
„Jedenfalls wurden sie so etwas wie Freunde und nach dem Knast bot Sawyer meinen Dad an, Teil seiner Gang zu werden. Nachdem man gesessen hat, ist es ziemlich schwer einen relativ gut bezahlten, anständigen Job zu bekommen. Und Sawyer versprach ihm einen Haufen Kohle, also nahm mein Dad das Angebot an. Außer Tellerwäscher in irgendeiner Fast Food Kette werden, blieb ihm keine andere Wahl."
Ich atmete tief durch, bevor ich mein Handy aus meiner Hosentasche zog und in meiner Galerie nach einem Foto suchte. Als ich es schließlich fand, gab ich Charlie das Handy.
„Durch Sawyer lernte er meine Mom kennen. Sie war die Freundin des Mädchens gewesen, mit dem Sawyer es anscheinend zu der Zeit trieb und mit der er sich gerne mal zu dröhnte. Und naja eins führte zum anderen und mein Eltern verliebten sich ineinander, auch wenn ich mir sicher bin, dass das Ganze nicht so romantisch abgelaufen ist, wie mir mein Dad weiß machen will."
Charlie sah lange das Bild an, auf dem meine Mom und mein Dad eng umschlugen, fröhlich in die Kamera grinsten. Dann hob sie den Kopf und sah mich an. „Du hast ihre Augen", stellte sie fest, als sie mir das Handy zurück gab. Ich schwieg und nickte nur. Abgesehen von meinen Augen hatte ich meine Grübchen von ihr geerbt und wenn ich meinem Vater Glauben schenkte, anscheinend auch ihre Lächeln.
„Sie waren ziemlich verrückt nach einander und irgendwann fanden sie heraus, dass sie schwanger waren mit mir. Anfangs war das alles anscheinend ziemlich chaotisch und eigentlich habe ich überhaupt nicht in ihren Plan für die Zukunft gehört, aber sie wollten mich. Sie wollten ein Baby und eine kleine, glückliche Familie."
Charlie bettete ihr Kinn auf ihren Knien ab, die sie fest mit den Armen umschlang und hörte mir aufmerksam zu.
„Aber für meine Elter stand fest, dass sie keine glückliche Familie werden konnten, solange sie noch etwas mit Sawyers Gang zu tun hatten. Mein Dad wollte nicht, dass ich wie er ohne Vater aufwuchs, nur weil er womöglich nochmal im Knast landete. Er und Mom wollten mir ein besseres Leben bieten, als sie es gehabt hatten. Also zog sich mein Dad aus der ganzen Gang Sache zurück und kaufte mit ein paar Ersparnissen einem alten Typen seine Werkstatt und das Haus ab, in dem wir jetzt leben. Dad baute die Werkstatt neu auf und nutze sein Wissen aus seiner Zeit, als er noch Autos gestohlen und auseinandergenommen hatte, um auf ehrliche Weise Geld zu verdienen."
„Sie wollten dir gute Eltern sein", murmelte Charlie und ich nickte.
„Und dann kam ich auf die Welt und irgendwie war anscheinend alles so gut wie perfekt. Wir waren eine kleine, glückliche Familie. Zumindest für ein paar Jahre", murmelte ich und begann mit den Zähnen zu mahlen.
„Was ist dann passiert?", fragte Charlie fast schon ängstlich, als würde sie die Antwort längst kennen, traute sich aber nicht sie laut auszusprechen.
„Wie sich nach einiger Zeit rausstellte, lief die Werkstatt nicht so, wie mein Dad sich das vorgestellt hatte und ein Kleinkind war anscheinend teurer als erwartet. Mein Dad war eine Zeitlang gezwungen einen zweiten Job anzunehmen, damit wir unsere Rechnungen begleichen konnten. Meine Eltern stritten sich immer öfter und meine Mom war nicht nur mit mir heillos überfordert, sondern mit allem. Es hatte sich herausgestellt, dass eine kleine, glückliche Familie zu sein eben nicht so leicht war, wie sie sich das vorgestellt hatte und damit konnte sie nicht umgehen."
Bei dem, was ich als nächstes aussprach, verspannte sich etwas in mir. „Sie wurde rückfällig. Sie hatte früher schon Drogen konsumiert, aber meinetwegen hatte sie damit aufhören wollen. Dass hatte ja auch zwei, drei Jahre lang ganz gut funktioniert, aber dieser ganze Stress, die Sorgen, die schlaflosen Nächte und das Muttersein setzten ihr zu. Anscheinend glaubte sie Drogen würden ihr helfen, dass ganze besser zu verkraften."
Ein harsches Lachen verließ meine Lippen. „Anfangs waren es nur ein paar Joints, aber später fing sie mit dem harten Zeug an. Überall im Haus versteckte sie die Spritzen und Tütchen vor meinem Dad und sobald er ging, holte sie das Zeug wieder raus. Klar, mein Dad war nicht dumm. Irgendwann merkte auch er etwas, versuchte es ihr auszureden und sie versprach ihm jedes Mal, sie würde aufhören...", begann ich und schluckte schwer.
„Aber sie hat nicht aufhört, richtig?", hakte Charlie zaghaft nach. Als ich nur nickte, spürte ich ihren traurigen Blick auf mir ruhen. Sie schien Mitleid mit meinem Dad und mir zu empfinden. Mitleid mit dem kleinen Jungen, dessen Mutter zu einem Junkie mutiert war.
„Ich glaube ich war vier Jahre alt gewesen zu diesem Zeitpunkt, als es passierte, aber ich weiß noch ziemlich genau, dass mein Vater an dem Tag erst ziemlich spät nach Hause kam. Er hatte bei seinem zweiten Job von irgendwem die Schicht übernommen und war daher ziemlich lange weg gewesen. Aber als er nach Hause kam, lag meine Mom völlig weg getreten im Wohnzimmer, so zugedröhnt hatte sie sich", erzählte ich und begann meine Hände unruhig zu kneten. Die Kappe lag mittlerweile zwischen uns auf der Stufe.
„Und wo warst du?"
Ich presste die Zähne fest zusammen und schüttelte den Kopf, wenn ich darüber nachdachte. „Mein Dad fand mich im Badezimmer. Sie hatte es tatsächlich fertig gebracht ihren Sohn in der Badewanne zu vergessen. Stundenlang muss ich in dem Wasser gehockt habe, denn als mein Vater mich da rausholte, was es eisigkalt gewesen. Ich hatte nach meiner Mom geschrien und geweint, aber sie hatte das in ihrem Rausch nicht mal mitbekommen."
Ich sah Charlies geschockten Gesichtsausdruck, redete aber einfach weiter. „Ich war wahrscheinlich unterkühlt, aber mein Dad hatte Angst, ich könnte einen Lungenentzündung oder so etwas bekommen, so lange wie ich da drinnen gesessen hatte. Er holte mich aus dem Wasser, wickelte mich in dutzende Handtücher und Decken ein und versuchte mich die ganze Nacht über irgendwie wieder warm zu bekommen. Ich schlief bei ihm im Bett und für mich als Kind war das schon Highlight genug, sodass alles andere ganz schnell wieder vergessen war. Aber mein Dad..." , ich seufzte. „Mein Dad war stinkwütend. Er ließ meine Mom ihren Rausch ausschlafen und stellte sie am nächsten Tag zur Rede, sobald sie wieder wach und einigermaßen bei Verstand war. Ich weiß noch, dass ich wach geworden bin, weil er so geschrien hat. Du musst wissen, mein Dad ist kein impulsiver Mensch und ich hatte ihn bis dahin noch nie so erlebt. Ich weiß noch, wie er sie anschrie, er würde keine elende Crackhure in der Nähe seines Sohnes haben wollen und zusehen müssen, wie sie mein Leben zerstörte. Er wüsste was das mit einem Kind machte und er würde nicht zulassen, dass seinem Kind dasselbe widerfahren würde wie ihm. Also stellte er sie vor die Wahl: Wir oder die Drogen. Man könnte meinen eine leichte Entscheidung, aber nicht für meine Mom und das war meinem Dad Antwort genug. Er warf sie raus, sagte ihr sie sollte erst wieder kommen, wenn sie sich entschieden hätte und endlich wüsste, was wirklich wichtig im Leben sei."
„Ist sie wider zurück gekommen?", fragte Charlie zögerlich und rutschte noch ein Stückchen näher zu mir, als würde sie versuchen mir damit still zu signalisieren, dass sie bei mir war.
Ich blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. „Sie verschwand. Monatelang hörten wir nichts von ihr, bis ... Bis die Polizei vor unserer Tür stand und uns mitteilte, sie wäre allein in einem Motel an einer Überdosis gestorben", sagte ich leise. Auch wenn ich kaum noch Erinnerung an die Zeit hatte, als meine Mom noch bei uns war, versetzte es mir einen Stich, als ich das sagte.
„Mein Dad macht sich glaube ich bis heute deswegen noch Vorwürfe, weil er glaubt, dass er ihr vielleicht doch hätte helfen können, wenn er nicht so grob mit ihr umgegangen wäre. Aber ich persönlich denke niemand hätte ihr helfen können. Solchen Menschen kannst du nicht helfen, solange sie nicht einsehen, dass sie Hilfe brauchen. Trotzdem machte mein Dad danach eine ziemlich harte Zeit durch."
Ich war vielleicht sehr klein gewesen damals, doch ich hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte gesehen, wie mein Dad um meine Mom weinte, wenn er dachte, ich würde es nicht sehen. Ich hatte mitbekommen, wie er die Fotos von ihr ansah und nach wie vor auf seiner Seite des Bettes lag, so als würde sie wieder zurück kommen. Ich ertappte ihn dabei, wie er die Lieblingsschockolade meiner Mom kaufte, obwohl niemand von uns sie essen würde. Und auch heute wusste ich ganz genau, wann er mich anlog, dass er irgendwelche Besorgungen machen müsste, obwohl er in Wahrheit wieder zum Friedhof fuhr und am Grab meiner Mom saß.
Egal, wie verkorkst das zwischen meinen Eltern auch gewesen war und trotz der Fehler, die beide begangen hatten, hatten sie sich doch in erster Linie geliebt. Wie wahnsinnig. Dass merkte ich jedes Mal, wenn Dad mir alte Geschichten erzählte, wie die beiden sich näher gekommen waren und er dabei - ohne es zu wissen – übers ganze Gesicht strahlte.
Aber egal wie sehr mein Dad meine Mom geliebt hatte, die Liebe zu mir war größer gewesen. Groß genug, um sich gegen die Liebe seines Lebens und für das Wohl seines Sohnes zu entscheiden. Und wahrscheinlich war es genau das, was es bedeutete Vater zu sein. Sein eigenes Glück und die Wünsche des Herzens hinten für das Wohl seines Kindes anstellen. Bewundernswert und tragisch zugleich.
Als der Wind leise pfiff, schüttelte ich die Gedanken ab und räusperte mich, ehe ich weiter erzählte. „Und als wäre das nicht genug, tauchten plötzlich Sawyer und seine Gang auf. Anscheinend hatte meine Mom noch ein ziemliches Sümmchen bei ihnen offen, nachdem sie ihr Zeug bei ihnen gekauft hatte. Und Sawyer wollte Geld sehen. Ihm war scheißegal, ob wir was damit zu tun hatten oder ob wir das Geld hatten. Er wollte sein Geld, egal von wem."
„Wieso seid ihr nicht zur Polizei gegangen?", fragte Charlie verwirrt. Wahrscheinlich würde sich jeder normale Mensch dasselbe fragen, aber leider waren die eigenen Probleme nicht automatisch geklärt, nur weil man die Polizei einschaltete. Dort wo ich herkam, machte es die Dinge nicht besser, sondern schlimmer.
„Wenn Sawyer mitbekommen hätte, dass wir die Polizei einschalten, hätten wir noch viel größere Probleme gehabt. Allerdings konnte er sich damals ziemlich sicher sein, dass mein Dad nicht plaudern würde. Dann hätte er nämlich auch den Kopf hinhalten müssen und mein Dad hätte niemals riskiert in nochmal den Knast zu wandern, solange ich noch so klein war. Ich hatte außer ihn immerhin niemanden."
„Also habt ihr nichts gegen sie unternommen und euch das ganze einfach gefallen lassen?", hakte Charlie ungläubig nach. „Uns blieb nicht wirklich viel übrig", gestand ich achselzuckend ein. „Dad handelte einen Deal aus und seit dem zahlen wir Ihnen alle paar Monate eine gewisse Summe der Schulden plus Zinsen ab."
Ich seufzte. „Dass hat auch ziemlich lange so funktioniert. Doch seit einiger Zeit werden Sawyer und seine Jungs ungeduldig. Entweder verlangen sie plötzlich eine viel höhere Summe als abgemacht oder tauchen schon ein paar Wochen später wieder auf und wollen Geld sehen, dass wir noch gar nicht haben. Und zu unserem Übel hat Sawyer auch noch es seinem sadistischen Bastard und seinen Schlägertypen überlassen, die Schulden einzutreiben."
Bei der Erwähnung von Julian kräuselte Charlie angewidert die Nase. Allerdings sah es so niedlich aus, dass es mir zumindest ein kleines Lächeln abgewann. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass ich ihr gerade von meiner Vergangenheit, meiner Drogenabhängigen Mom, meinem Ex-Knacki von Vater und unseren Schulden bei einer Gang von Drogendealern und Schwerkriminellen erzählt hatte.
Cole hatte ich das ganze erst mit den Jahren Stück für Stück beigebracht, was zum Teil aber auch daran lag, dass ich selbst das Ganze erst verstanden hatte, als ich älter wurde. Doch außer Cole, hatte ich niemanden bisher je etwas davon erzählt. Fragen bezüglich meiner Mom, ihrem Tod oder ähnlichen Dingen war ich bisher erfolgreich umgangen. Jede Anspielung in die Richtung versuchte ich so gut ich konnte zu ignorieren und nicht weiter darauf einzugehen.
Doch Charlie war vor knapp zwei Wochen unfreiwillig Zeuge geworden von etwas, dass ich bisher immer gut zu verheimlichen wusste. Mir war klar gewesen, dass sie Fragen haben würde. Fragen, die ich nicht beantworten wollte, weshalb ich ihr aus dem Weg gegangen war. Aber mir war mit der Zeit klar geworden, dass ich ihr das Ganze früher oder später erklären musste, wenn nicht wollte, dass das zwischen uns seltsam wurde. Und was auch immer das zwischen uns war, ich wollte nicht, dass es von irgendwelchen Geheimnissen kaputt gemacht wurde, die ich vor ihr hatte. Ich würde nicht zulassen, dass dieser Teil meines Lebens, der schon genug Unheil angerichtet hatte, auch noch das ruinieren würde. Also hatte ich mich entschieden ihr davon zu erzählen.
Und jetzt, wo sie die ganze Wahrheit kannte, fragte ich mich, wovor ich eigentlich Angst gehabt hatte. Sie war nicht wie Jon oder all die anderen Leute, die mich dafür verurteilten, woher ich kam, wer meine Eltern waren oder was sie getan hatten. Sie machte mich nicht für das verantwortlich, was ich nicht ändern konnte oder gab mir das Gefühl, aufgrund meiner Herkunft etwas Besseres zu sein. Dass hatte sie nie.
„Danke", sagte sie mit einem Mal und sah mich ernst an.
„Du musst dich für nichts bedanken", wandte ich ein, aber sie schüttelte sanft den Kopf.
„Doch, für dein Vertrauen. Ich weiß, dass man soetwas nicht leichtfertig erzählt, aber dass du es getan hast, beweist wie sehr du mir vertraust... und das bedeutet mir wirklich viel", gab sie leise zu und senkte den Kopf, als wäre ihr dieses Geständnis irgendwie unangenehm.
Doch genau deshalb, weil sie mein Vertrauen nicht als selbstverständlich betrachtete, wusste ich, dass ich das richtig getan hatte, als ich ihr die Wahrheit erzählte. Kein Wort würde sie über das verlieren, was ich ihr gesagt hatte, weil es bei ihr sicher war. Sie würde meine Geheimnisse hüten, als wären es ihre eigenen. So wie ich es für sie tun würde. Das und so viel mehr, wenn sie es von mir wollte. Das war mir spätestens jetzt klar.
Als ein Schleier rotbrauner Haare ihr Gesicht vor mir verbarg, hob ich wie selbstverständlich die Hand und strich sie ihr behutsam hinters Ohr. Verdutzt sah sie mich an, aber ich verzog meine Lippen bloß zu einem schiefen Grinsen. So als würde sie zu berühren, mein Herz nicht ein kleines Stück schneller schlagen lassen. Unter meinem Blick nahmen ihre Wangen ein zartes Rosa an und sie biss sich auf die Unterlippe.
Aber bevor es seltsam werden konnte, zog ich die Hand zurück und wandte den Blick von ihr ab. Stattdessen blickte ich in den dunklen Himmel. Mittlerweile konnte man nur an dem schmalen, satt violetten Streifen am Horizont die kräftigen Sonnenstrahlen erahnen, die bis eben noch dort am Himmel tanzten, wo jetzt die Sterne funkelten. Dennoch bemerkte ich aus dem Augenwinkel, sie mich studierte.
„Denkst du, ich könnte dich noch etwas fragen?", sagte sie dann irgendwann.
Ich drehte den Kopf wieder in ihre Richtung und nickte achselzuckend.
„Vermisst du deine Mom manchmal?" Die Frage glitt so leise und zaghaft über ihre Lippen, dass man meinen könnte, sie würde befürchten, damit einen Schritt zu weit zu gehen. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Das letzte Mal, als sie nach meiner Mom gefragt hatte, hatte ich sie mehr oder weniger diplomatisch weggeschickt.
Ich dachte einen Augenblick darüber nach, schüttelte dann etwas unsicher den Kopf. „Ich glaube nicht. Wie vermisst man jemanden, an den man sich nicht erinnern kann?"
Genauso ahnungslos zuckte sie mit den Schultern, als wir beide wieder schweigend zu den Sternen sahen. Ich räusperte mich.
„Aber weißt du, manchmal frage ich mich, wie unser Leben heute aussehen würde, wenn sie sich damals anders entschieden hätte. Wenn das alles nicht passiert und sie noch immer da wäre", gestand ich, schüttelte dann jedoch den Kopf über mich selbst. Es war dämlich über die Dinge zu grübeln, die man nicht ändern oder die auch nie passieren würden. Dennoch hatte ich schon öfter solche und ähnliche Gedankenexperimente gemacht.
„Fragst du dich auch manchmal, warum bestimmte Dinge passieren? Ich meine, ständig hört man ‚Alles hat einen Sinn im Leben' und ähnliche schlaue Sätze, aber woher wollen wir wissen, ob das stimmt? Was ist, wenn sich am Ende herausstellt, dass das alles nur ein Märchen ist, das wir uns erzählen, um uns zu beruhigen, weil wir es nicht anders ertragen könnten, wenn das, was uns widerfährt, sinnlos ist?"
Ich seufze und will schon wieder alles zurücknehmen, um das Thema zu wechseln, als Charlie sich plötzlich neben mir räuspert. „Ich weiß nicht, ob alles im Leben einen Sinn hat, aber ich glaube daran. Und weißt du warum?", fragt sie mich und ich schüttele den Kopf. Gespannt beobachtete ich, wie sie wieder hoch in den Himmel sah und ihre Augen dabei im Licht des Mondes zu leuchten schienen. „Ohne die Dunkelheit könntest du keine Sterne sehen. Genauso könnten wir ohne die schlechten Dinge, die uns widerfahren, die guten Seiten des Lebens nicht erkennen. Und so ist nicht nur der Stern ohne die Dunkelheit, sondern auch das Glück ohne Leid bedeutungslos. Meinst du nicht?"
Ich starrte sie an, während ich mir ihre Worte durch den Kopf gehen ließ. Als sie meinen erstaunten Blick bemerkte, wurde sie plötzlich verlegen und lächelte schüchtern. „Klingt das doch ein bisschen zu sehr nach irgendeiner Pseudo-Lebensweisheit?"
Ich schüttelte wieder einmal nur den Kopf, während sie offensichtlich etwas verlegen wieder die Sterne zu zählen begann und ich ihr vollkommen fasziniert dabei zusah. Gleichzeitig wurde mir klar, dass das, was ich bisher für sie empfunden hatte, nur der Anfang war. Ich war nämlich auf dem besten Weg mich heillos und ohne jede Chance auf Rettung in sie zu verlieben.
A/N:
Heyo Leudis,
ein ,,kleines" Update für euch. Das letzte für diese Woche. Das nächste ist dann erst wieder nächste Woche.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ihr bei dem letzten Satz etwas ausarten werdet und ich freu mich schon auf eure ganzen Kommentare. Es ist immer toll zu lesen, was ihr so denkt oder von bestimmten Dingen haltet.
Allerdings hätte ich eine Frage, die das Buch betrifft. Mittlerweile umfasst die Geschichte knapp 70.000 Wörter (wir sind genauer bei etwas mehr als 69.500) und hat 187 DinA4 Seiten. S ist also schon ordentlich was zusammen gekommen. Ich schätze das Buch wird sich letztlich auf ca. 140.000 Wörter belaufen, daher kommt noch ordentlich was auf euch zu. Dennoch wüsste ich gerne, ob ihr das Buch bisher als lang empfindet. Ich mache mir manchmal Sorgen, ob es vielleicht zu langatmig für euch sein könnte oder dass ihr ungeduldig werdet, wenn es z.B. um den ersten Kuss geht.
Daher würde ich euch ganz ehrlich fragen, ob ihr das Buch für zu langatmig haltet?
So, und nochmal eine Buch bezogene bzw. inhaltliche Frage:
Was war für euch der bisher traurigste Moment?
Und was sind eigentlich eure Theorien zu Coles Tod?
So, dann bis nächste Woche und drückt mir die Daumen, dass ich meine Schreibchallenge nächsten Samstag hinbekommen. In 10 Stunden 10.000 Wörter!
Tschüssikowski, ihr Süßen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro