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3. Kapitel: Shaun


Die Metallstufen ächzten unter meinen schnellen Schritten, als ich eilig zu den U-Bahn-Gleisen hinabrannte. Die markante Stimme hatte bereits das allgegenwärtige »Stand clear of the closing doors, please« verkündet, und als ich mich gerade noch rechtzeitig zwischen den sich schließenden Türen hindurchquetschen konnte, wurde ich von allen Seiten genervt angestarrt. Schwerfällig ließ ich mich auf den letzten freien Sitzplatz fallen, lehnte mich zurück und atmete lautstark aus. Die U-Bahn hier in New York war um beinahe jede Uhrzeit bis zum Bersten gefüllt, und dennoch fühlte man sich zwischen all den Fremden seltsam allein. Jede Seele war mit sich selbst beschäftigt. Man hing seinen Gedanken nach oder starrte auf das Handy, las Zeitung oder blickte durch die Fenster in die dunklen Tunnel der Stadt.

Es war kurz nach vier Uhr morgens, und dennoch waren die Bahnen wie gewohnt voll. Nicht umsonst nannte man New York die Stadt, die niemals schlief. Gleiches galt für ihre vielen Bewohner. Einige Leute waren noch in Arbeitsuniformen, schicken Anzügen mit Krawatten, die jedoch mittlerweile weit geöffnet an ihren Hälsen herunterhingen. Sie unterhielten sich freudig, und das gesamte Abteil konnte an ihren Gesprächen teilhaben. Auf ihren Hemden war der ein oder andere Fleck zu erkennen, vermutlich waren sie auf dem Weg nach Hause nach einer Büroparty. Andere, wie ich, hatten erst jetzt ihre Schicht beendet oder waren schon wieder auf dem Weg zur Arbeit. Genau genommen kam ich jedoch gerade aus einer anderen Ecke der Stadt.

Ich war erst vor wenigen Minuten aus dem luxuriösen Loft von meinem Fan – wie Harper sie so schön betitelt hatte – abgehauen, ehe sie es bemerken konnte. Ich machte mich danach grundsätzlich aus dem Staub. Obwohl ich gerade eben noch bis zum Anschlag in ihr vergraben gewesen war, waren die Anspannung und der Stress meiner Schicht im Dreams immer noch deutlich in mir zu spüren. Und doch schaffte ich es kaum, nach ein paar Minuten Fahrt noch länger die Augen offen zu halten. Das sanfte Wiegen des Zuges fühlte sich zu angenehm an. Den Schlaf konnte ich dringend gebrauchen, vor allem, ehe ich in wenigen Stunden meine Schicht im Fitnessclub antreten musste, in dem ich zusätzlich arbeitete. Schon seit ein paar Tagen fühlte ich mich verdammt ausgelaugt, aber ich brauchte das Geld. Nicht nur für mich, sondern auch für Caleb.

Ich schloss mich den Heimkehrern um mich herum an, öffnete den obersten Knopf meines weißen Hemdes und lockerte den Kragen etwas. Die schwarze Fliege war längst verschwunden. Für mich gab es nichts Schlimmeres, als diesen schicken Fummel zu tragen. Ich hasste es, mich so eingeengt zu fühlen, und konnte es kaum erwarten, wieder in eine bequeme Jogginghose und ein weites Shirt zu schlüpfen. Es war ein notwendiges Übel für den Job im Dreams und somit für meinen Plan.

Wenn es nach mir ginge, hätte ich mir lieber einen zweiten Job in meiner Nachbarschaft gesucht. Tag für Tag mit Menschen Kontakt zu haben, die gar nicht wussten, wohin mit all ihrem Geld, während ich und mein Bruder ums Überleben kämpfen mussten ... Ab und an überwältigte mich das. Unpraktischerweise setzten Harper und ihre Clique niemals einen Fuß außerhalb Manhattans. Ich hatte nur ein paar Wochen gebraucht, um ihre Routine zu verinnerlichen. Zu wissen, wohin es sie verschlug, wenn ihre privilegierten Leben sie zu ersticken drohten. Die Bewerbung im Dreams war dann nur noch eine reine Formalität gewesen.

Ich wusste, dass mir all das Dad nicht zurückbringen würde. Eines war jedoch klar: Für mich bestand damit wenigstens die Chance darauf, mit diesem Schicksalsschlag abzuschließen.

Abwesend blickte ich nach draußen in die Leere der U-Bahn-Tunnel, während ob der Geschwindigkeit des Zuges kaum erkennbar die Signallichter vorbeirauschten. Dieses Spielchen durchlief ich auf jeder Fahrt mehrere Male. Das Schienennetz der New Yorker Metro war zwar bestens ausgebaut, erstreckte sich gleichermaßen aber über riesige Distanzen. Zumindest wenn man so wie ich nicht im unmittelbaren Stadtzentrum wohnte. Üblicherweise brauchte ich vom Dreams bis zur Haltestelle Burke Avenue etwa fünfundvierzig Minuten. Oft, wenn die betagte Technik der Bahnen und Stellwerke streikte, die teilweise noch aus den Zwanzigerjahren stammte, sogar eine Stunde. Von der Haltestelle aus führte mich ein kurzer Fußmarsch durch mit kleinen Backsteinhäusern besiedelte Wohngebiete zu unserem Haus unweit der Gunhill Road. Diese Gegend war auch heute noch berüchtigt in der Bronx, doch für mehr reichte das Geld nicht. Würde es womöglich nie, auch wenn ich mir den Arsch dafür aufriss.

Als die U-Bahn aus dem Tunnel zurück in die frühe Morgendämmerung hervorschoss, wurde es schlagartig ruhiger um mich herum. Immer weniger Menschen fuhren den weiten Weg nach hier draußen, auch auf den Straßen war im Vergleich zu Manhattan noch nichts los. Eine einst schöne Gegend, doch selbst ich konnte meine Augen nicht weiter vor der andauernden Veränderung verschließen: alte Wohngebäude, denen Türen und Fenster fehlten, Straßen und Gassen, durch die man sich dank verlassener Autos, riesiger Schrotthaufen oder gebrauchter Nadeln auf den Böden nur vorsichtig bewegen konnte.

Selbst die für New York typischen weißen Kacheln an den U-Bahnhöfen waren mit einer Mischung aus Graffiti und Ruß bedeckt und fielen bereits von den Wänden. So schlimm hatte es in den Achtzigerjahren wohl auch im restlichen New York ausgesehen. Mittlerweile hatte die Stadt viel Geld in Säuberungen und Sicherungen der schlimmsten Hotspots gesteckt, doch das Geld schien ihnen ausgegangen zu sein, ehe ihre Aufräumtrupps hier in der Bronx angekommen waren. Es roch an jeder Ecke streng nach Urin und Marihuana, was eine widerliche Kombination darstellte. Obdachlose bevölkerten alle freien Nischen. Die, die nicht schliefen, schrien wie wild umher. Es war immer wieder wie ein heftiger Schlag ins Gesicht.

Die Nachbarschaft, in der ich mit meinem Bruder lebte, konnte weder als schön noch als sicher bezeichnet werden. Dennoch war es unser Zuhause – irgendwie. Das heruntergekommene Haus war das Einzige, was uns von unseren Eltern noch geblieben war. Zumindest hatten wir so ein einigermaßen trockenes Dach über dem Kopf, und die spärlich beleuchtete Seitenstraße, in der wir wohnten, fühlte sich vertraut an. Unser Haus gehörte zu den wenigen in der Straße, deren Außenfassade und Fenster noch intakt waren. Der nächste Nachbar wohnte drei Häuser weiter. Der Exodus der Menschen hatte schon vor vielen Jahren seinen Höhepunkt erreicht, mittlerweile waren nicht mehr viele übrig. Die Jungen verließen den Ort oder fielen den Banden zum Opfer, und die Alten starben langsam mit einer schauerlichen Sicherheit aus.

Als ich meinen Schlüsselbund hervorkramte, hörte ich ein Bellen in der Nähe. Die meisten dieser herrenlosen Viecher konnten einem echt leidtun. Caleb hatte schon unzählige Male versucht, mich zu überreden, einen dieser Hunde zu adoptieren. Nur wie sollten wir noch ein drittes Maul stopfen? Ich würde ihm und dem Tier gern eine Freude machen, doch ich konnte nicht.

Sobald ich im Flur stand, die Tür hinter mir zugeschoben, das schwach flackernde Licht eingeschaltet und die schwarzen Lackschuhe ausgezogen hatte, ging ich in die Küche. Wenn ich so spät nach Hause kam, machte ich mir üblicherweise noch eine Kleinigkeit in der Mikrowelle warm, doch als ich das Chaos entdeckte, das sich über die wenigen Quadratmeter der Küchenzeile ausbreitete, seufzte ich frustriert. Ich hatte Caleb schon oft gesagt, dass er nach dem Abendessen aufräumen musste. Ich hatte weder die Zeit noch die Nerven, um das auch noch zu übernehmen.

Ich öffnete den Kühlschrank und erblickte einige letzte Cheestrings, etwas Milch und die Überreste von Calebs TV-Dinner. Plötzlich bemerkte ich ein Geräusch aus dem Wohnzimmer. Ich lauschte. Lief dort etwa noch der Fernseher? Bis gerade eben war mir das nicht einmal aufgefallen, doch jetzt vernahm ich deutlich das blecherne Geplärre des alten Geräts. Unverrichteter Dinge schloss ich den Kühlschrank wieder, ging den schmalen Flur entlang und trat ins Wohnzimmer, das tatsächlich vom Fernseher in bläuliches Licht getaucht wurde. Irgendein Cartoon flimmerte auch noch um diese Uhrzeit über den Bildschirm, doch der Ton war so leise gestellt, dass ich nichts von dem Gesagten verstehen konnte. Auf dem grauen Sofa saß mein Bruder, die Beine an seine Brust gezogen und den Kopf auf den Knien aufgelegt. Er trug seinen Lieblingsschlafanzug mit den Power Rangers darauf, deren Farben durch das zu häufige Waschen bald nicht länger erkennbar sein würden. Dad hatte ihm diesen geschenkt, kurz bevor wir ihn verloren hatten. Caleb sah unserem Vater so unfassbar ähnlich. Wenn ich ihn ansah, sah ich Dad vor mir.

Als ich meinen kleinen Bruder dort so sitzen sah, verflog der Ärger auf ihn wegen der unaufgeräumten Küche schlagartig. Für sein junges Alter von zehn Jahren sah er viel zu ernst aus, obwohl sich die beiden Zeichentrick-Dinos gerade gegenseitig Baseballschläger über die Köpfe zogen und er hätte lachen müssen. Es fiel mir schwer, ihn so bedrückt zu sehen, doch bei all dem, was allein im letzten Jahr passiert war, war das nicht verwunderlich. Während ich mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte und meinen kleinen Bruder beobachtete, wusste ich ganz genau, wofür ich mich so abrackerte. Um ihm irgendwann etwas Besseres zu bieten, als ich es je hatte.

»Hey, Kleiner«, begrüßte ich ihn schließlich, löste mich dabei aus dem Türrahmen und ließ mich wenig später schwungvoll neben ihm nieder. »Wieso bist du um diese Uhrzeit noch wach?«

»Hör auf, das immer zu sagen! Du weißt, dass ich es hasse, wenn du mich so nennst«, beschwerte sich Caleb über seinen Kosenamen. Er sah mich dabei nicht einmal an, sondern blickte weiterhin auf den Fernseher.

Ich lächelte sanft, beugte mich zu meinem Bruder rüber und wuschelte ihm durch das kurze dunkelbraune Haar. Sofort kam Leben in ihn, und er verteidigte sich, doch ich war schneller, ließ meine Hand zu seinem Bauch wandern und fing an, ihn ohne Vorwarnung zu kitzeln. Caleb schüttelte sich vor Lachen.

»Shaun! Hör auf!«, quietschte er zwischen zwei Lachanfällen, doch daran war nicht zu denken. Mein Grinsen wurde immer breiter, als ich Caleb dabei beobachtete, wie er sich mit aller Kraft aus meinem festen Griff lösen wollte.

»Was haben wir wegen der Küche gesagt?«

»Dass ich aufräumen soll, wenn ich fertig bin.«

»Genau, du weißt es doch. Wieso sieht es dann so aus, als ob dort eine Bombe eingeschlagen wäre?«

»Tut mir leid! Ich räume nächstes Mal auf! Lass ... das ...« Er schüttelte sich immer heftiger vor Lachen, bis ich der Ansicht war, dass er genug Strafe bekommen hatte.

»Okay. Ich meine das ernst, Caleb. Mach es beim nächsten Mal.«

Caleb nickte, ehe er zurück auf den Bildschirm sah. Der Schalk war bereits jetzt schon wieder restlos aus seinem Gesicht verschwunden, und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich es nicht schaffte, ihn besser aufzuheitern.

»Kumpel, was ist los?«, fragte ich behutsam und sah ihn auch weiterhin von der Seite her an. »Wieso bist du noch wach?« Ihn das zum zweiten Mal zu fragen, hinterließ einen fahlen Beigeschmack auf meiner Zunge. Die Antwort darauf kannte ich längst.

»Ich kann nicht schlafen«, gestand Caleb kleinlaut.

Ich wusste, dass er nicht gern darüber sprach, und wollte ihm die Sicherheit geben, immer für ihn da zu sein. Auch wenn ich arbeitete. Bisher hatte er mich nie auf der Arbeit angerufen, obwohl ich ihm mehrfach gesagt hatte, dass es in Ordnung war, wenn er mich brauchte. Ich war das letzte Familienmitglied, das er noch hatte.

»Wieso nicht?«, wollte ich sanft von ihm wissen, als er nicht weitersprach. »Ist es wegen Dad?«

Es dauerte einige Augenblicke, bevor Caleb reagierte. Er sagte kein Wort, sondern nickte lediglich.

»Komm mal her, Caleb.« Mit einem dicken Kloß im Hals und einer Stimme, die kein Stück nach mir klang, zog ich ihn in meine Arme.

»Ich vermisse ihn, Shaun«, murmelte er gedämpft an meiner Brust, und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, spürte ich, dass er weinte.

»Ich vermisse ihn auch, Kumpel. Ich vermisse ihn auch.« Calebs Tränen durchnässten mein Hemd, während ich ihn im Arm hielt, ihm vorsichtig durch das Haar strich.

Neben uns auf einer alten Kommode standen verstaubte Familienbilder. An Tagen wie heute ertrug ich es kaum, sie nur anzusehen. Ich hatte es nicht über mich gebracht, sie wegzuräumen. Die letzten Tage, an denen wir alle lächelten und das Leben noch so viel leichter gewesen war.

Caleb war irgendwann völlig übermüdet einfach in meinen Armen eingeschlafen. Als er sich einige Minuten lang nicht mehr rührte, schaltete ich den Fernseher aus und trug ihn behutsam die knarzende Treppe nach oben in sein Zimmer. So leise ich nur konnte, legte ich ihn in sein Bett, zog ihm seine Power Rangers-Decke über und schlich auf Zehenspitzen zurück zur Tür. Caleb murmelte etwas im Schlaf, doch ich konnte es nicht mehr verstehen. Bis ich an den Schalter seiner Nachttischlampe fasste, um das Licht endgültig zu löschen.

»Kannst du es anlassen?«, flüsterte Caleb mit geschlossenen Augen.

Ich ließ meine Hand wieder sinken, schlich mich langsam aus seinem Zimmer, lehnte die Tür leise an und ging dann den Flur hinunter in mein eigenes Zimmer. Ich hätte mich direkt ins Bett legen können, doch ein Geruchstest unter meinen Achseln sagte mir, dass eine kurze Dusche keine schlechte Idee war. Zusätzlich das Parfüm einer fremden Frau an mir zu haben, gab mir das ungute Gefühl, ständig von ihr verfolgt zu werden. Auch sie wollte ich schnellstmöglich wegspülen.

Die Morgensonne zog bereits lange Schatten durch die Jalousien am Fenster, als ich mich nur in Boxershorts gekleidet auf meiner harten Matratze auf die Seite drehte und die Decke bis über die Schultern zog, um endlich ein bisschen Ruhe zu finden.

»Wann kommt Dad zurück?«, hatte Caleb mich gefragt, als es mir schon längst fürchterlich gewiss war, dass wir ihn nie wiedersehen würden. Das ohrenbetäubende Klingeln des Telefons. Die monotone Stimme des Justizvollzugsbeamten, der mir mit einer Leichtigkeit den Boden unter den Füßen wegriss, als hätte er über das Wetter geredet. Ob ich jemals in der Lage sein würde, das zu verdrängen?

Sobald ich die Augen schloss, sah ich ihn vor mir. Wie er mich väterlich anlächelte. Dabei gab es aus heutiger Sicht überhaupt keinen Grund mehr dazu. Keinen Grund, stolz auf mich zu sein. Ich war kein guter Mensch. Gute Menschen wären nicht zu so etwas fähig gewesen. Und diese Schuld würde ich niemals mehr loswerden. Manchmal, in meinen Träumen, jagte mich das leblose Gesicht dieses Mannes, gönnte mir keinen Neuanfang.

Ich sah Caleb, wie er tränenüberströmt seine dünnen Arme um mich geschlungen hatte. So lange, bis ich glaubte, meine Beine würden uns nicht länger an Ort und Stelle halten können. Das waren ebenjene Momente, in denen ich mich zusammenreißen musste, um meine Wut nicht herauszuschreien. Darauf, dass er uns verlassen hatte. Darauf, dass Dad sich geopfert hatte. Doch am allermeisten brodelte in mir der Hass auf mich selbst. Weil ich es zugelassen hatte.

Ich schaltete den Wecker aus und schlüpfte benommen in eine achtlos dahingeworfene schwarze Jogginghose und ein weißes Shirt. Auf meinem Weg nach unten spähte ich durch den offenen Spalt in Calebs Zimmer, doch er schlief noch tief und fest – gut so. Der Geruch von morgendlichem Kaffee und angebranntem Toast waberte in der Luft, nachdem ich mir ein kleines Frühstück zubereitet hatte.

Ich schrieb Caleb eine Notiz und heftete diese an den Kühlschrank. Er hatte Schulferien und würde vermutlich sowieso den ganzen Tag mit seinem besten Freund Taylor vor dem Fernseher abhängen, aber das war für mich in Ordnung, denn Fernsehen bedeutete Ablenkung. Und Ablenkung bedeutete, dass Caleb wenigstens für ein paar Momente nicht gezwungen war, an Dad zu denken.

Den Kaffee kippte ich eilig hinunter und konnte mir dabei einen leisen Fluch nicht verkneifen, als ich mir fast die Zunge daran verbrannte. Danach schlüpfte ich in meine weißen Sneaker, schulterte meine Sporttasche und übte beim Rausgehen das nichtssagende Lächeln, das in die amerikanische Servicekultur gemeißelt war wie in Stein.

Auf meinem Weg zum Fitnessclub, in dem ich tagsüber arbeitete, sah ich unsere Nachbarschaft langsam zum Leben erwachen. Die wenigen verbliebenen Menschen pflegten in ihren Vorgärten ein spärliches Sortiment an Pflanzen, während wenige Meter weiter auf dem Gehsteig das Unkraut aus allen Ritzen schoss. Viele versammelten sich gern an und in den kleinen Bodegas, Geschäften, die nicht größer waren als unser Wohnzimmer, vollgestopft mit Hunderten Artikeln, stolz geführt von Besitzern, die ihr ganzes Leben hinter dieser einen Theke verbracht hatten. Hier hatten die großen Ketten noch keinen Massenexodus ausgelöst. Gentrifizierung war zum Glück noch ein Fremdwort. Ansonsten hätten wir uns die Mieten sowieso nicht mehr leisten können.

Einige wenige Querstraßen weiter, direkt gegenüber der U-Bahn-Haltestelle, an der ich gestern Nacht ausgestiegen war, erblickte ich das überschaubare Fitnessstudio in einem alten roten Backsteinhaus. Durch die Tür sah ich meinen besten Freund Samuel mit einem Proteinshake in der Hand am Tresen lungern. Samuel war regelmäßig hier, einer der Ersten, wenn ich meine Schicht begann. Früher hatte er selbst als Coach hier gearbeitet, doch zwischenzeitlich war er dank einer glücklichen Fügung in die Chefetage befördert worden.

»Shaun, Alter!«, rief Samuel, als ich das Studio betrat, ließ sein Getränk am Tresen zurück, verpasste mir einen kräftigen Handschlag und zog mich dann in eine brüderliche Umarmung. Samuel war wie Familie für mich. Wir kannten uns aus sorgenfreieren Tagen, als wir jeden Sommer die Eisdielen der Gegend unsicher gemacht hatten.

»Sam. Was machst du schon wieder hier, Bro?«

»Kontrollieren, ob du auch arbeitest«, antwortete Samuel schulterzuckend.

Ich erwiderte sein breites Grinsen, doch ging es mittlerweile von authentisch ebenfalls zu gespielt aufgesetzt über. Samuel war zwar mein bester Freund, aber seit einer Weile nun auch mein Vorgesetzter – sozusagen. Obwohl er mit seinen fünfundzwanzig zwei Jahre jünger war als ich, spielte er sich wie der verdammte Pimp des Viertels auf. Ich fürchtete mich nicht vor ihm, das wäre lachhaft, aber wenn Samuel hier war, flößte mir seine Gegenwart neuerdings ungewohnt viel Respekt ein.

»Ach, fick dich!«, warf ich ihm lachend an den Kopf, auch wenn das nicht ganz echt war.

Ich ließ meinen Blick durch das kleine lichtdurchflutete Studio wandern, in dem die ersten Frühaufsteher ihr Programm vor der Arbeit erledigten. Meine neue Kollegin, zu Samuels Ersatz geworden, als er in die Hallen des Managements aufgestiegen war, half gerade einem schmächtigen jungen Typ an den Gewichten und betete wohl inständig, dass sie die zentnerschweren Hantelstangen nicht gleich wieder auffangen musste. Während sie die kleinsten Scheiben auf die Stange schob, war er viel mehr mit ihrem Hintern beschäftigt. Doch zugegeben: Das Mädchen durfte man nicht anbrennen lassen. Leider hatte sich bisher noch keine Gelegenheit für uns beide ergeben.

»Hallo, Shaun«, sagte da auf einmal eine weibliche Stimme und lenkte meine volle Aufmerksamkeit auf sich. »Du trainierst hier?«

»Jordan?«, fragte ich erstaunt und erkannte sie unmittelbar als meine Grundschulfreundin wieder, die seit einiger Zeit hierherkam und mich verstohlen anstarrte. Immer dann, wenn sie dachte, dass ich es nicht bemerkte. Was wir Männer konnten, konnten die Frauen tausendmal schlechter. Ich hatte es bisher tunlichst vermieden, mich in ein Gespräch mit ihr verwickeln zu lassen.

Ihre Augen leuchteten wie ein Weihnachtsbaum, als ich mich an ihren Namen erinnerte. Ein bisschen armselig.

»Ich wollte schon die ganze Zeit mal mit dir reden, aber du schienst immer so beschäftigt hier.«

Wenn sie nur wüsste ... Jordan war eine normale Besucherin. Sie gehörte nicht zu den Kunden, die Samuel anschleppte. Mein bester Freund musterte uns amüsiert.

»Momentan ist viel los«, kommentierte ich diesen plumpen Versuch eines Flirts in der Hoffnung, dass sie bloß abhauen würde.

»Hast du vielleicht mal Lust, die alten Zeiten aufleben zu lassen und mit mir nach der Arbeit etwas trinken zu gehen?«, fragte Jordan und ließ leider noch nicht locker. Ihre Wangen glühten, und es war nicht schwer erkennbar, dass sie mir diese Frage schon eine ganze Weile hatte stellen wollen, sich aber nicht getraut hatte.

»Jordan.« Seufzend überlegte ich, wie ich ihr begreiflich machen konnte, dass sie Abstand von mir halten sollte. Es war nicht das erste Mal, dass sie meine Aufmerksamkeit suchte. Ich mochte Jordan. Sie verdiente etwas Besseres. »Ich bin nicht der Typ für so was, okay?«

»Wie kann man denn kein Typ für ein Glas Wein sein? Wir können auch ...«

Zugegeben: Ihr Gestammel war schon irgendwie süß, doch Samuel fiel ihr ungeniert ins Wort, ehe ich es verhindern konnte. »Was Shaun damit sagen will, ist, dass er kein Typ für Beziehungen ist. Er hält es nie länger als eine Nacht mit einer Frau aus, alles klar? Nicht wahr, Alter?« Dabei grinste er Jordan zweideutig an und stieß mir den Ellenbogen in die Rippen.

Meine Miene blieb unverändert, als ich mit ansah, wie das Lächeln schlagartig aus Jordans Gesicht verschwand. Am liebsten hätte ich Samuel für diese Nummer eine verpasst, aber ich hielt mich zurück.

»Oh, okay.« Verlegen wandte sich Jordan von uns ab. »Man sieht sich, Shaun«, fügte sie noch hinzu, ehe sie sich mit hochrotem Kopf aus dem Staub machte.

»Fuck, Sam, das wäre nicht nötig gewesen«, murrte ich in Richtung meines Freundes, der ihr nachsah.

»Knackig ist die Kleine, das muss man ihr lassen. Scheint wegen dir ganz schön viel Zeit in unserem Club verbracht zu haben.«

»Sam!«

»Ich weiß, Alter. Wollte nur sichergehen, dass du deinen Schwanz dalässt, wo er hingehört, kapiert? Jordan ist tabu. Sie ist ein braves Mädchen.« Sams ernste Miene kehrte zurück. »Heute Abend bedienst du keine von diesen reichen Bitches. Du kommst zur Party.«

Ein Befehl, keine Bitte.

»Das war der Plan«, kommentierte ich trocken und erwiderte seinen intensiven Blick.

»Gut. Der Boss wird auch kommen. Besorg dir dort lieber was Anständiges und scheiß auf Jordan. Das ist es, was du brauchst.«

»Ich werde da sein«, grummelte ich. Ich hasste es, wenn Samuel sich so aufführte.

Nicht wegen Jordan. Es war gut, dass er sich auch um die weiblichen Mitglieder unseres Viertels sorgte, auch wenn das ein eigenartiges Verständnis von Moral war. Nein, ich wollte schlichtweg nicht in Sams Nähe sein oder dort gesehen werden. Denn ich wusste genau, wie diese Party ablaufen würde. 

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