Kapitel 2
"Calvin!? Calvin hörst du mir überhaupt zu?!"
Erschrocken fuhr der junge Mann aus seinen Gedanken auf und sah verwirrt in Richtung seiner Mutter, welche ihn anmaßend ansah. Seit den Ereignissen der letzten Nacht war Calvin mit seinen Gedanken ganz wo anderes.
Ein Traum. Es musste ein Traum gewesen sein. Dies hier war die Realität. Es gab keine Geister und auch keine Beweise für ihr Auftauchen letzte Nacht. Kein Blut auf dem Boden, kein Schluchzen im Raum heute früh. Sie war nie da gewesen... Sie war ein Produkt meiner Fantasie im Halbschlaf gewesen. Das war es zu mindestens das, was er sich seit gestern Nacht einredete.
Und auch wenn er versucht hatte sich all diese Sätze immer und immer wieder einzureden, so hatte er die ganze Nacht über kein Auge mehr zu tun können. Dementsprechend verschlafend und müde war er am Morgen. Nicht dass das sein größte Problem an der ganzen Situation wäre.
"Nein. Tut mir leid, Mom. Ich schlafe in letzter Zeit schlecht und bin mit den Nerven etwas am Ende", meinte er und schenkte der älteren Frau ein entschuldigendes Lächeln. Seine Mutter war eine blonde Frau, ende vierzig und hatte für gewöhnlich immer ein Lächeln im Gesicht. Sie war wie der gute Geist im Haus, solange alles so lief, wie sie es wollte.
Neben ihr saß Calvins Vater Josef, ein Mann Anfang fünfzig, welcher sich, im Gegensatz zu seiner Frau, oft schwer mit dem Lächeln tat. Nicht, dass Calvin ihn nicht mochte. Er liebte seine Eltern und Geschwister, auch wenn sie alle ihre Eigenarten hatten. Gerade sein jüngerer Bruder Misha war ein Fall für sich. Der Zehnjährige war auf den ersten Blick wie jedes andere Kind. Nur behauptete er seit Jahren, er sei in der Lage Tote zu sehen und sie reden hören zu können. Natürlich waren seine Eltern mit ihm deshalb schon bei hunderten von Therapeuten gewesen, doch die sagten alle dasselbe: „Der Junge ist noch jung. Imaginären Freunde oder Geister, bilden sich da viele ein." Bis jetzt hatte Calvin diesen "Irrsinn" seines Bruders als absolut lächerlich abgestempelt und ihn gerne als den "Verrückten der Familie" bezeichnet. Doch nach der letzten Nacht war er sich nicht mehr sicher, ob mit ihm selbst alles in Ordnung war. Vielleicht war sein Bruder nicht der Verrückte der Familie sondern er.
Erneut drifteten seine Gedanken zu der Frau von letzter Nacht. Konnten Träume so real sein? Er hatte sie gesehen. Ganz deutlich. In seinem Zimmer. Er hatte den metallartigen Geruch des Blutes riechen können. Calvin hatte ihre Tränen gesehen. Jede Einzelne, so gestochen scharf. Ihr Schluchzen hatte sich in seinen Verstand gebrannt. Es wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Warum war sie so traurig gewesen? Woher kam all das Blut?
Ihre Haut war so kreide weiß gewesen, dass man hätte denken können, sie wäre gerade aus einem Grab gestiegen. Jemanden wie sie konnte man sich doch nicht einfach so einbilden. Träume setzten sich aus Erinnerung und erlebten Ereignissen von einem Menschen selbst zusammen und wurden mit Fantasie und vom Verstand erschaffenen Orten und ausgedachten Situationen vermengt. Daraus entstanden surreale Träume, in denen Charaktere aus Filmen Rollen spielen konnten oder in denen man mit einem Einhorn zusammen surfen ging. Im Grunde setzte der Verstand bloß alles, was er über den Tag an Mist produziert hatte zusammen und spielte es nachts im Kopf ab. Calvin war sich dieser Tatsache mehr als bewusst, auch wenn sie nicht erklären würde, wie er von jemandem wie ihr hatte träumen können. Ihr Gesicht, ihr Auftreten...Wie hatte sein Verstand das alles nur kreieren können?
"Das ist ja auch kein Wunder. Du lernst den ganzen Tag, sitzt vorm Laptop oder bist mit deinen Freunden unterwegs. Würdest du früher schlafen gehen und dich über Tag mal nach draußen wagen, würdest du sicher besser schlafen", beschwerte sich sein Vater und wandte sich dann zu Calvins jüngeren Geschwistern. Doch Calvin hörte ihn kaum.
"Tod." Calvin schüttelte energisch den Kopf. Ihre Stimme. Wie ein perfektes Bild, eingebrannt in seine Gedanken. Voller Trauer, voller Sorge. Die Stimme seines Vaters nahm er nur noch im Hintergrund war. Diese Augen. Diese großen, toten Augen, wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Ein Traum. Ein Traum. Ein verdammter Traum.
Seine Sicht verschwamm. Diese Augen, diese Stimme. Diese unheilvolle Stimme. Sein Herzschlag pochte laut in seinen Ohren und schwarze Punkte tauchten in seinem Sichtfeld auf. Und dann sah er sie. Am anderen Ende des Raums direkt neben dem Fenster. Seine Augen weiteten sich vor Angst und sein Blick glitt panisch zu seinen Eltern, die die junge Frau nicht zu bemerken schienen.
Nein, nein, nein. Das war nicht real... Das konnte nicht real sein!
Wie in der Nacht zuvor stand sie unbeweglich da. Den Blick auf die Familie gerichtet. Ein schneeweißes Kleid, verweinte Augen und ein leises Schluchzen. Nur das Blut schien verschwunden zu sein. Calvin und stand eilig vom Tisch auf. Panisch und nach Luft schnappend.
Sie war wieder da.
Er schlief nicht mehr. Dies war kein Traum.
"Calvin? Ist alles okay?! Was ist los mit dir?", hörte er vernebelt die Stimme seiner Mutter, welche seinem Blick folgte. Der junge Mann antwortete nicht, sondern starrte der Frau in die Augen. In diese toten, traurigen Augen, welche nur noch ihm zu gelten schienen. Sein Atem zitterte, während er fest die Augen zusammen kniff.
Das war nicht real. Sie war nicht real. Der Schlafmangel! Ich musste wohl halluzinieren.
Was wollte sie hier? Ob sie wohl... Nein! Ihre Intention war egal, denn sie war nicht echt! Nicht wirklich da! Sie durfte nicht da sein.
Die Fragen seiner Familie ignorierend, beobachtete er sie dabei, wie ihr Blick langsam aus dem Fenster glitt, sodass sie in Richtung der Haustür sah. Ein Augenaufschlag später war sie verschwunden. So plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Doch Calvins Verstand war noch lange nicht wieder da, wo er sein sollte.
"Calvin!?" "Calvin, mein Junge?! Was ist denn nur los mit dir?!" "Cal? Bist du krank?! Du siehst so blass aus."
"Mir...Mir geht es gut", murmelte er, während er in Richtung Fenster stolperte. Die schwarzen Punkte in seinem Sichtfeld wuchsen weiter an und nahmen immer mehr Platz ein. Er strauchelte leicht, doch lief entschlossen weiter nach vorne. Die Türklingel unterbrach sein Handeln.
"Wer mag das denn sein? Josef erwartest du Besuch?", fragte seine Mutter, während sie aufstand, Calvin noch kurz einen besorgten Blick zuwarf und in Richtung Treppenhaus lief. Seine kleine Schwester folgte ihr begeistert und auch sein Vater erhob sich, wandte sich aber vor dem Gehen noch an Calvins jüngeren Bruder. "Hab ein Auge auf Calvin! Ich denke, sein Kreislauf ist ein bisschen durcheinander. Er braucht nur etwas frische Luft."
Den Rest der Konversation bekam Calvin nicht mehr mit. Sein Sichtfeld verschwamm zunehmend, sein Atem war unregelmäßig und seine Knie zu weich, als das er noch auf ihnen stehen könnte, weshalb er sich am nahen Fensterrahmen abstützte.
Das war nicht real. Das war alles nur ein Traum... Ein böser, böser Traum.
Sein Kopf brummte und pochte. BA BOOM BA BOOM BA BOOM. Atmen. Er musste atmen. Nur schien es in dieser Situation unmöglich zu sein. Sein Verstand war vernebelt, verschwommen und sein Körper unfähig zu arbeiten.
Hier hatte sie gestanden. Oder eben nicht gestanden. Eine Halluzination, das war alles.
"Calvin! Du wirst es nicht glauben! Es ist Grandma! Grandma Mary ist uns besuchen gekommen", quietschte seine kleine Schwester Skyla neben ihm auf, woraufhin er aufschrak. Das Pochen war verschwunden. Einfach so. Doch das flaue Gefühl in seinem Magen blieb und breitete sich langsam aus.
"Grandma" Mary war in dem Cottage aufgewachsen, welches bis heute im Besitz der Familie McGowan war. Allerdings war sie vor fast acht Jahren aus Irland weggezogen. Grund dafür war ihr Ehemann gewesen, welcher Architekt in London gewesen war. Doch er war schon vor mehr als einem Jahr gestorben. Aber Mary war dennoch in London geblieben. Calvin und sein Bruder hatten ihr nie nahe gestanden. Sie war eine strenge, kalte und sehr abergläubige Frau, welche Kinder noch nie hatte ausstehen können. Nur gegen seine kleine Schwester schien sie noch nie etwas gehabt zu haben.
Umso verwunderter war Calvin, dass sie wieder zurückgekommen war. Warum jetzt? Warum heute? Jetzt wo er anfing den Verstand zu verlieren.
"Mom sagt, dass du krank wirst. Fühlst du dich nicht gut, Cal?", Skyla musterte ihren großen Bruder aus besorgten, großen Augen heraus, während Misha ihn bloß kritisch musterte. Eine feine Schweißschicht hatte sich auf Calvins Stirn gebildet und tiefe, schwarze Ringe zierten seine Augen. Seine Brust hob und senkte sich unregelmäßig und sein Atem entwich nur schwer seinen trockenen Lippen. Er sah tatsächlich mehr als nur krank aus.
"Keine Sorge, Kleines. Ich bin bald wieder gesund, da bin ich mir sicher", murmelte Calvin und lief dann in Richtung Treppenhaus. Schlaf. Alles was er jetzt brauchte war etwas Schlaf und etwas Ruhe. Doch noch bevor er die ersten Stufen nehmen konnte, wurde sein Handeln durch eine energische Stimme gestoppt.
"Calvin James McGowan! Für gewöhnlich ist es angebracht einen Gast zu begrüßen und nicht vor ihm wegzulaufen!" Ein Seufzen verließ Calvins Lippen, bevor er sich schwerfällig umdrehte und mit einem aufgezwungenen Lächeln zu der alten Frau blickte, welche die Hände in die Hüften gestemmt am Treppenansatz stand und ihn kühl ansah. Mary sah man ihr hohes Alter von Jahr zu Jahr mehr an. Ihr weißes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden, welcher von einer großen, goldenen Spange gehalten wurde und in ihrem faltigen Gesicht schienen nur noch ihre kalten, blauen Augen Farbe zu haben. Grundsätzlich schien es, als sei sie mehr eingefallen, als noch vor wenigen Jahren. Dennoch stand sie kerzengerade und reckte ihr Kinn stolz in Richtung des jungen Mannes.
"Mary, willkommen... zuhause. Es ist schön dich wiederzusehen. Hattest du einen guten Flug?" Schwindel überkam Calvin, worauf hin er sich am Treppengeländer festhielt. "Wenn es dich so viel Überwindung kostet, nett zu deiner einzigen noch lebenden Großmutter zu sein, kannst du es auch direkt sein lassen!", schnaubte seine Großmutter bloß, drehte sich um und lief ins Esszimmer. Keine zwei Sekunden später kam auch sein Vater die Treppen hoch, mit zwei Koffern beladen und völlig aus der Puste.
"Calvin! Meine Mom ist da... Was für ein Glück wir doch haben müssen", meinte Josef und sah dabei mehr gequält als glücklich aus. Oh, es war kein Geheimnis. Josef und seine Mutter standen sich seit Jahren schon nicht mehr nahe. Sie hatten sich schon vor Ewigkeiten verstritten, aber verwunderlich war dies nicht. Wer wollte auch schon jemanden wie Mary als Mutter haben?
.......
Blitze zuckten über den Himmel. Der starke Wind ließ den Regen, laut gegen die Fensterscheiben schlagen und das Donnergrollen schien die Erde zum Erzittern zu bringen. Die Fenster schlugen auf, wurden gegen die Wände geschlagen. Wind pfiff durch den Raum, Blitze erhellten das Zimmer, Regen sammelte sich auf dem Parkettboden.
Calvins Augen sprangen auf. Sein Atem war unregelmäßig und schwer, als wäre ihm der Sauerstoff genommen worden. Sein Blick fiel auf das offene Fenster. Die Gardinen wehten im starken Wind, sogen sich mit Wasser voll. Pfützen bildeten sich auf dem Parkett. Eilig stand er junge Mann auf, sprintete zum Fenster. Wie hatte es sich öffnen können? Er griff nach dem Fenstergriff, als sein Blick aus dem Fenster fiel.
Das war nicht der Garten, den er sonst sah, wenn er hier heraus sah.
Vor ihm lag ein weites Ödland, welches bis zum Horizont zu reichen schien. Einige knochigen, grauen Bäume, welche anscheinend schon ewig keine Blätter mehr getragen hatten, schwankten knarzend im Wind und warfen lange, unförmige Schatten auf den Boden, als erneut ein Blitz das Land erhellte. Raben, welche in den Ästen gesessen hatten, flogen krächzend auf, reckten sich in Richtung des schwarzen Himmels. Der Boden war vom Regenwasser durchtränkt, trug keine einzige grüne Pflanze mehr auf sich. Das Licht eines Blitzes offenbarte dafür, was er stattdessen trug.
Gräber. Viele hunderte Gräber, die sich überall verteilt auf dem toten Land befanden. Verwuchert und verwittert, nicht mehr lesbar und zerfallen, lagen sie dort und wurden vom Wind schief gezogen. Calvin presste die Augen fest zusammen, legte sich eine Hand auf den Mund, versuchte einen Schrei zu unterdrücken. Er konnte die Regentropfen auf seinem Gesicht spüren, konnte die Kälte des Windes wahrnehmen, wie sie seinen Rücken hochzog. Er zitterte.
"Calvin." Seine Augen schlugen auf. Diese Stimme. Diese silbrige, traurige Stimme. Sein Atem überschlug sich, seine Knie wurden weich und seine Sicht verschwamm und dann war sie da. Vor ihm auf dem Ödland neben einem der Grabsteine, welcher neuer wirkte als die anderen. Ihr weißes Kleid klebte an ihrem dürren Körper und wehte nur noch schwach im Wind. Ihre Haare hingen in nassen, dicken Strähnen an ihr herunter, ihre nackten Füße, waren im Schlamm vergraben.
Seinen Namen. Sie hatte seinen Namen gesagt.
"Calvin." Sie weinte. Sie weinte schon wieder, doch sah man durch den Regen ihre Tränen nicht. Der Mann wich vom Fenster zurück, presste sich nun die Hände auf die Ohren. Ihre Stimme war wie ein Gift, welches sich langsam in seinem Verstand ausbreitete und ihn qualvoll zerstörte.
Doch er konnte seinen Blick nicht mehr von ihr wenden. Er versuchte zu lesen was auf dem Grabstein stand, nur schien es unmöglich entzifferbar zu sein. Ihr Blick folgte seinem und ein Schluchzen verließ ihre Lippen. Das Grab war neu, ebenso der Grabstein. Ein Strauß Rosen lag darauf und wurde vom Wind langsam zerpflückt.
Und wie aus dem Nichts zerriss etwas Grausame die Stille. Sie schrie.
Laut, voller Verzweiflung und dennoch voller Kraft. Ein hoher, ohrenbetäubender Schrei, welcher sein Trommelfeld zum Schmerzen und die Luft zum Flimmern brachte. Unmenschlich... und dennoch von dem jungen Mädchen vor ihm ausgehend.
Calvin keuchte schmerzerfüllt auf und presste seine Handflächen auf seine Ohren, als ginge es um sein Leben. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Kopfhaut, Blut trat aus den feinen Löchern, die sich bildeten. Er wollte sie nicht hören oder sehen.
Sie war nicht real! Er wollte aufwachen! Einfach nur aufwachen!
Ein Traum war dies... Nur ein Traum... Er konnte sich nicht daran erinnern eingeschlafen zu sein.
Er spürte wie seine Augenlider schwerer wurden, wie sein Kopf anfing sich zu drehen. Und das letzte was er sah, war SIE, wie sie sich weinend eine Hand vor den Mund schlug.
"Calvin. Calvin, es tut mir Leid."
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