8.
Siehst du ihn denn nicht?
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Ivolan kroch erschrocken rückwärts auf das Bett. Clara hingegen stand ruhig da und lächelte dem Mann, der hineingestürmt war entgegen.
"Hallo, Papa!" Winkte sie fröhlich.
Papa war ein riesiger Mensch, mit trainiertem Körper und Dreitagebart. Er runzelte die Stirn, als seine Tochter nach der kleinen Teekanne griff und ihm etwas einschenkte.
"Willst du?"
"Glaubst du ich bin bescheuert?!", brüllte er. "Da ist nichts drin, hol dir doch wenigstens Wasser, wenn du so beschissene Spiele spielen musst!"
Er knallte das Tässchen auf den Boden, wo es auseinander brach. Unbeirrt begann Clara, die winzigen Scherben aufzuheben.
"Hör auf damit!", zischte Ivolan ihr zu. "Du tust dir noch weh!"
Clara richtete sich wieder auf, gerade noch rechtzeitig, um den Handrücken ihres Vaters kommen zu sehen. Mit einem Knall landete er in ihrem Gesicht. Und gleich nochmal.
Ivolan hatte schon oft gesehen, wie Leute verprügelt wurden, doch nie hatte er dabei in einem Kinderzimmer gesessen. Nie einen Vater gesehen, der seinen Frust an einem Kind ausließ.
Seinem Kind.
Clara wehrte sich nicht. Stumm ließ sie die Schläge auf sich einprasseln, wie ein Höllenfeuer. Entgeistert sah Ivolan zu und er wusste nicht, was er tun sollte.
"Stop!" , murmelte er immer wieder. "Hör auf!"
Das Blut schoss Clara in die Wangen, mit jedem Tritt wurden ihre leisen Schreie dumpfer, bis sie schlussendlich auf dem Boden kauerte und nur noch wimmerte.
Das Gewitter legte sich mit dem Knallen der Tür. "BIST DU FERTIG MIT DEM ESSEN?", brüllte die furchtbare Stimme dumpf, bis sie sich in dem Schleier aus Fassungslosigkeit, der vor Ivolan lag, verlor.
Clara rappelte sich auf, eine Träne auf der Wange, die sie sich hastig wegwischte. Er sah sie lange und stumm an, unsicher, was er sagen sollte. Schließlich erhob er doch die Stimme.
"Das ist furchtbar", murmelte er, aber Clara hörte ihm nicht zu. Sie hatte wieder angefangen, Tee einzuschenken und drückte ihm nun erneut eine Tasse in die Hand.
"Nicht schlimm, er macht das manchmal. Aber Papa ist oft müde, sagt Mama, deshalb ist es okay und ich soll nicht traurig sein. Eigentlich hat er mich lieb!"
Ivolan richtete sich auf. "Was sagst du da? Das soll okay sein?"
Clara nickte. Aus dem Flur ertönte ein Poltern, ein Schrei. Während Ivolan erschrocken zusammenzuckte, widmete das Mädchen sich dem Wiederaufbau ihrer Teeparty. "Das...das ist nicht okay, Clara."
Ein weiteres Poltern hallte durch die Wohnung. "Du solltest das nicht hören!"
"Warum nicht?", fragte sie und hob ihren Blick, das Gesicht noch immer gerötet. "Mama hat doch gesagt..."
Ivolan sah sich im Zimmer um und versuchte derweil das zerbrechende Glas in der Ferne auszublenden. Auf dem Kleiderschrank entdeckte er schließlich einen kleinen Kassettenrekorder, verziert mit glitzernden Strasssteinchen und Aufklebern.
Er stand auf und angelte das Gerät mühsam herunter, bevor er es untersuchte. Ein paar Kopfhörer steckte.
"Perfekt!" Ivolan erinnerte sich flüchtig an sein eigenes Kinderzimmer und die Technik, mit der er sich vor den ständigen Streitereien seiner Geschwister bewahrt hatte. Er legte die erstbeste Kassette in das Gerät ein, und setzte Clara die Kopfhörer auf.
Sie hielt inne.
"Mama lügt dich an...genauso wie sich selbst", flüsterte Ivolan, aber Clara konnte ihn durch die bunten Töne aus Kinderliedern nicht hören. Ein leichtes Lächeln formte sich auf ihren Lippen, bevor sie sich wieder dem Tischchen zuwandte.
Ivolan lauschte dem Krach aus der Küche, dem Gebrüll und den schmerzverzerrten Schreien.
Es war schon dunkel vor dem Fenster, als sie endlich verstummten und Clara sich auf dem Boden zusammengerollt hatte. Kurz überlegte Ivolan, sie in ihr Bett zu heben, allerdings hatte er keine Ahnung, wie man ein Kleinkind hielt. Außerdem wollte er sie nicht wecken.
Er stand auf und wagte einen Blick in den Flur. Die Wohnung wirkte wie ausgestorben, nichts von all dem Hass war übrig. Nur noch die einsame Stille. Im Wohnzimmer saß die Mutter in einem Sessel und weinte.
Es war nicht laut, mehr ein tonloses Wimmern, dass das Zimmer, erleuchtet von einer flackernden Leselampe, füllte. Es erinnerte ihn an den Tunnel des Bahnhofes Zoo. So einsam und verlassen von allem, das je ein Leben geformt hätte.
Leise summend setzte er sich auf den Sessel gegenüber. "Du musst echt was tun", murmelte er, auch wenn er sich darüber im Klaren war, dass sie ihn nicht hören konnte. Ivolan konnte nicht einschätzen, wie lange er dort saß, doch als er die Augen öffnete, war der Platz ihm gegenüber leer.
Hastig rappelte er sich auf und stürmte in das Kinderzimmer. Clara saß auf dem Boden und spielte desinteressiert mit einer Puppe. Als sie ihn erblickte, legte sie das Spielzeug beiseite und musterte ihn.
"Warum hast du die Farbe an deinen Armen?", fragte sie.
"Das habe ich doch gesagt, es ist mein Markenzeichen!"
Sie schüttelte den Kopf. "Das meine ich nicht!" Trotzig stand Clara auf. "Wieso brauchst du überhaupt so ein Markenzeichen? Ich hab keines..."
Ivolan zögerte. "Du brauchst doch keines, du bist schon so einzigartig."
"Darf ich deine Farbe anfassen?", fragte sie und griff nach seinem Arm, den er schnell zurückzog. Er seufzte.
"Nein, das kannst du nicht", sagte er entschieden.
"Warum nicht?" Clara schien wütend zu werden. "Ich will doch nur wissen, dass du nicht lügst!"
"Was soll ich denn gelogen haben?" Allmählich verlor er die Geduld. Wieso war er überhaupt hier? Wo war der Himmel, der ihm versprochen worden war?
"Das ist keine Farbe und du hast das einfach so!"
"Warum sollte ich denn darüber lügen?" Ihm fiel wieder ein, weshalb er den Kontakt zu kleinen Kindern mied. Sie stellten immer so verdammt viele Fragen. Und plötzlich wünschte er sich zurück in das Leben. Zurück dorthin, wo er schweigend auf seiner Matte liegen konnte, wo ihn absolut niemand störte, wo Skunk ihm alles besorgte, was er brauchte, um ein halbwegs anständiges Pennerleben zu führen.
Im Flur wurde es laut, die Stimme des Vaters ertönte wieder und Clara zuckte zusammen. Die Tür flog auf und dort stand die elende Figur des Leids. "Komm her, ab in den Kindergarten, dann kannst du alle nerven, wie du lustig bist."
Sie nickte. "Ok, Papa." Er schlug ihr auf den Hinterkopf und grummelte etwas von "Das schlimmste, das ihm je passiert sei".
Ivolans Hände ballten sich zu Fäusten.
Und er schlug zu. Er hatte erwartet, dass seine Schläge ins Leere treffen würden, aber sie trafen. Ivolan hatte noch nie jemanden geschlagen, doch nun sah der Vater sich entzürnt um. Er schlug nochmal zu, die Rage hatte ihn gepackt. Immer wieder donnerte er seine Faust in das zornige Gesicht seines Gegenüber, bis dessen Gesicht blutverschmiert war.
Ivolan sah auf seine Knöchel, die sich rot gefärbt hatten. Er nickte Clara zu, die mit weit aufgerissenen Augen das Schauspiel beobachtet hatte. "Hier!", sagte Ivolan und fuhr mit seinem Finger durch das Gesicht, des sich langsam aufrappelnden Vaters. "Da hast du neue Farbe für dein Markenzeichen."
Er zwinkerte, doch Clara sah schockierter aus, denn je. "Was war das?", stöhnte der Vater.
Sie schüttelte den kleinen Kopf, dass ihre Haare flogen. Und Ivolan schrie frustriert auf.
"Siehst du denn nicht, dass er das Selbe mit dir macht?"
Clara antwortete ihm nicht. Dafür begann das Zimmer sich zu drehen. Immer schneller, sodass ihr Gesicht sich in einem Gemisch aus Nebel und Farben verlor.
"Warte!", schrie er. "Geh nicht, es tut mir leid!"
Das Drehen hatte ein Ende und er stand in einem schwarzen Nichts.
"Hallo?" Erschrocken über den plötzlichen Szeneriewechsel stolperte er nach hinten. Doch wo immer er auch hinsah, es erwartete ihn nur Leere.
"Verdammt, wieso kann ich nicht einfach ruhen?"
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